home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

30. Book Forum im Pulverturm

Vive L’viv im Buchforum! Renaissance und „Zukunft schreiben“

Von Christian Weise, (alle Fotos inklusive)

„Und Begrenzungen gibt es nicht – nur die Grenze und das Ziel,/ so nah und so scharf,/so hoch und einfach./Lies es mir erst einmal laut vor./Hör nicht auf zu lesen. Lies.“(Kateryna Kalytko)

„Au“, sagt Radoslava plötzlich und hält sich den Kopf. Wir stehen im Schatten der Bäume vor dem Pulverturm in L’viv, wo dieses Jahr das 30. Book Forum stattfindet, und machen eine Verschnaufpause. Radoslava Kabachiy arbeitet bei der Stiftung „Wiedergeburt“ und zugleich beim „Ukrainischen Buch-Institut“.

 Der Pulverturm L’viv wurde zum Bücherturm, Foto: Christian Weise

Die Buchmesse, die als Verlegerausstellung ursprünglich „Forum Vydavciv“, hieß, wurde vor 30 Jahren gegründet, lange Jahre leitete sie Oleksandra Koval, nun Direktorin des „Ukrainischen Buch-Instituts. Einer der weiteren wichtigen Mitgründer war Zenovyj Mazuryk, lange Jahre ein wichtiger Mann für Kulturfragen in L’viv. „Writing the Future“ ist das Motto dieses Jahr. Viele Jahre fand das Book Forum schwerpunktmäßig im Kunstpalast neben dem Potocki-Palast statt.

Angereist bin ich wie üblich per Bus und Bahn. Der Nachtbus von Gießen benötigt rund 16 Stunden. „Kauf Dir rechtzeitig eine Bahnfahrkarte von Przemyśl nach L’viv, die sind knapp“, schrieb mir Freund Oleh Turiy schon vor der Abfahrt.

Der Flixbus kam fast auf die Minute pünktlich an. Rund 100 Meter bis zur polnischen Grenzabfertigung zu den Zügen Richtung Ukraine. „Komm zu mir!“, ruft die kleine Gruppe polnischer Grenzbeamten. „Anti-Deutscher Affekt“, meinen später meine ukrainischen Freunde.

Die Waggons sind leider gerade richtig aufgereiht: der 2. Waggon befindet sich kurz hinter der Lokomotive. „Darauf kann man sich leider nie verlassen!“, sagen mir die zwei Frauen aus Dnipro, die ich im Coupé nun bis L’viv begleite.

„Den Koffer müssen Sie reinnehmen!“, sagt mir der mittelalterliche drahtige akkurate Providnyk, der Wagonschaffner. Der Koffer ist etwas größer, sonst lassen sich nicht so viele Bücher später mitnehmen… Was er nicht sieht, in dem Koffer sind kleinere Koffer, das Prinzip Matrjoschka. „Oui, mon géneral!“, denke ich. Später bestelle ich auf Ukrainisch einen schwarzen Tee. „Hromadjanstvo – Staatsangehörigkeit?!“, hatte er beim Betreten kurz abgefragt. Nun wird er etwas gelassener. Der spricht offenbar Ukrainisch. „Sie können den Koffer wieder herausstellen.“ Die ukrainische Passkontrolle ist vorbei. Zoll gibts nicht.

Die beiden Frauen reden erst russisch miteinander. Langsam beginnen auch wir miteinander zu sprechen, wechseln ins Ukrainische. „Haben Sie nichts zu essen dabei? Komm, nehmen Sie! Und auch etwas Wein – hier ist das leere Teeglas!“ So kommen wir ins Gespräch, die jüngere Frau mit jugendlich zerrissenen Jeans oben, die noch weiter will als ich, denn der Zug fährt bis in die Ostukraine, hört nur interessiert und amüsiert zu.

Der Frankfurter Journalist und Übersetzer Christian Weise berichtet vom Book Forum

So lange im Bus sitzend, wo ich noch weiter an meinen Buchübersetzungen gearbeitet habe, stehe ich auf und schaue durchs Fenster auf die dunkle vorüberhuschende Landschaft. Ich fahre zum Book Forum. Eine der Frauen aus Dnipro nimmt ein Buch aus der Tasche. „451“ lese ich in roter Schrift. Aha!? Erst kommt Horodok, dann tauchen die Straßen von PidsamÄe auf, schließlich irgendein weißes, anscheinend früher von russischen Geschossen getroffenes, langgestrecktes Gebäude, dann die Einfahrt in den Bahnhof.

