Ein Super-Abo: Sir Simon Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der Alten Oper Frankfurt mit Mahlers „Sechster“, Hindemith und Zemlinksy
Humor, Power, Passion und tiefe Innigkeit
Gustav Mahlers Sechste Sinfonie gehörte zu Simon Rattles ersten Konzertprogrammen als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Für ihn ist sie eines seiner Herzensstücke.
Von Petra Kammann
Gerade noch hatte die charmante britisch-amerikanische Starhornistin Sarah Willis das Konzertpublikum mit auf ihre digitale Erkundungsreise hinter die Kulissen und die teils verschlungenen Wege des Konzerthauses genommen. Da erfuhr man u.a., dass die Stars des Abends überhaupt erst in letzter Minute angekommen waren. Es hätte in diesen Tagen ganz anders ausgehen können.
„By heart“ – Eine Herzansangelegenheit. Auswendig dirigiert Sir Simon Rattle das exzellente Orchester in der Alten Oper Frankfurt, Foto: Tibor Florestan Pluto /Alte Oper Frankfurt
Wie immer vor jedem Live-Konzert – große Aufregung hinter der Bühne und in den Fluren. Als Willis bei den Stars an die Tür der Künstlerkabine klopft, macht Rattle trotz der Zeitknappheit auf. Noch von der Fahrt im Rollkragenpullover strahlt er Willis mit seinem ansteckenden Optimismus an. Zweifellos spielte dabei auch Wiedersehensfreude mit, hatte die vielversprechende Hornistin doch seinerzeit bei den Berliner Philharmonikern unter seiner Leitung gespielt. Und Rattles Gedächtnis an einzelne Musikerstimmen funktioniert ebenso gut wie das an komplexe Partituren, die in seinem Kopf eingebrannt scheinen. So erleben wir ihn kurz vor Konzertbeginn noch völlig entspannt, mit britischem Humor plaudernd, bevor es dann im Eilverfahren in einer Art Frack auf die Bühne geht und er unmittelbar zur Sache kommt.
Kurz vor Sir Simon Rattles Auftritt, Gespräch Backstage mit der Hornistin Sarah Willis, Foto: Petra Kammann
Bedurfte es des „Vorspiels“ eigentlich, ist doch Mahlers hochkomplexe „Sechste Sinfonie“ nicht schon Programm genug für einen Konzertabend? Nicht so für einen von Musik und Rhythmus durchdrungenen Menschen wie Simon Rattle, der sich inzwischen seit mehr als 40 Jahren mit Mahlers Sechster, genannt „Die Tragische“, beschäftigt und die Sinfonie auch immer wieder dirigiert hat. „Ich habe mit der Zeit gemerkt, dass sie auch Hoffnung in sich trägt.“ Und dann muss er zur Einstimmung programmatisch noch etwas draufsetzen, um sie in einen Kontext zu stellen.
In Frankfurt jedenfalls war es die perfekte Einspielung, die dem Publikum vor Aug‘ und Ohren führte, wie sich Dirigent und das bayerische Rundfunksymphonieorchester aufeinander beziehen. Punktgenau im Einsatz, voller Konzentration und Verve ging es daher im ersten Teil des Konzerts mit Paul Hindemiths kurzem „Ragtime“ („wohltemperiert“) für großes Orchester aus dem Jahre 1921 los, wo sich der provokante Komponist Paul Hindemith (1895 – 1963) als erster an eine verjazzte Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Musik Orchester herangewagt hatte. Bei diesem kurzen vorwärtsdrängenden „Ragtime“ wird das Motiv der c-Moll-Fuge aus dem Bach’schen Wohltemperierten Klavier hier einem ziemlich fremden, synkopierten Ambiente angesiedelt. Im Konzert erwies der Wachmacher sich als Glücksgriff: Ganz bei der Sache, ganz bei sich und damit schon für alles Weitere eingeschworen, konnte das exzellente Münchner Radiosinfonieorchester unter dem leidenschaftlichen Dirigat Rattles vom ersten Moment an eine fesselnde Performance entfalten, der man sich kaum entziehen konnte.
