Jean-Frédéric Schnyder
„Apocalypso“
Es ist vermutlich die grösste und sicherlich die rätselhafteste bemalte Leinwand dieser Biennale. Ihre Ausmasse betragen 2,75 Meter in der Höhe und 12 Meter in der Breite. Der Künstler fertigte sie in drei Teilen, die heute zusammengenäht sind.
Bereits der Titel der Arbeit verwirrt: „Apocalypso“ ist nicht das italienische Wort (apocalisse) für Apokalypse; vielmehr scheint es sich um ein Kunstwort aus Apokalypse und Calypso zu handeln, jener afro-karibischen Musik also, die uns, verkörpert durch Harry Belafonte, in unserer Jugendzeit begeisterte. Natürlich werden wir in dem monumentalen Werk auch irgendwo der Meernymphe Kalypso aus der griechischen Mythologie begegnen. Und dessen Reichtum an Bildern und Erzählungen wird sicher nicht demjenigem in der Apokalypse des Johannes nachstehen, dem letzten, als „Offenbarung des Johannes“ bekannten Buch des Neuen Testaments.
„Apocalypso“, entstanden in den Jahren 1976 bis 1978, wird als das frühe Hauptwerk des schweizerischen Künstlers Jean-Frédéric Schnyder verstanden; vielleicht ist es dessen Opus magnum schlechthin.
Jean-Frédéric Schnyder, im Mai 1945 in Basel geboren, wächst in Bern auf. Er absolviert von 1962 bis 1965 in Olten eine Fotografenlehre. Ein Jahr später wird der bekennende Autodidakt mit seinen ersten künstlerischen Arbeiten bekannt. Sie stehen der Pop Art und der Concept Art nahe. Harald Szeemann entdeckt ihn und lädt ihn zur Teilnahme an einer Ausstellung in der Kunsthalle Bern ein. Der Aufstieg in die Reihe der grossen europäischen Künstler beginnt. 1972 bringt Szeemann Schnyders Arbeiten auf die documenta 5. Auch 1982, zur documenta 7, ist Schnyder wieder auf der Kasseler Weltkunstschau vertreten. Und 1993 gestaltet er zur Biennale Venedig den Pavillon der Schweiz.
Schnyder kreiert Plastiken aus Ton, Metall und Holz, entwickelt aus den verschiedensten Materialien Objekte, es dürfen durchaus auch Lego-Bausteinchen oder Kaugummi sein. Seit den 1980er Jahren durchquert er die schweizerischen Lande, auf dem Fahrrad, Malkasten und Staffelei auf dem Rücken, oder per Jahresbillet der Eisenbahn. Ein grosser Landschaftszyklus wird, im Januar/Februar 1993, im Frankfurter Portikus ausgestellt. Doch Schnyder, Maler, Grafiker, Objekt- und Installationskünstler, wandernd und mäandernd zwischen Realismus, Symbolismus und Abstraktion, verweigert sich jeder Zuordnung zu einer künstlerischen Stilrichtung. „Disparität und Diskontinuität seines Werkes“ sind ihm „zur Lebensnotwendigkeit geworden“ (Portikus). Und manche sagen ihm nach, er persifliere den herkömmlichen Kunstbetrieb.
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