Da ich den ganzen Tag außer dem geteilten „Butterbrot“ nichts gegessen habe, und meine ukrainische Telefonnummer nicht aufgeladen ist, gehe ich an den lauernden Taxifahrern am L’viver Bahnhof vorbei 100 Meter bis zur Pizzeria, lade an dem Automaten mein Telefon auf, esse einen Salat „Olivier“. Tradition muss sein! „Nein, Alkohol gibt es nach 21 Uhr nicht mehr!“, sagt mir die Frau an der Theke. Ich hätte gerne ein „Dunkel“ bestellt.

 Straßen-Absperrungen in L’viv

Per Uklon, der ukrainischen Taxi-App, bestelle ich ein Taxi. Der Taxifahrer fährt mich für 120 Hryvni zum UCU Inn, dem Gästehaus der Ukrainischen Katholischen Universität, wo ich die nächsten Tage bleiben werde. „Das Book Forum beginnt morgen, sage ich ihm. Bei uns ist auch in Kürze Buchmesse. Da haben die Taxifahrer viel zu tun. Und die Prostituierten auch. Offenbar sind die Buchleute Ästheten.“ „Nun, jeder hat sein Business“, sagt der Fahrer, und schmunzelt. „Ich habe eigentlich auch meine eigene Firma. Aber jetzt ist Krieg. Und irgendwie muss man überleben. Also fahre ich.“ „Alles ok“, erwidere ich, „was habe ich nicht alles gemacht oder mache ich … Jetzt kombiniere ich auch weiter verschiedene Sachen. Auch in einer Autovermietung…“ „Wie heißen Sie?“, fragt er am Ende und drückt mir die Hand. „Ich heiße Andrij.“

Tanja, wohl Chefconcierge, empfängt mich wie gewohnt im UCU Inn gegen 23 Uhr. „Nadrobanyc!“

Am nächsten Tag unternehme ich den üblichen Marathon durch ein halbes Dutzend Buchläden, die alteingesessenen Buchhändlerinnen, etwas von der Sevcenko-Buchhandlung freuen sich, mich zu sehen. Sie haben mehr „auf dem Kasten“, kennen ihre Bücher, anders als es bei den jungen Mitarbeiterinnen aus den Buchhandelsketten der Fall ist. Darüber unterhalte ich mich am nächsten Tag auch mit Radoslava. Ich besuche den einzigen Antiquar am Ort, Freund Anatolij. Den einzigen anderen Kunden, der dort im Sessel sitzt, Anton, kenne ich auch seit etlichen Jahren vom Sehen, ein Autor-Journalist.

Buchhandlung in Cortkiv

Anatolij hat eine Postkarte von der Buchhandlung in Cortkiv, die ich bei ihm bestellt habe. Sie ist wichtig, weil mein Freund Vasyl’ Machno dort aufgewachsen ist und in seinem Roman „Der ewige Kalender“, den ich übersetze, auch ein Bild von der Kultur in der örtlichen Zwischenkriegszeit liefert. Kurz vor 17 Uhr treffe ich Freund Vasyl’ Gabor, der im Verlag Pyramida mit der Serie „Pryvatna Kolekcja“ wunderschöne Bücher herausgibt. Auch bei ihm hatte ich schon zwei Bücher bestellt. „Zum Book Forum gehen wir vom Verlag nicht“, sagt er mir, und eilt weiter. Wir verabreden uns auf unbestimmt für einen Kaffee.

„Pryvatna Kolekja“

Mit Rostyslav, einem Autor, mit dem er am Rathauseingang stand, gehe ich nun ins Rathaus. Das „Reckoning Project“ stellt hier sein Buch „Die schrecklichsten Tage meines Lebens“ vor und spricht auch über das Projekt insgesamt. Der britische Autor Peter Pomeranzew und die Kriegsreporterin Janine di Giovanni sind die beiden bekannten westeuropäischen Teilnehmer, aus der Ukraine sind die Journalistin Angelina Karjakina und der Filmer Oleksij Radyns’kyj dabei.