Eine wiederum völlig andere Welt tat sich mit den „Sinfonischen Gesängen“ von 1929 des österreichischen Komponisten Alexander von Zemlinsky (1871 – 1942) auf. Den Besuchern der Frankfurter Oper dürfte der Komponist kein unbekannter sein, denn dort war kürzlich noch dessen Bühnenwerk „Der Traumgörge“ zu erleben. Seine sieben Vertonungen hingegen bezogen sich auf die Dichtung von Vertretern der sogenannten „Harlem Renaissance“. Vorausgegangen war der Komposition eine in Wien erschienene Anthologie mit zeitgenössischer afroamerikanischer Lyrik unter dem Titel „Afrika singt“. Ein Buch, das damals offensichtlich Aufsehen erregte, erzählen doch die darin veröffentlichten Verse realistisch und drastisch von einem von Rassismus geprägten beschwerlichen Alltag. Lange Zeit galt die Komposition so gut wie verschollen. Lediglich 1935 war sie zu Lebzeiten Zemlinskys in einem Studio in Brünn unter der Leitung des österreichischen Dirigenten und Komponisten Heinrich Jalowetz eingespielt und live übertragen worden. Schade nur, dass man während der Aufführung in Frankfurt die vom Bariton Lester Lynch inbrünstig und raumfüllend gesungenen Texte leider weder verstehen, noch irgendwo mitlesen konnte. Dennoch war es eine interessante Erfahrung, dieses so selten wahrgenommene Werk in dem Zusammenhang kennengelernt zu haben.
Applaus für den volltönenden Bariton Lester Lynch, Foto: Petra Kammann
In der darauf folgenden Pause wuchs die Spannung, wie nach diesen Einspielern mit vorweggenommener amerikanischer Exilthematik nun noch die hoch komplexe und in manchen widersprüchliche Mahlersinfonie gelingen könne und was sie überhaupt mit den beiden anderen Komponisten verbinde. Sie repräsentieren jene europäische Kulturwelt der „Zwanziger Jahre“, deren Bedrohung sich nach 1933 immer stärker manifestierte. Hindemith und Zemlinsky hatte sie ins Exil trieb. Und wäre Mahler nicht schon 1942 gestorben, so wäre er vermutlich ebenfalls Opfer von Verfolgung geworden.
Die „Symphonie mit dem Hammerschlag“ oder „Die Tragische“ , wie die Gustav Mahlers zwischen 1903 und 1904 komponierte „Sinfonie Nr. 6 a-Moll“, auch genannt wird, weil sie auf eine Apokalypse zuzusteuern scheint, wurde schließlich zum Höhepunkt des Abends. Voll tiefer Intensität, atemberaubender Energie und klanglicher Vielfalt, die musikalischen Kontraste mit größter Präzision und Sensibilität auskostend, bildete Rattle die gesamte Palette menschlicher Emotionen ab.
Die Interpretation geriet als gewaltiges Ohren-Spektakel mit den herausragenden Bläsersätzen, sich hervortuenden Kontrabässen, mit den fein ziselierten hörbaren Pianissimi – vor allem im 2. Satz des Andante moderato – mit den innig zarten Streichermomenten und Holzbläsermelodien. Sie ließen Glücksmomente aufscheinen, während die durchscheinenden Herdenglocken an die friedliche unberührte Natur der Alm erinnerten.
Gewaltiger Schlussapplaus für Sir Simon Rattle und das exzellente Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Foto: Petra Kammann
Und dann immer wieder dieses marschartige Vorantreiben, das die Sinfonie durchzieht. Sir Simon Rattle unterstrich insgesamt die musikalische Vielfalt dieses Stücks, immer wieder auch Elemente des österreichischen Volksliedes aufgreifend. „Mahler präsentiert hier das ganze Paket eines kolossalen Lebens. Und dazu gehören auch Liebe und Optimismus“, so Rattles Fazit. Der nicht enden wollende vierte Satz, das gewaltige halbstündige Finale, entfaltete sich dann geradezu endzeitlich und mit dramatischer Wucht. Es jagte die Zuhörerschaft durch alle Abgründe der menschlichen Seele bis hin zu den berühmten Hammerschlägen, der zunächst die atemberaubend glückliche Stille folgte.
Die einzelnen Mitglieder des Orchesters trugen nicht nur mit ihrem jeweiligen Können, sondern auch mit ihrer vollen Hingabe und ihrer Leidenschaft zum Gesamtklangkörper bei, gleich, ob es schroff, wild und kantig oder hingebungsvoll und innig zugeht. Auch für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das in diesen Tagen sein 75-jähriges Bestehen feiert, ist ein so schweres und komplexes Werk zweifellos eine ebenso erschöpfende wie energieanstachelnde Herausforderung, die ihresgleichen sucht.
Neu auf CD
Ein Livemitschnitt der Aufführungen vom 27. bis 30. September 2023 aus der Münchner Isarphilharmonie ist auf der CD zu hören.
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Simon Rattle Dirigent
BR-KLASSIK CD 900217
Total Time: 82’02 Minuten
3D audio release in DOLBY ATMOS