home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Hier war mein Haus“ – Eine Ausstellung im Pulverturm in Lemberg/Lwiw

Vom Hineinbomben in die Zweidimensionalität – Ukraina kommt nicht von Ukryttja – Luftschutzkeller!

Von Christian Weise

Bummm, Bummm, macht es zweimal kurz hintereinander. Ähnlich wie beim antiken biblischen Zeugenrecht, das immer noch bei den Zeugen Jehovas zu sehen ist, die einen zu zweit aufsuchen, hält sich die ukrainische Abwehr an das Zweierprinzip. Luftalarm hatte es gerade mal zwei Minuten zuvor gegeben. Die Raketen brauchen von der Krim nicht lange. Nach Kyjiw aber länger als nach Charkiw, wo nach dem Abfeuern in Belgorod gerade mal Zeit bleibt, sich hinter – ebenfalls zwei – Mauern zu verbergen.

Pulverturm von 1522 im Stadtzentrum von Lemberg als Ausstellungsraum, Foto: Christian Weise

Von den Luftangriffen mit Schacheds („Märtyrern“ – ?!) und Kindschals („Dolchen“ – !!) liest und sieht man immer wieder in Deutschland. Eine rechte Vorstellung vermag man sich kaum zu machen, weder vom Alltagsleben noch von den Gefahren.

In Lemberg, 500 Kilometer im Westen, ist die Lage weithin ruhig und sicher, auch wenn in den letzten Tagen wiederholt die Energieversorgung im Gebiet angegriffen und stark zerstört wurde. Diese Umspann-Anlagen liegen in der Gegend der Stadt Stryj, sind also über 50 Kilometer von Lemberg entfernt. Wohnungen sind in Lemberg durch den Krieg bislang nur äußerst selten zerstört worden. Die Lemberger kennen die Zerstörungen ziviler Gebäude also ebenfalls fast nur aus dem Fernsehen, Internet oder von den Erzählungen der Flüchtlinge aus der Ostukraine.

„Geht Ihr immer alle in den Keller“?, fragte die Frankfurter Freundin. „Niemand“, erwidere ich. Die Kellerstufen wären inzwischen abgenutzt. „Als Kyjiw eine Woche jeden Tag angegriffen wurde, liefen schließlich die Menschen wie Zombies herum. Niemand schlief mehr ruhig.“, erzählte eine andere Freundin, die nur 500 Meter von der Präsidentenadministration (und wer weiß, vielleicht auch den Abwehreinrichtungen – so etwas fragt man nicht) in Kyjiw lebt. Im obersten Stockwerk.

Mit Panoramafotografien und VR-Brillen versucht nun eine Gruppe junger Ukrainer, Eindrücke von der Zerstörung vor allem ost- und südukrainischer Städte zu vermitteln. Als Ausstellungsraum wurde der Pulverturm von 1522 im Stadtzentrum gewählt. Letzten Herbst fand hier das 30. Lemberger Book Forum statt. Das ganze Projekt ist nichtkommerziell.

„Hier war mein Haus“ – so der Titel der Ausstellung. Normalerweise führen wir Freunde oder Bekannte an Orte, und sagen: „Hier war ich einst zuhause“. Jetzt aber geht es um Zerstörungen.

Zu Anfang der Ausstellung dürfen Besucher sich verorten: „Wo war ich am Tag des Angriffs am 24. Februar?“ Taras Volyanuk, Autor des Projekts sowie auch der Kyjiwer Fotograf Dmytro Mylyshev waren vermutlich beide damals in der ukrainischen Hauptstadt. Fäden verbinden damalige und jetzige Aufenthaltsorte von Besuchern.

Dokumentation des ersten und des zweiten Kriegsjahrs, Foto: Christian Weise

Seit dem Angriff der russischen Armee sind mehr als zwei Jahre vergangen. Auf Tafeln werden das 1. und das 2. Kriegsjahr in Stichpunkten anhand von 13 „Highlights“ und Orten dokumentiert. Eine lange Chronologie!

In den Lemberger Buchläden kann, wer will, die Reden Selenskijs, monatsweise vom 1. Kriegsjahr an arrangiert, kaufen.  Vom 2. Kriegsjahr werden bereits jeweils drei Monate zusammengefasst. Chronologien sind angehängt, Chronologien – bereits ab 2014 – gibt es als separate Bände. „Wie viele Jahre mögen es noch werden?“, fragt sich der Betrachter ratlos.

Farbige Fotos stellen Vernichtungspanoramen vor Augen. Vernichtung von industriellen Bauten, Vernichtungen von Wohnhäusern. Nur findet hier kein Rückbau statt, bei dem Materialien klima- und ökokorrekt separiert und der Wiederverwendung zugeführt werden.

Von oben gesehen: Trümmerwüsten, Foto: Christian Weise

Luftaufnahmen von Dächern ergänzen das Ganze. Die Besucher schauen von oben auf sie herab – als wären sie Raben – oder Raketen. Trümmerwüsten, Pompei. Aber menschengemacht.

Nicht nur das Theater von Mariupol wurde zerstört, wie den meisten bekannt ist, sondern ebenso etliche andere ukrainische Kultureinrichtungen quer durch das Land, vor allem aber im Osten und Süden der Ukraine.