„Reckoning“ im Rathaus

Das Anliegen ist es, Zeugnisse gegen die Lügen und über die Verbrechen zu sammeln, journalistisch, historisch und in Erzählungen. Erst fühlte sie sich schuldig, berichtete Karjakina von ihrer Arbeit, damals selbst schwanger, schließlich gaben ihr die schrecklichen Berichte Kraft. Vor allem die starke ukrainische Zivilgesellschaft und die Aufnahmen und Mitteilungen durch Smartphones stellen eine große Hilfe für die Dokumentierung dar. Offen ist, wie effizient die Strafverfolgung sein wird. Journalisten und Juristen konkurrieren miteinander, brauchen aber auch einander, so Pomeranzew.

Eröffnung in der kleinen Begegnungsstätte America House

Anschließend laufen wir hinüber zum „America House“, einem kleinen aufgehübschten „Creative Hub“ im 2. Stock eines Altbaus, wo Kulturaustausch stattfinden kann, überqueren den Prospekt Svobody, die Freiheitsavenue. Die Freiheit liegt immer jenseits…

Professionell wie gewohnt, eröffnet Sophia Cheliak das 30. Book Forum. Die Frau ist als Direktorin des Book Forums 150% richtig am Platz. Der Raum ist etwas überfüllt. Freund Jurko Prochasko sitzt neben mir. „Es war zu voll, die Kameraleute versperrten alles“, sagt mir am nächsten Tag Ostap Slyvynsky im Bus, während wir die durch Raketenbeschuss vor einigen Monaten ruinierten Gebäude unweit der Militärakademie passieren. „Ich bin nach 10 Minuten gegangen.“

America House – Grußrede von Bürgermeister A. Sadovyj

Das Grußwort sprach Kateryna Kalytko, diesjährige Sevcenko-Preisträgerin. „Lies!“, so endete ihr am Schluss vorgetragenes Gedicht.

Und Begrenzungen gibt es nicht – nur die Grenze und das Ziel,
so nah und so scharf,
so hoch und einfach.
Lies es mir erst einmal laut vor.
Hör nicht auf zu lesen. Lies.

Sevcenko-Preisträgerin Kateryna Katlytko

Später geht es über den Prospekt Svobody wieder zurück – die Freiheit begleitet unser Leben – und der kleinere Kreis trifft sich im Keller des Restaurants „Kumpel“. Diesmal ist alles nicht opulent wie in früheren Jahren im „Haus der Wissenschaftler“. Auch das ist sehr angenehm. Am Ende wird es diesmal auch kein Konzert – etwa mit dem letztjährigen Friedenspreisträger Zhadan – oder eine großangelegte Schlußveranstaltung im „Kaffeebergwerk“ geben. Die Nacht der Poesie, einst Bestandteil des Literaturfestivals, das Nelly Klos leitete, wird aber – verkürzt – am Samstag stattfinden

Gespräche im Restaurant „Kumpel“

Manche der früheren „Aadabeis“, wie man in Hessen sagt, sind diesmal am Abend nicht anwesend. Von den Kyïvern sind zunächst nur Vakhtang Kebuladse da, Philosoph – Husserl-Spezialist – und häufiger öffentlicher Gesprächspartner bei Veranstaltungen in den letzten Jahren. Außerdem mein Freund Serhij Pantjuk, der einzige in Camouflage. Später kommen von den Kyïvern auch die Chefredakteurin von „Ukrainska Pravda“ und weitere Bekannte. Auch eine deutsche Autorin ist da, Ulrike Almut Sandig. Sie kam gerade aus Ivano-Frankivs’k und war zuvor auch in Užhorod, wie ich den Fotos entnehme. Auch die Engländer von der Veranstaltung im Rathaus trudelten später ein.

Šeptyc’kyj-Zentrum mit St. Sophia-Kirche und Gästehaus im Hintergrund

Die allererste Veranstaltung des Book Forums indes galt Ivan Franko, „Prophet oder Häretiker?“, so der Buchtitel des Autors Ihor Medvid’, der sein Buch im Šeptyc’kyj -Zentrum unweit der Stryjsker Straße vorstellte. Franko, unglaublich fleißiger Autor, dessen letzte Gesamtausgabe in dunklem Tannengrün-Einband 50 Bände umfasst, dessen Werk eine auf 7 Bände geplante Franko-Enzyklopädie erschließen soll, dessen umfangreiche Bibliothek (20.000 Bände?) in Kyïv unweit des Majdans aufbewahrt und in gedruckten Katalogen erschlossen wird, war ein nicht ganz einfach zu fassender Mann. Mitgründer zweier Parteien, links und offenbar Agnostiker. Aus deutscher Familie stammend, kann man nur wenig von ihm auf Deutsch lesen.

