Yan Lei: 377 Gemälde
Wohin mit all den Gemälden, die in den zurückliegenden Jahrhunderten gemalt wurden und die fortlaufend Tag für Tag gemalt werden? Die Ausstellungssäle und Depots der – wir wissen nicht wievielen – Museen und Galerien in aller Welt sind randvoll. Vielleicht 70 bis 80 Prozent oder mehr noch der Gemälde lagern, von wenigen Schaudepots abgesehen für das Publikum unzugänglich, in diesen Depots. Tagtäglich mögen weltweit Hunderte, vielleicht Tausende an ernst gemeinten und auch durchaus ernst zu nehmenden Gemälden dazukommen. Käufer kaufen sie nicht, Museen nehmen sie nicht, Künstlerinnen und Künstler behalten sie vermutlich, stapeln sie hintereinander, übereinander.
Der chinesische Künstler Yan Lei packt in seinem Werk „Limited Art Project“ das grosse Kabinett 3 der Documenta-Halle mit sage und schreibe 377 (oder nur 360?) Gemälden voll, sämlich Öl oder Acryl auf Leinwand. Was nicht mehr an den Wänden angebracht werden kann, hängt von der Decke herab, rückseitig sind dann Keilrahmen und Leinwand sichtbar, oder es ist in Rollregalen untergebracht, das Publikum kann die Schübe nach Belieben aus- und wieder einfahren.
Eine Persiflage auf die eingangs beschriebene Situation, auf eine „Überproduktion“ an Malerei, auf überbordende, auf engem Raum zusammengepferchte Sammlungen?
Es verhält sich so: Yan Lei „surfte“ immer wieder im Internet, in der nicht endenden und von niemandem mehr überschaubaren oder gar nachzählbaren Flut von Abbildungen. Ganz spontan, Lust und Laune folgend, hielt er bei einem bestimmten Bild an und malte es an einem Tag auf Leinwand. Jeden Tag ein Bild, 360 Stück, entsprechend den 360 Tagen des chinesischen Kalenders. Die Differenz zum Titel „377 Gemälde“ wissen wir nicht zu erklären, sie mag jedoch der künstlerischen Absicht entsprechen. An Ort und Stelle nachzählen wollten wir, versteht sich, nicht.
Jeden Tag ein Gemälde: Es ist ein Innehalten, ein vorübergehendes Verweilen im Strom der Massenmedien. Und es ist eine Art von Tagebuch in Gestalt von kalendarisch gefertigten Gemälden, das der Künstler nun zur documenta nach Kassel gebracht hat.
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