Apokalyptische Szenarien – das Kulturhaus von Cherson-Korabel, Foto: Christian Weise

Gespaltene Wohnhäuser, erinnern an apokalyptische Darstellungen aus der Kunstgeschichte, Bruegels „Turmbau zu Babel“, der zum Betrachter hin – die künftige Zerstörung vorwegnehmend – irgendwie angefressen ausschaut, kommt einem in den Sinn.

Das zerstörte Straßenbahndepot sieht bizarr-schön aus, eine Straßenbahn scheint in den Himmel abheben zu wollen.

Ein zerstörtes Straßenbahndepot in Saltivske, Foto: Christian Weise

Die Swjatohirsker Lawra in der Ostukraine: „Die Mönche des Klosters werden von den Ukrainern mit dem Tod bedroht, wenn sie nicht ihre Kirchenzugehörigkeit wechseln“, hatte ein Freund der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats oder gar höherer Kräfte noch Anfang März 2022 in Deutschland verbreitet und um Hilfe gebeten. Geschosse der russischen Armee zerstörten wenig später Gebäude der Lawra, die inzwischen Zufluchtsort von mehreren hundert Menschen geworden war.

Vom utopischen Traum zum Alptraum (Swjatohirska Lawra), Foto: Christian Weise

Ein eigener Raum gilt dem Extrem-Transportflugzeug „Mrija“ – Traum. Cockpit und Teile des Rumpfes sind zerstört, geblieben nur die Flügel. Vom Traum, durch Rekorde den Westen zu überflügeln, ist man dank der „brüderlichen“ Nachbarn in der Ukraine nun gelandet beim Alptraum!

„Der Sturz des Daedalus“?, Foto: Christian Weise

Auf ausführliche Texte verzichtet die Ausstellung. Die Fotos sprechen für sich. Ich erinnere mich an SF-Literatur, die ich Ende der 70er Jahre las. Menschenleere Städte, in denen weit unterhalb der Oberfläche noch Leben ächzt oder kriecht. An Hieronymus Bosch, wo die meisten Menschen nicht gerettet werden, sondern von Teufeln gefoltert.

Verlassen blicken wir in einen Bunker. Der Boden bedeckt von Hinterlassenschaften. Wohin sind sie wohl entwichen? Warum haben sie all die Reste zurückgelassen?

Was aber bleibet…? Hier stiften es nicht die Dichter, Foto: Christian Weise

Eine Liste nebendran auf schwarzem Hintergrund erinnert aufgeschlüsselt nach den einzelnen Oblasten, wie oft Menschen in die Ukryttja, den Luftschutzkeller, zu gehen aufgerufen wurden. In der Oblast Dnipropetrowsk 2845-mal, Zaporischschja 3501-mal, Donezk 3907-mal. In der Lemberger Oblast waren es nur 459-mal, in Kyjiw 871-mal bzw. in der Kyjiwer Oblast 886-mal. Man könnte meinen, der Name „Ukraine“ komme etymologisch von „Ukryttja“, Luftschutzkeller.

Übersichtstafel mit Auflistung der Einschläge, Foto: Christian Weise

Schwerpunkte der Ausstellung:

Kyjiw, Tschernihiw, Charkiw-Saltiwka, Mykolajiw

Auf der Seite https://360war.in.ua/en können wir die Ausstellung, die sich im Pulverturm auf drei Stockwerken befindet, virtuell besuchen. Die Ansicht lässt sich mit der Mouse beschleunigen, wenn auch nicht auf die Geschwindigkeit der Hyperschallraketen. Die Ansichten werden so oder so treffen.

Geht man auf der Seite virtuell nach Lwiw, lassen sich auf der Karte aus verschiedenen Perspektiven die zerstörten Wohngebäude betrachten. Inzwischen sind die Gebäude nach mehr als einem halben Jahr fast wieder vollständig instandgesetzt. Sie liegen an einer wichtigen Ausfallstraße, der Stryjsker Straße, an der sehr viele Menschen vorbeikommen, jeder, der zum Busbahnhof fährt.

„Es war ein wundervoller Stadtbezirk, die Unterstadt…“, erklärt ein Mann aus der Ostukraine auf einem Video. Verloren steht er auf der Straße. Hinter ihm zerstörte Gebäude.

„Es war einmal…“ – ein wunderschönes Viertel, Foto: Christian Weise

Kurz bevor ich die Ausstellung verlasse, Lärm. Renoviert hier jemand etwas? Rauch schwebt plötzlich zwischen den Fotowänden. Ich verstehe nichts. Ich denke an die Kiewer Knallgeräusche, stelle mir Feuerprasseln vor: Sirenen, Herumhasten von Feuerwehrleuten und Sanitätern, Gestank, Angstschweiß. Schlaflose Nächte.

Woher jeweils der Qualm kommt, bleibt oft mysteriös, Foto: Christian Weise

Die täglichen Luftangriffe machen die Häuser, die Städte der Ukraine platt. Aus Dreidimensionalität wird Zweidimensionalität. Ein Alptraum!

Die Ausstellung „Hier stand mein Haus“ läuft noch bis zum 17. April im Pulverturm Lwiw. Die Panoramafotografien des Fotografen Dmytro Malyshev lassen sich über die Webseite der Ausstellungsmacher betrachten:

https://360war.in.ua/en

https://unbreakableness.360war.in.ua/

 

Comments are closed.