Fünf Stücke aus dem Musikalienschatz Sara Levys in Bad Soden mit dem Ensemble Salon Violet
Ein Geiger und ein Bratscher haben bei dem Kannibalen, der sie gefasst hat, jeweils noch einen Wunsch frei: Der Bratscher: Ich möchte noch einmal meine geliebte Bratsche umarmen. Darauf der Geiger: Und ich möchte als Erster sterben…
Der Zauber der Bratsche
Von Christian Weise
„In Sara Levys Salon“ war das Konzert betitelt, das am vergangenen Sonntagabend in Bad Soden im Evangelischen Gemeindehaus stattfand. Francesca Venturi Ferriolo stellte mit ihrem Ensemble Salon Violet fünf Stücke aus dem Musikalienschatz Sara Levys vor. Kurz zuvor hatte die italienische Bratschistin in Baden-Baden beim SW-Kultur die fünf Stücke in einem wunderbaren Aufnahmesaal auf CD aufgenommen.
Die Bratschistin Francesca Venturi Ferriolo, Foto: Christian Weise
Wer war Sara Levy und wie kam es zu diesem Konzert?
Wer sich mit Theologen wie Schleiermacher oder Philosophen wie Moses Mendelssohn beschäftigt hat, mag bereits auf den Namen Levys gestoßen sein: Sara Levy betrieb in Berlin das, was man heute rückwirkend Salon nennt, damals aber noch unter anderem „Teestunde“ oder „Jour fixe“ hieß: man hatte vor nicht allzu langer Zeit französische Flüchtlinge, die Hugenotten, aufgenommen und mit ihnen „Aufklärung“ geschnuppert.
Geboren 1761 als zehntes Kind in einem vermögenden Berliner Bankhaus, verbrachte Sara ihre Jugendjahre in dem vom Vater errichteten Palais Itzig. Hier genoss sie eine vorzügliche Ausbildung. Einer ihrer Lehrer war der Aufklärer Mendelssohn, ein anderer der älteste Bach-Sohn Wilhelm Friedeman Bach. 1783 heiratete Sara den ebenfalls reichen jüdischen Bankier Salomon Levy und führte alsbald einen Salon. Hier trat sie als Pianistin auf, hier begegnete sie allen Berliner Geistesgrößen und begann Musikhandschriften zu sammeln.
Vor allem lag ihr das Werk ihres Lehrers Wilhelm Friedeman Bach am Herzen, dessen Notenpublikationen sie subskribierte. Eine ungewöhnliche Frau. Ihre Gaben oder Begabungen gab die kinderlose Sara unter anderem an die Kinder ihrer Geschwister weiter. Sara Levy war eine Mäzenatin. Nach Beendigung ihres Musizierens mit rund 70 Jahren übergab sie ihre Sammlung der Berliner Sing-Akademie.
Sara Levy, gezeichnet von Anton Graff
Die Salons der sich entwickelnden Großstadt Berlin öffneten ihren Teilnehmern die Welt: Menschen unterschiedlichen gesellschaftlichen Stands, verschiedener Künste und Berufe trafen aufeinander, lebten von Impulsen, die sie einander weitergaben. Diese offene Gesellschaft, in der sich die Menschen ohne feste Sitzordnung interessiert und tolerant trafen, bot vor allem auch Frauen Möglichkeit zur Entwicklung, Bildung und Emanzipation. Gerade in den beiden Bildungswelten Musik und Literatur reüssierten sie. Dabei kam es vor allem auf Lehrer und Mentoren an, aber nicht unbedingt auf (adlige) Herkunft oder Netzwerke wie in Politik und Wissenschaft üblich. Nur im kleinen Kreis glänzten in den Salons nun Frauen als Schriftstellerinnen und Musikerinnen. So auch Sara Levy.
Bereits rund zehn Jahre steht die Bratschistin Francesca Venturi Ferriolo als Musikerin im Licht der Öffentlichkeit, bevor sie nicht nur Gründungsmitglied des Ensembles Il Quadro Animato und des Animato Vereins zur Förderung der Alten Musik e.V. wurde, bald unterrichtet sie auch an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, während sie gleichzeitig an einer Dissertation über Sara Levy arbeitet. Ihre Wiederentdeckungen teilt sie nun mit anderen.
Das Ensemble Salon Violet, Foto: Christian Weise
Fünf Kammermusikstücke von ihr brachte kürzlich das Ensemble Salon Violet zur Aufführung und dazu auch gleich seine neue CD heraus.
Die junge Sara Levy erlebte die Komponisten Hertel, Benda, Graun, Carl Philipp Emanuel Bach und Janitsch bereits als etablierte ältere Herren, deren Werke als „Klassiker“ es zu bewahren galt. Die Mehrzahl der Sätze der jeweils dreiteiligen Werke sind, als man sich das bei Bratschenstücken gemeinhin denkt, lebendig, also allegro oder allegretto, der fünfte Komponist lässt sein Stück gar mit einem Vivace enden. Kein Wunder, dass dieser Satz – noch flotter – dann als Zugabe gespielt wurde.
