Internationale Tage Ingelheim zeigen „HOME SWEET HOME“
Das Zuhause im Spiegel der Kunst
Von Hans-Bernd Heier
Mit der Ausstellung „HOME SWEET HOME. Zuhause sein von 1900 bis heute“ wird erstmals in der 65-jährigen Geschichte der Internationalen Tage ein zeitlicher und auch gattungsübergreifender Bogen von 1900 bis in die Gegenwart gespannt. Die Schau im Kunstforum Ingelheim präsentiert auf spannende Weise das alltägliche Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause mit seinen Licht-, aber auch Schattenseiten in fünf Themenräumen
Pierre Bonnard „Frau in der Badewanne“, Farblithografie, 1942; Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen
Über hundert Exponate – Papierarbeiten, Gemälde, Fotografien, Videos und Skulpturen – zeigen Erwachsene und Kinder im heimischen Umfeld. Die Werkliste umfasst Arbeiten von renommierten Künstlerinnen und Künstler, u.a. von Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker und den Brücke-Künstlern bis hin zu Thomas Wrede, Stefan Kürten, Herlinde Koelbl, Anja Niedringhaus, Norbert Tadeusz, Patricia Waller oder Csaba Nemes.
Norbert Tadeusz „Selbst im Spiegel rasierend“, 1970, Öl auf Leinwand; Norbert Tadeusz Estate/Petra Lemmerz; © Estate Norbert Tadeusz
Die eigenen vier Wände sind für die meisten Menschen Mittelpunkt des Lebens und Refugium. Den privaten Rückzugsort positiv erleben zu können, hat in allen Lebensphasen eine herausragende Bedeutung: Hier sind die meisten aufgewachsen, hier verrichten sie ihre Arbeit im Haushalt, am Schreibtisch oder im Atelier. Hier verbringen sie ihre Freizeit, erfahren Glück, Liebe, Schutz und Geborgenheit. Hier kann man genesen und im Idealfall sterben.
An dem eigentlich geschützten Ort müssen aber auch nicht wenige Menschen Not erleben oder erfahren Bedrohung und Gewalt. Anhand erlesener Werkbeispiele zeigt die von der Kunsthistorikerin Dr. Katharina Henkel, der neuen Leiterin der Internationalen Tage, kuratierte Schau neben den positiv Seiten des Zuhauses auch deren Schattenseiten.
Paula Modersohn-Becker „Intérieur mit Säugling in den Armen“,1904, Kohle, Privatsammlung; courtesy Kunsthandel Wolfgang Werner, Bremen/Berlin; Foto: Jürgen Nogai, Bremen
Den Auftakt der facettenreichen Schau bilden Werke mit Szenen aus der Privatsphäre. Diese zeigen Liebespaare, Frauen und Männer bei der Körperpflege, beim Ankleiden, beim Sich-Zurechtmachen sowie bei der Selbstinszenierung vor dem Spiegel. In seinem privaten Bereich kann sich jeder frei fühlen und unbeobachtet entfalten. Werkbeispiele von Edgar Degas, Pierre Bonnard, Félix Vallotton oder den Brücke-Künstlern wie auch Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart zeigen das Zuhause als den Ort, an dem sich die Porträtierten nackt und unbehelligt bewegen und sich ganz um ihre persönlichen Belange kümmern.
Ausstellungsansicht; Foto: Hans-Bernd Heier
Das Zuhause ist auch Ort der Familie und Geborgenheit. Nichts prägt uns so intensiv wie die eigene Familie, kein anderes soziales Umfeld hat einen solch nachhaltigen Einfluss auf die eigene Persönlichkeit und auf das Verhalten anderen Menschen gegenüber: Hier lernen wir den Umgang miteinander, das Einstehen füreinander und die Sorge umeinander. In der Familie erfahren die meisten Menschen von klein auf Liebe, Nähe, Zuwendung und Fürsorge, die sie dann selbst weitergeben. Werkbeispiele von Paula Modersohn-Becker, Conrad Felixmüller, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Edvard Munch oder Beate Höing zeigen berührende Facetten der Geborgenheit.
Sind es anfänglich die Eltern, die ihre Kinder beim Großwerden begleiten, zeigen andere Arbeiten die umgekehrte Rollenverteilung: Die Fürsorge, Obhut und Pflege der Jüngeren gilt hier den Älteren. Weitere Darstellungen thematisieren das Sterben im Zuhause. Früher starben die Menschen zumeist im eigenen Heim. Heute endet das Leben vieler jedoch im Krankenhaus oder Hospiz, wenngleich sich jeder Zweite in Deutschland wünscht, zuhause im Kreis der Familie in Würde sterben zu können.