Ivan Franko – Prophet oder Häretiker?

Parallel zur Diskussion im Rathaus stellte die Literaturwissenschaftlerin Olena Haleta ihren Band über ukrainische Literatur unter anthropologischer Perspektive vor – der Autor des einen Kapitels, Bohdan-Ihor Antonyc, hätte am folgenden Tag seinen 114. Geburtstag.

„Das Book Forum ist dieses Jahr kleiner und adäquater“, sagt mir Ostap am nächsten Tag. „So wie vor 15 Jahren. Man konnte am Schluss schon nicht mehr zu allen Veranstaltungen-Diskussionen gehen.“ Er verlässt den Bus früher als ich, ich fahre bis zum Pulverturm. Explosive Bücher auf dem 30. Book Forum also.

Bücher-Zelte, rechterhand die Obdachlosenspeisung

Die Zelte, die schon gestern aufgebaut wurden, unweit der Stelle, wo an Obdachlose und Bedürftige Essen ausgegeben wird, sind noch unbehaust. Nur 2-3 Verlage sind bereits da. Ihor Shchupak aus Dnipro vom Tukma-Holocaust-Zentrum ist bereits da und der UJE, der Ucrainian Jewish Encounter. Den Band von Prof. Paul Robert Magocsi über die Karpathische Rus habe ich noch nicht, war zu lange nicht mehr in den Buchläden von Užhorod. „Kobzar“ verkaufte immer alle Bücher des kanadischen Professors.

„Au“, sagte Radoslava, und das begleitete mich bei der ersten Veranstaltung im 3. Stockwerk des Pulverturms. 1554-1556 erbaut, stand er an der Stadtmauer und diente später auch als Getreidekammer. Nun als Ausstellungsgebäude. Unlängst waren hier die wunderbaren Sammlungen huzulischer Volkskunst des nicht weniger wunderbaren guten Bekannten Ivan Hretschko zu sehen.

Blick auf das Denkmal von Ivan Fedorov, den Erstdrucker von L’viv

Die erste Veranstaltung ist einer Aufzeichnung. „Viele kommen nicht, sind verhindert, krank“, hatte mir Ostap bereits im Bus erzählt. Kalytko hat ihr langes Gespräch mit dem bosnischen Autor Ozren Kebo aufgezeichnet. Er gibt keine Interviews, hat aber eine Ausnahme gemacht. Kateryna ist gerührt. Das Gespräch trägt den Titel „Krieg für Anfänger“. Sein nicht ins Deutsche übersetztes Buch heißt „Sarajevo für Anfänger“. Kateryna hat es ins Ukrainische übersetzt, 2017 erschienen. Der Krieg um Bosnien als gar nicht ferner Spiegel für Ukrainer…

 K. Kalytko – O. Kebo

Anders als damals in Bosnien genießt die Ukraine eine große Unterstützung. Eine große Veränderung ist auch: Der Krieg findet gleichsam online statt. Am Ende ist es so, dass es neue Geräte gibt. Den Krieg stoppen können sie indes nicht.

Von dem nächsten Gespräch bekomme ich nur die Hälfte mit. Ostap Slyvynsky unterhält sich mit Uilliam Blaker und Katherine Younger. „Uns erinnernd – unser Weg in die Zukunft!“ Auch Younger ist wieder eine Balkan-Expertin.

 Ostap Slyvynsky, Foto: Christian Weise

Kollektivgedächtnis ist etwas anderes als individuelles Gedächtnis. Das individuelle Gedächtnis kann gut durch Literatur dargestellt und gepflegt werden, so Slyvynsky.

Hinsichtlich der Zukunft müsse man besser in kurzen Abschnitten denken. Vielleicht ist es ein Glück für manche Nationen, dass sie keine (glückliche) Vergangenheit haben, die sie in die Zukunft entwerfen müssen. Das bedeutet Freiheit.