Eine – vielleicht auch demokratische – Steigerung im Ablauf des Konzerts ergab sich dadurch, dass das vierte und fünfte Stück mit zwei bzw. drei Bratschen besetzt waren. „Zwei Bratschen sind besser, und drei Bratschen noch besser“, sagte die Ensembleleiterin. Das rund fünfzigköpfige Publikum war begeistert.
Die Solobratsche oder das Bratschenkonzert gelten heute als typisch für den neuen Sturm- und Drang-Stil. Die Bratsche war also nicht nur die Altersversorgung von Geigern, deren Hände und Augen müde geworden waren.
War die Bratsche, die auch damals Sara Levys Cembalospiel begleitete, möglicherweise ein Instrument, das besonders gut das Leben im Salon charakterisierte? In den Salons ging es um das Miteinander. Niemand musste oder konnte als Geiger brillieren. In der Moderation des Bad Sodener Musikabends wurde ein treffliches Wort des japanischen Tennos, eines Bratschisten, zitiert: „Die Bratsche sticht im Orchester nicht hervor, aber ohne Bratsche wird die Harmonie einsam“. Man erinnert sich an die Harmonievorstellungen der alten Griechen.
Interessant ist auch die sehr enge Verwandtschaft von Bratsche und Cembalo. Die Saiten werden angerissen, wie der Cembalist nach dem Konzert erklärte. Der Cembalospieler ist damit eng mit dem Instrument verbunden, direkt an den Saiten, betreibt keine „Fernsteuerung“. Kann man noch weiter sinnieren und sagen, Saiteninstrumente reflektieren die Stimmbänder und den Bauch, die Blasinstrumente die Luftröhre und den Kopf? Letztere machen bloß trunken, erstere wirken erotisch?
Dass es sich bei den Musikalien aus Levys Salon um faszinierende Schätze handelt, wird auch aus anderem ersichtlich: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sammlung Levy von Archivaren der russischen Armee einkassiert und in den Osten mitgenommen worden. Ähnlich wie bei der Bibliothek des Zuckerinstituts gab es damals in Kiew an der Kriegsbeute interessierte Institutionen. So wurden die Musikhandschriften also nach Kiew verschleppt. 1999 konnte der Bachforscher Christoph Wolff die bis dahin als verloren geltende Sammlung in Kiew für den Westen wiederentdecken (in Kiewer Musikerkreisen war sie indes die ganze Zeit über nicht völlig unbekannt gewesen). 2001/2002 kam sie zurück nach Berlin und ist nun Teil des Bestandes der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz.
Bekannter wurde in der deutschen Öffentlichkeit damals als Rückgabe deklarierte Restitution der Bach-Handschriften. Ohne Sara Levy aber kein Johann Sebastian Bach: Indem sie Noten Bachs seinerzeit sammelte und später an ihren Großneffen Felix Mendelssohn Bartholdy weitergab, ist sie Mitinitiatorin der Wiederentdeckung der Matthäuspassion und damit des Gesamtwerks ihres Komponisten, also der Bach-Renaissance.
Da Francesca Venturi Ferriolo sich als Musikerin und nicht bloß als Musikhistorikerin in die lange als verschollen geglaubte Sammlung vertiefte, und fünf Stücke daraus mit ihrem Ensemble spielte, bot der Abend eine wunderbare Einführung in die Schätze des Salons der Berliner Musikerin und Kunstförderin, harmonisch und lebendig – vivace und ermöglichte damit – getragen von der Bad Sodener Musikstiftung Jürgen Frei – die Wiederbegegnung mit Sara Levy.
Die CD „In Sara Levys Salon – Kammermusik für Bratsche“ mit den fünf Stücken von Hertel, Benda, Graun, Carl Philipp Emanuel Bach und Janitsch, eingespielt von Francesca Venturi Ferriolo, Anna Kaiser, Tommaso Toni (alle Barockbratsche), dem am Konzertabend wegen Verletzung nicht mitwirkende Johannes Berger (Cello) und Andreas Gilger (Cembalo), trägt die EAN 4010072774729
Die Webseite von Francesca Venturi Ferriolo findet sich unter der Adresse:
https://www.francescaventuriferriolo.com/ .
Infos zu Sara Levy finden sich unter anderem in dem Online-Lexikon „Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts“ des Sophie Drinker Instituts, Bremen:
https://www.sophie-drinker-institut.de/levy-sara .
RISM-Katalog mit Verzeichnis von Quellen, die mit Sara Levy als Vorbesitzerin in Verbindung stehen:
Der Titel dieses Beitrags nimmt einen Buchtitel auf:
Joseph Wechsberg, Der Zauber der Geige. Frankfurt am Main 1974.