Von Erhard Metz
Bis auf den heutigen Tag ist es ungebrochen populär und beliebt: das sechs Kantaten umfassende (und deshalb nach Bachs Praxis an sechs verschiedenen Tagen zu spielende) Weihnachtsoratorium des grossen Komponisten, an Weihnachten sowie an und nach Neujahr 1734/1735 in Leipzig uraufgeführt. Heute, am 27. Dezember, wäre somit nach dem ersten und zweiten Weihnachtstag die dritte Kantate an der Reihe gewesen, die vierte folgte sodann am Neujahrstag. Heute werden meist die drei ersten (und dem breiten Publikum bekannteren) Kantaten zusammenhängend bereits in der Adventszeit aufgeführt, auch von sozusagen semiprofessionellen Orchestern und Chören, denn die Gesangs- und Chorpartien bieten keine übermässigen Schwierigkeiten.
Anders verhält sich dies jedoch bei den Trompetensätzen, die in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung – sehr zu Unrecht – weniger im Rampenlicht als die Sängerinnen und Sänger stehen: Sie verlangen, insbesondere die „halsbrecherische“ erste Stimme, höchste bläserische Fertigkeiten und Spieltechniken, über die heute selbst Berufstrompeter im allgemeinen nicht mehr zu verfügen brauchen. Gespielt werden diese Partien, jedenfalls in Live-Konzerten, deshalb durchweg auf der vierventiligen, jedoch eher klangarmen Hoch-Trompete, um sich nicht mit Patzern vor dem Publikum zu blamieren. Vor der Zeit der Hoch-Trompete spielten die Instrumentalisten solche Werke auf der eine Oktave tieferen, klangvoluminöseren dreiventiligen „Normal“-Trompete in D-Stimmung, ein in Live-Aufführungen hinsichtlich der Intonationssicherheit durchaus risikoanfälliges Unterfangen, was nicht immer auf das Perfekteste gelang. Um ein Vielfaches noch schwieriger und problematischer für heutige Bläser ist hingegen das Spiel auf der ventillosen, abermals eine Oktave tiefer liegenden, gegenüber der Normaltrompete also doppelt und der Hoch-Trompete viermal so langen Barocktrompete, wie sie zu Bachs Zeiten allein zur Verfügung stand. Dass diese Partien auf den damaligen Instrumenten von den (wenn auch nicht zahlreichen) Meistern ihres Fachs intonationssicher ausgeführt wurden, beweist bereits die Tatsache, dass der anspruchsvolle Bach sie überhaupt komponiert hat.
Umso bemerkenswerter ist es, wenn heute wagemutige Ensembles die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums live in öffentlichen Konzerten mit drei ventillosen Barocktrompeten zur Aufführung bringen – die Klangschönheit dieser Instrumente rechtfertigt die dabei kaum vermeidbaren Intonationsrisiken. Verwendet werden Neubauten, die zur Intonationskorrektur mit Grifflöchern versehen sind, welche aber keinesfalls die Funktion eines Ventils erfüllen. Die wahre Königsklasse allerdings sind die wirklichen Naturtrompeten ohne Grifflöcher – es gibt Trompeter wie die Musikprofessoren Edward H. Tarr oder Jean-François Madeuf (Nachfolger des ersteren an der berühmten Schola Cantorum Basiliensis), die die barocke Trompetenliteratur auch auf Originalinstrumenten fehlerfrei und in einzigartiger Klangschönheit bewältigen.
Grote of Sint-Vituskerk in Naarden (1380-1479); Bildnachweis CrazyPhunk at Dutch Wikipedia/wikimedia commons, GFDL
Im folgenden die sechs Kantaten (in verhältnismässig guter Bild- und Tonqualität) von AVROTROS KLASSIEK auf Youtube veröffentlicht, im Dezember 2012 mit ventillosen Neubau-Barocktrompeten live aufgeführt vom Combattimento Consort Amsterdam und der Capella Amsterdam unter der Leitung von Jan Willem de Vriend in der Grote Kerk in Naarden.
Leider werden uns die Namen der drei hoch qualifizierten wie mutigen Solo-Trompeter unverständlicher Weise nicht verraten.
Kantate Nr. 1 „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage“ (Erster Feiertag)
Kantate Nr. 2 „Und es waren Hirten in derselben Gegend“ (Zweiter Feiertag)
Kantate Nr. 3 „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“ (Dritter Feiertag)
Kantate Nr. 4 „Fallt mit Danken, fallt mit Loben“ (Neujahrstag)
Kantate Nr. 5 „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ (Erster Sonntag nach Neujahr)
Kantate Nr. 6 „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“ (Epiphanias)
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