Auch er galt vielen als „heisser Tip“ für den Goldenen Löwen der diesjährigen Biennale in Venedig: der Französische Pavillon mit Christian Boltanskis überwältigender Installation „Chance“.
Chancen, Glück und Unglück – sie gehören zu den Themen, mit denen sich der Künstler in letzter Zeit verstärkt beschäftigt hat. Was wird aus einem Kind, einem Neugeborenen? Welche Rolle spielen Glück, Pech und Zufall für seine weitere Entwicklung? Welche Rolle spielt dabei die stete Zunahme der Weltbevölkerung?
In den Seitenflügeln links und rechts im Pavillon laufen – als „Last news from humans“ – symbolisch überdimensionierte digitale Uhren, die die Geburten und Sterbefälle weltweit täglich markieren. Wir haben den jeweiligen Stand zur späten Mittagszeit festgehalten, zum Tagesende wird er sich jeweils in etwa knapp verdoppelt haben. Das Ergebnis ist plausibel: In der Subtraktion von Geburten und Sterbefällen beträgt der Geburtenzuwachs weltweit (nach der Statistik der Stiftung Weltbevölkerung) täglich rund 230.000 Menschen. Die beiden Uhren stellen sich jeden Tag auf Null zurück.
In der zentralen Halle des Pavillons – „The wheel of fortune“ – ist bis unter die Decke ein riesiges Gerüst aus Stahl montiert. Durch das Gestänge läuft mit einigem Lärm in rasender Geschwindigkeit, einem grossdimensionierten Filmband gleich, eine Rolle mit Fotografien von Gesichtern Neugeborener. Ab und an stoppt die Rolle, eines unter den vielen Babygesichtern erscheint auf einem Monitor. Der Zufall entscheidet über die Auswahl – und damit auch über die Chancen eines kleinen Kindes.
Im rückwärtigen Gebäudeteil – „Be new“ – laufen, wiederum mit hoher Geschwindigkeit, aus drei Streifen zusammengesetzte Gesichter über eine Projektionsfläche, gebildet aus entsprechend auseinandergeschnittenen Fotografien von 60 polnischen Neugeborenen und 52 verstorbenen Schweizern. In den möglichen Kombinationen sollen sich rund eineinhalb Millionen verschiedene Kopf-Darstellungen ergeben. Die Zuschauer können per Knopfdruck, einem Flipperautomaten ähnlich, die Projektionsfolge anhalten. Sollte dabei zufällig das Gesicht aus den drei Abschnitten ein und derselben Person erscheinen, soll Musik erklingen, und der entsprechende Besucher erhält dieses Werk.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, können dieses „Spiel“ auch zu Hause betreiben (wenn auch nur einmal täglich, und dann auch für jeweils nur eine Minute): klicken Sie Christian Boltanskis „Chance“ hier an und spielen Sie!
Wie wird Ihnen dabei zumute sein? Werden Sie sich in der Rolle eines „Schöpfers“ fühlen? Werden Sie sich bewusst, in Ihrer eigenen Person ein „Puzzle“ aus vorangegangenen Generationen zu sein?
Christian Boltanski wurde 1944 in Paris geboren. Insbesondere mit seinen Objekten und Installationen, von denen sich viele in den wichtigsten Kunstsammlungen befinden, erlangte er Weltruhm. Er war auf der Kasseler Documenta 5, 6 und 8 sowie auf der Biennale 1986 in Venedig vertreten. Boltanski erhielt 1994 den begehrten Kunstpreis Aachen und, im Jahr 2006, den Praemium Imperiale (den „Nobel-Preis“ der Künste). Christian Boltanski lebt und arbeitet in einem Pariser Vorort.
→ Biennale Arte Venedig 2011 (9): “Gloria” von Allora & Calzadilla