Eleanor Macnair „Nan, one month after being battered“ (1984) by Nan Goldin Giclée-Print, 2015/Photography rendered in Play-Doh; Privatsammlung; © Eleanor Macnair
Der Ort der Geborgenheit kann jedoch auch zum Ort der Bedrohung mutieren, wie in Raum 3 zu sehen ist. Werke von Max Beckmann, Pablo Picasso, Käthe Kollwitz, Herlinde Koelbl, Patricia Waller, Eleanor Macnair oder Csaba Nemes belegen eindrücklich, dass der Wunsch nach friedlichem und glücklichem Zusammenleben und Lebenswirklichkeit bisweilen weit auseinanderdriften. Das Zuhause kann von innen heraus zu einem Ort werden, an dem es sich beispielsweise wegen ausgeübter Gewalt oder aufgrund ökonomischer Faktoren nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht leben lässt.
Ebenso können Einwirkungen von außen eine massive Bedrohung darstellen, die dazu zwingen, das Refugium aufzugeben. „Wenn sich Menschen durch politischen Terror und daraus resultierenden Repressalien, durch gesellschaftliche Ächtung, aber ebenso durch ökonomische wie auch ökologische Missstände so an den Rand ihrer Existenzmöglichkeit gedrängt fühlen, dass sie sich gezwungen sehen, ihr Zuhause zu verlassen. Ihr größtes Gepäckstück dürfte dann die Hoffnung sein, an einem anderen, fremden Ort eine glückliche Existenz aufbauen und ein neues Zuhause für sich und ihre Lieben finden zu können“, erläutert Katharina Henkel.
Ulrike Theusner „Alexis“, 2019, Pastell auf Papier; DROEGE ART COLLECTION; © Ulrike Theusner
Für viele ist das Zuhause Ort der Freizeit und des Müßiggangs. Lange war der Begriff Müßiggang negativ besetzt, wurde er doch als Inbegriff des Nichtstuns oder gar der Faulheit verstanden. Inzwischen ist jedoch hinlänglich bekannt, dass aus dem Müßiggang heraus fantastische Ideen erwachsen, große Erkenntnisse gewonnen werden und kreative Schübe entstehen können. Mit ihm gehen auch Freizeitaktivitäten wie Geselligkeit, Ertüchtigung oder Weiterbildung einher. Dies zeigen u. a. Arbeiten von James McNeill Whistler, Paul Kayser, August Macke, Walter Gramatté oder Ulrike Theusner, die den Blick auf den Zeitvertreib richten, wie er gerne zuhause praktiziert wird: musizieren, spielen, lesen, zusammen sein oder ausruhen.
Erich Hartmann „Die Büglerin“, 1927, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle; © Hamburger Kunsthalle/bpk; Foto: Christoph Irrgang
Auch die Arbeit zuhause ist im Wandel. Für viele gibt es wohl kaum einen frustrierenderen Arbeitskreislauf als den der Hausarbeit, bei dem wir – am Ende angekommen – gleich vorn wieder anfangen können. Die Haushaltsarbeit strukturiert jedoch auch den Alltag und verleiht den eigenen vier Wänden die so wohlige Vertrautheit und den Bewohnern das Gefühl von Sicherheit.
Neuerdings zieht noch zusätzlich die Büroarbeit im Homeoffice ein. „Beruf und Privatleben lassen sich für die meisten zuhause gut trennen. Das Kunstschaffen speist sich hingegen aus dem Leben, weshalb bei Künstlerinnen die Grenze zwischen Arbeits- und Lebensraum fließend, und häufig untrennbar ist“, so die Kuratorin. Einblick in die Arbeit im Haushalt oder am Schreibtisch sowie ins eigene Atelier geben beispielsweise Werke von Corinna Schnitt, Erich Hartmann, Thomas Wrede, Johannes Hüppi und Maurice Denis.
Seit dem letzten Sommer hat Dr. Katharina Henkel die Leitung der Internationalen Tage Ingelheim inne. Mit HOME SWEET HOME kuratiert die Kunsthistorikerin ihre erste Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage. Sie möchte künftig wieder verstärkt international ausgerichtete Ausstellungen konzipieren. Gattungsübergreifend will sie Themen aufgreifen, die bei hoher Qualität der Exponate eine breite Besucherschicht ansprechen sowie manche Neu- oder Wiederentdeckung ermöglichen. Mit innovativen Vermittlungs- und Mitmach-Projekten möchte Henkel besonders Familien mit Kindern sowie Jugendliche ansprechen.
Zu der beindruckenden Themenschau, die bis zum 30. Juni 2024 im Kunstforum Ingelheim gezeigt wird, ist ein exzellenter Katalog mit Essays von Jakob Hein und Daniel Schreiber erschienen; 176 Seiten, 140 farbige Abbildungen, Preis: 28 € in der Ausstellung. Die Ausstellung wird zudem umrahmt von einem vielfältigen Begleitprogramm.
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