Am Nachmittag kommen aus Kyïv Tetiana Ogarkova und ihr Ehemann, der Philosoph Volodymyr Jermolenko – Präsident des ukrainischen PEN-Clubs ist er außerdem. Beide betreiben sie seit gut einem Jahr einen sehr wichtigen informativen englischsprachigen Blog Ukraine/World. (https://ukraineworld.org/en/about).  Tetjana spricht mit den beiden an der Kyïver Mohyla-Akademie lehrenden Maksym Jakovlev und Vakhtang Kebuladse. Zugeschaltet sind die Politologin Anne Applebaum aus Warschau und die Schriftstellerin Slavenka DrakuliÄ. „Krieg als Zusammenbruch der Zivilisation. Gibt es Glück nach dem Krieg?“ lautet der Obertitel.

 

Tetiana Orgarkova moderiert / Anne Applebaum ist online zugeschaltet

Kebuladse versuchte aufzuzeigen, dass für Russland Freiheit stets Anarchie bedeute, und man bestenfalls von einer Schattenzivilisation sprechen könne. Applebaum wies darauf hin, dass es in dem Krieg vor allem um fundamentale Werte gehe. Drakulic betonte einen Graben zwischen Erinnerung und Geschichte, Schwierigkeiten, über den aktiv erlebten Krieg zu sprechen. Wohin man nicht mehr zurückkehren könne, nämlich in das Jahr 2013, wurde diskutiert. Applebaum votierte dafür, dass man doch eine andere Geschichte Russlands als nur die der autoritären Gewaltkultur schreiben könne, über Liberale, Dissidenten, auch über jene, die jetzt den nach Russland verschleppten Ukrainern unter Gefahr helfen zurückzukehren.

Der Diskussionen waren noch kein Ende, und am späten Nachmittag füllte sich der 3. Stock, bis über 100 Menschen meist jüngeren Alters. Sie sitzen auf den gläsern-durchsichtigen Stühlen. Zuvor hat Sophia Cheliak unter lachendem Beifall beherzt zum Wischmopp gegriffen und die Fußspuren beseitigt – es wird doch alles aufgezeichnet. Timothy Garton Ash, Emma Graham-Harrison, Oleksandr Susko, Sevgil Musaeva, Oleksandra Matijcuk, moderiert von Kristina Berdyns’kych – ursprünglich aus Cherson – diskutieren über die Frage eines „Marshall-Plans“ für die Ukraine. Das starke Eingangsstatement kam von Ash: Bei all den anderen Konflikten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nirgendwo einen Marshall Plan. Die Europäer, Macron, Scholz, müssten jetzt einen Plan schaffen, es gebe zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, ein postimperiales Europa zu schaffen.

Timothy Garton Ash debattiert, Foto: Christian Weise

Diskussionen zusammenzufassen ist eine undankbare Aufgabe. „Das Schöne ist, dass wir heute alle Veranstaltungen auch im Internet uns ansehen können, und dabei ruhig eine Tasse Kaffee trinken können“, sagte mir Ostap im Bus Nr. 3A. Die Links zu den Aufzeichnungen auf Ukrainisch bzw. mit Übersetzung auch auf Englisch sind für alle Interessierten jetzt oder später zugänglich auf den Seiten von youtube und und des britischen Medienpartners und Unterstützers [… hayfestival-lin]unter:  https://www.hayfestival.com/lviv-bookforum. Ich spiele hier jetzt nur ein wenig die Rolle eines „Gala“-Reporters…

Encounter-Preis-Verleihung: Olha Mukha und Sophia Andruchowytsch

Einen wunderbaren Abschluss bildete am Abend die Preisverleihung des „Encounter-Preises“ der UJE. Sophia Andruchowytsch wurde dieses Jahr für ihren umfangreichen Roman „Amadoka“ ausgezeichnet. Auf Deutsch erscheint er nun in drei Häppchen übersetzt von Maria Weissenböck und Alexander Kratochvil im Residenz-Verlag. Zahlreiche weitere Übersetzungen sind in Arbeit, schlussendlich auch in dem amerikanischen Verlag, der die Werke Hemingways veröffentlicht hat.

