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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Wandteppiche von Noa Eshkol in den Opelvillen

Eine fast schon sensationelle Entdeckung

Einst zogen wir mit einigen Mitschülern, als kleine Pimpfe in der gymnasialen Unterstufe, befeuert von einem charismatischen, Begeisterung wie Abenteuerlust weckenden Lehrer, mit Eimerchen und Schaufel los auf Schatzsuche: Versteinerungen, gar Ammoniten galt es zu finden, aber irgendwie geisterte die Fantasie weiter – hin zu einer unbestimmten Vorstellung von einem sagenumwobenen, wenngleich existierenden Schatz. Nun, weder einen solchen noch einen anderen Schatz haben wir, damals jedenfalls, gehoben, aber dann doch im späteren Leben.

Auf Schatzsuche, wenn auch bereits einer verheissungsvollen Fährte folgend, begab sich Beate Kemfert, promovierte Kunsthistorikerin, Kuratorin und in Wort wie Schrift begabte Kunstvermittlerin, Stiftungsvorstand der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim. Sie fand, auf Recherchereise in Israel, wonach sie suchte: die Wandteppiche („Wall Carpets“) von Noa Eshkol. Kein Zweifel: wahrlich ein Schatzfund. Ausgestellt derzeit in den Rüsselsheimer Opelvillen. Zum ersten Mal sind 48 dieser fantastischen Arbeiten in einer Einzelausstellung ausserhalb Israels zu sehen.

Der erste Teppich, 1973, 210 x 137 cm

Noa Eshkol, 1924 in Kvutzat Degania B am See Genezareth, einem der ersten Kibbuzim Israels, geboren, Tochter des dritten israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol, ist in Deutschland, wenn überhaupt, als Tänzerin und Choreografin bekannt. Sie studierte von 1943 bis 1948 Tanz an der Tehila Ressler School, Tel Aviv, sowie an Tanzschulen in Manchester und London, und kreierte einen neuen, minimalistischen Tanzstil, dessen Choreografie allein auf dem Rhythmus eines Metronoms basierte. Gemeinsam mit Avraham Wachman, einem Architekturprofessor an der Technischen Universität in Haifa, entwickelte sie 1954 ein Notationssystem für den Tanz. Übergesiedelt nach Holon, einem Vorort von Tel Aviv, gründete sie die „Noa Eshkol’s Chamber Dance Group“ und die „Movement Notation Society“. Sie lehrte als Professorin vorübergehend an verschiedenen Tanz- und Theaterschulen in Tel Aviv und Jerusalem sowie zeitweise in Springfield, Illinois, kehrte jedoch zurück in ihr Studio in Holon, wo sie von der Öffentlichkeit zurückgezogen lebte.

Fenster zum Meer, 1975, 165 x 138 cm

Bis zu ihrem Tod im Jahr 2007 arbeitete Noa Eshkol in ihrem Studio mit denselben Tänzerinnen und Tänzern. Ihre Tanzcompagnie folgte streng dem Eshkol-Wachman’schen Notationssystem, das noch heute in der „Movement Notation Society“ und in der „Noa Eshkol Foundation For Movement Notation“ tradiert wird. Diese Stiftung schliesslich verwaltet auch Noa Eshkols reiches Erbe an Wandteppichen.

Wandteppiche einer Tänzerin und Choreografin – wie kam es dazu?

Es begann mit dem Jom-Kippur-Krieg Anfang Oktober 1973, als ägyptische und syrische Streitkräfte am höchsten jüdischen Feiertag überraschend auf dem Sinai und den Golan-Höhen vordrangen. Ein für Eshkols Compagnie wichtiger Tänzer wurde umgehend zum Militärdienst einberufen, der Proben- und Tanzbetrieb kam zum Erliegen. Da geschah etwas Sonderbares:

Noa Eshkol trennte zunächst ihre alte, nicht mehr benötigte Kleidung auf und legte sie, zusammen mit vorgefundenen anderweitigen Stoffresten, zu einem ersten Teppich zusammen. Weitere Teppiche folgten. Die Mitglieder ihrer Compagnie sammelten fortan Stoffreste aller erdenklichen Art, von Uniformstücken bis zum Palästinensertuch, auch Verschnitte aus Schneidereibetrieben oder der industriellen Textilherstellung. Eshkol komponierte, an den probefreien Wochenenden allein in ihrem Studio, bis zu ihrem Lebensende all diese Reste zu kunstvollen Tapisserien, die sie mit Nadeln fixierte. Die Tänzerinnen und Tänzer wie auch Freunde nähten anschliessend diese Gebilde, exakt gemäss Eshkols Fixierung, mit Kreuzstichen zu den Teppichen zusammen, die wir heute sehen.

Trauerteppich (nach dem Massaker in der Ma’alot Schule), 1974, 170 x 169 cm

Noa Eshkol folgte auch bei ihrer Arbeit an den Teppichen – wie bei ihren Tänzen – strengen Regeln: ausser zum Auftrennen zusammengenähter Textilien verwendete sie niemals eine Schere, schnitt niemals Stoffreste zu, sondern stellte ihre Teppiche aus den vorgefundenen Formaten, zum Teil damit mehrfach überlappend zusammen. Dies geschah mit zunehmender Leidenschaft, ja Obsession.

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↑ König Mooky der Erste, 1980, 175 x 152 cm
↓ Tante Leahs Baum (Baum im Hinterhof), 1980, 250 x 140 cm

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Porträt des Königs Saulus (Porträt eines traurigen Königs), 1980er Jahre, 185 x 145 cm; Espacio 1414, Berezdivin Collection Puerto Rico

Die Liste der Materialien ihrer ersten drei Teppiche – sie datieren auf das Jahr 1973 – liest sich wie aus einem Lehrbuch althergebrachten Schneiderhandwerks: Wolle, Baumwolle, Baumwollbatist, Baumwollgabardine, Seidentwill, Seidenrips, Kunstseidenkrepp, Kunstseidensatin, Kunstseidentaft, Jersey, Köper, Bouclé mit Effektgarnen, Perkal, Spiegelsamt, Kreppgewebe – den heutigen Generationen im Zeitalter der Billigstware aus Bangladesch weitgehend unbekannte Begriffe.

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Der Hula-See, 1988, 203 x 255 cm

Ein Zusammenhang zwischen Noa Eshkols Tanz und choreografischer Notation und ihrer Teppichkunst mag nur auf den ersten Blick als schwer vorstellbar erscheinen; bei näherem Hinsehen erschliesst sich dem Betrachter ohne weiteres eine Verbindung. Denn auch die Motive, die Komposition der Muster und Farben bei den Teppichen folgen, bei aller Inspiration und Intuition und bei allem mitunter verschwenderisch erscheinenden, obsessiv-rauschhaften Gestaltungsdrang einer Choreografie. Diese textilen Werke waren nie für eine öffentliche Präsentation bestimmt. Entsprechend hat sie die kunsthistorische Rezeption bislang noch selten bis gar nicht wahrgenommen oder überhaupt als kanonisierbar anerkannt; das wird sich mit dieser Ausstellung wohl ändern. Einige dieser Arbeiten sind inzwischen bereits auch auf dem Kunstmarkt in Erscheinung getreten.

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Sonnenuntergang im Edom-Gebirge, 1989, 231 x 248 cm

Mal sind die Tapisserien durchaus gegenständlich, mal erscheinen sie abstrakt, immer malerisch. Mitunter bilden sie annäherungsweise und indirekt menschliche Körperteile ab, wenn etwa Ärmel oder Hemdkragen Verwendung finden. Wiederholt finden sich Pflanzen- und Tierdarstellungen unter den Motiven, ebenso Landschaften, aber auch alttestamentliche Personen, Stoffe und Szenen. Die meisten der Arbeiten sind erzählerisch, unterstützt auch durch eine entsprechende Titelgebung.

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↑↓ Rachels Grabstätte (Bethlehem), 1990er Jahre, 116 x 182 cm; Totale und Detail

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Gelber Baum, 1998, 256 x 252 cm

Was nun macht den besonderen Reiz dieser Teppiche aus, was nimmt uns bei ihrem Anblick derart gefangen?

Es ist die überwältigende, schier in das Unendliche ausgreifende Farben- und Formenfülle von malerischer Qualität, die Leidenschaft, die Obsession der Künstlerin, die sich in solcher Fülle niederschlägt und die sich auf uns Betrachtenden überträgt. Einer solchen Besessenheit begegnen wir in vielen heute hochgeschätzten Werken der sogenannten Aussenseiter-Kunst.

Es ist zum anderen die Tatsache, dass es sich bei den Textilien um Reste handelt, die im industriellen Prozess als Abfälle keine Wertschätzung mehr erfahren haben und die nun – etwas pathetisch formuliert – mit ihrem Aufgehen in einem Kunstwerk geadelt und vor Vernichtung und Untergang bewahrt, mithin in eine höhere Stufe des Seins überführt wurden. Es ist die Idee der – aus heutiger Sicht auch umweltfreundlichen – Wiederverwendung, in der vielleicht auch eine gewisse Achtung gegenüber dem Material ihren Ausdruck findet.

Es ist ferner die besondere Anmutung des stofflichen Materials, die von ihm ausgehende „Wärme“, die Nähe zum Menschen, den es in dessen Nacktheit schützend umgibt.

Und es ist schliesslich der – sich bereits in der Idee der Kibbuzim findende – gemeinschaftliche Arbeitsprozess: Noa Eshkol komponiert die Materialien zum Kunstwerk, ihre Tänzerinnen, Tänzer und Freunde vernähen die einzelnen Teile zum Ganzen.

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Palästinische Vase im Fenster, 1999, 206 x 190 cm

Von besonderer Faszination erscheinen uns Noa Eshkols letzte, vor ihrem Tod entstandene Arbeiten. Sie zeugen einerseits – wie „Innenansicht III“ – von einer sehr femininen, ungebrochenen Lebensfreude. Der zweite Teppich strahlt eine grosse, sakrale Würde und Erhabenheit aus – in Vorahnung des nahen Todes?

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Die beiden letzten Teppiche Noa Eshkols vor ihrem Tod:
↑ Innenansicht III (In memoriam), 2007, 148 x 195 cm
↓ Innenansicht II (In memoriam), 2007, 122 x 188 cm

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„Noa Eshkol – Wall Carpets“, Opelvillen Rüsselsheim, bis 23. März 2014

Abgebildete Werke © The Noa Eshkol Foundation for Movement Notation, Holon, Israel und courtesy neugerriemschneider, Berlin; Fotos: FeuilletonFrankfurt

→ Kunstführungen für Menschen mit Demenz in den Opelvillen Rüsselsheim

 

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