Die lobenden Dankesworte an die Autorin kamen von allen anwesenden Jury-Mitgliedern: Natalia Fedushak, Olha Mukha, Oksana Forostyna, von der Verlegerin Marjana Savka und von Ihor Shchupak. Eingeleitet wurde die Verleihungszeremonie durch eine Gedenkminute für die heute 80 Kilometer von Charkiv bei einem Raketenangriff auf das Dorf Hroza getöteten über 50 Menschen einer Trauerfeier. 1000 Kilometer östlich von L’viv kamen dabei auch die Witwe und der Sohn des gerade eben begrabenen Soldaten dabei ums Leben.

Buchsignierung für Ihor Shchupak

„Jewish culture is an integral part of Ukrainian identity that we must restore“, schreibt Jurymitglied Olha Mukha, vielseitige, in London lebende Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin von PEN International, in ihrem Beitrag für den UJE. (https://ukrainianjewishencounter.org/en/olha-mukha-jewish-culture-is-an-integral-part-of-ukrainian-identity-that-we-must-restore/)

Preisglück für Sophia Andruchowytsch, Foto: Christian Weise

Am Freitag schließlich öffneten auch die weißen Zelte in vollem Umfang ihren Buchverkauf. Der Verlagsverkauf ist mir normalerweise wichtig, weil die einzelnen Verlage auch die sogenannte „Backlist“ mitbringen, die die Buchhandelsketten nicht mehr anbieten. Der gesamte Verkaufsraum hat sich dieses Jahr freilich mindestens auf ein Achtel reduziert. Die gleichsam selbstverlegten Titel in Kleinauflage gilt es also wie einst durch Kontakte zu suchen… Und viele kleinere Verlage aus anderen Städten kommen aus vielerlei Gründen ebenfalls nicht.

Blick in das Bücherzelt

Intensiviert wurden Freitag bis Sonntag nun auch Buchvorstellungen, unter anderem zu weiteren biografischen Schlaglichtern auf ukrainische Identität, Signierstunden und Diskussionen.

Da keine deutschen oder polnischen Journalisten anwesend waren, wird in den nächsten Tagen nur auf den Seiten ukrainischer Medien und englischer Journalistinnen (u.a. The Guardian), die das Book Forum begleiten, manches zu lesen sein.

In Frankfurt gehörten zu den Highlights der Buchmesse immer die abendlichen Parties, wozu auch die bei den Unselds zählte. Freund Bert Kögler erzählte mir vor vielen Jahre nach seinem Besuch davon. Freitagabend fand sich ein geladener Kreis bei Halyna Schyjan und Sébastien Gobert ein. Ob in L’viv diese Party zu einer solchen Institution wird, auch sie ein Ausdruck von Freiheit und Ausblick auf die Zukunft? „Daj Bosche!“ – möge Gott das geben!, sagen die Ukraine, und so ungefähr heißt auch beider Tochter.

Book Forum-Teilnehmer-„Aufstellung“ 

„Au“, sagte Radoslava neben mir, und hielt sich den Kopf. „Tut weh!“.

In L’viv fallen vom Himmel augenblicklich nur Kastanien…

PS:

„Was ist mit den rechten Verlagen?“, lautete in Frankfurt bei der Buchmesse-Pressekonferenz kürzlich die erste Journalistenfrage. Und die FAZ-Lokal-Feuilleton-Autorin schrieb anschließend ausführlich dazu.

In L’viv wurde nur Mykola Posivnytschs Bandera-Monografie in erweiterter Neuausgabe vorgestellt. Bereits 2013 schrieb der Verfasser: „Den Bandera-Kult haben seine Opponenten geschaffen:“

 Präsentation des 5. Bandes der Werke Chvylovyjs

Viel wichtiger als Bandera war für das Book Forum am 6. Oktober im Museum für Ethnographie die Vorstellung des 5. und letzten Bandes der Werkausgabe eines anderen Mykola, verlegt vom Kyïver Verlag Smoloskyp, von Mykola Chvylovyj, Dichter der „hingerichteten Wiedergeburt“, gestorben 1933 in Charkiv.

Vor einem Jahr:

Das 29. BookForum Lviv – Eine Buchmesse in Zeiten des Krieges organisieren – wie geht das?

 

 

https://bookforum.ua/

https://www.service95.com/lviv-book-forum/

https://www.hayfestival.com/lviv-bookforum

Comments are closed.