Über die Veränderung der Zeitungslandschaft in der Ukraine
Kebab statt Zeitungen – Vor allem Internet, Frauenillustrierte und Kreuzworträtsel
Eine Recherche von Christian Weise
„Dort im Himmel!“, weist verschmitzt blinzelnd die Zeitungsverkäuferin mit der Hand Richtung Sonne. „Wo kann ich ukrainische politische Zeitschriften kaufen, „NV“, „Korrespondent“, hatte ich sie gefragt. Unweit der Zeugen Jehowas, die „beim Pferd“, also dem Denkmal von König Danylo von Galizien, stehen, verkauft sie seit Jahr und Tag hier Zeitungen.
Zeitungsstand in Lemberg/Lwiw, Foto: Christian Weise
Die Zeitungslandschaft in der Ukraine hat sich vollkommen verändert, ist hier bereits fast vollständig ins Internet verschwunden. Vor 29 Jahren bin ich mit dem Dissidenten und damaligen Vorsitzenden des ukrainischen PEN-Clubs Jewhen Swerstjuk noch durch Kyjiw gelaufen. Jewhen kaufte eine Zeitung am Maidan Richtung Sophienkathedrale. Für meine eigenen Recherchen sandte er mich zu einem großen Zeitungskiosk am Kontraktova Ploschtschad. Kebab kann man heute noch dort kaufen.
Mein Versuch, bei der Post oder wenigstens am Abend noch am Kyjiwer Bahnhof eine politische Zeitschrift zu erwerben, ging ebenso fehl. Früher bis in die Corona-Zeit vertrieb der Buchladen „Je“ (Gibt’s) die Zeitschrift „Ukrainische Woche“, wöchentlich auf Ukrainisch und einmal pro Monat auf Englisch. Erst verschwand die „Ukrainian Weekly“, dann die ukrainische Ausgabe.
„Typographie und Papier sind zu teuer geworden“, sagt mir Jurij Romanyschyn, der Leiter der Periodika-Abteilung der Stefanyk-Bibliothek, einem Äquivalent der beiden Staatsbibliotheken in Deutschland. Später erzählt mir Jura, dass sie eine unglaublich große Fülle alter österreichischer und polnischer Zeitungen in ihrem Bibliotheksbestand haben. „Haben die Polen die Zeitungen damals nicht mit nach Breslau mitgenommen?“, frage ich? „Nein, Handschriften, alte Drucke usw.!“ „Habt Ihr deutsche Zeitschriften und Zeitungen?“, frage ich. „Der Spiegel, Stern“. „Prima – irgendwann kann ich Euch meine Sammlung der ZEIT vermachen, ab ca. 1980 liegt sie im Keller.“
„Schau, das hier kannst Du mitnehmen!“ Jura drückt mir zwei Zeitungen in die Hand. Plötzlich habe ich noch eine der letzten Ausgaben des „Holos Ukrainy“, der „Stimme der Ukraine“ in Händen. Am Vortag hat mir Oleksandr Klymenko, der über 30 Jahre für diese Zeitung als Fotograf gearbeitet hat, außerdem auch eine Reihe von Jahren mit Martina Helmerich, der Korrespondentin des Spiegels, traurig im Café gegenüber der Märtyrerwand des Kyjiwer Michael-Klosters erzählt, dass die Zeitung in der vorigen Woche ihr letztes gedrucktes Exemplar publiziert hat. Außerdem gibt mir Jura noch eine Ausgabe von „Ukraina moloda“, „Junge Ukraine“.
„Die Zeitungs- und Zeitschriftenkultur ist hier beendet“, hatte mir ein Kenner der Kyjiwer Szene gestern gesagt. „Debatten – gibt es nicht“.
„Geht nicht – gibt es nicht“, denke ich bei meiner Recherche in Lwiw. In der Post, die früher viele Zeitungen verkaufte, hat sich das Angebot auf seichte Zeitungen verdünnt. Kreuzworträtsel-Zeitungen gibt es in verschiedenen Varianten, das macht ein Drittel der Zeitungen aus. Fragmentiertes Wissen. Die Broschüre mit allen Angaben für die Abonnements hat sich über die Jahre extrem verdünnt.
Das heutige seichte Angebot, Foto: Christian Weise
Aber dann doch: „Du musst in die Lytschakiwska-Straße gehen!“, sagt Jurij. „Dort an der Ecke gibt es ,Interpres‘, dort sind viele Zeitungen erhältlich, Regionalzeitungen.“ Die politischen Journale indes, aber auch beispielsweise die an die „New York Times of Books“ angelehnte monatliche Intellektuellenzeitschrift „Krytyka“ im Tablet-Format wird heutzutage fast nur noch digital gelesen. Gleiches gilt für die Tageszeitungen. Der ukrainische „Wochenspiegel“, eine analytische Wochenzeitschrift, ist schon vor fünf Jahren ins Internet abgetaucht.
„Die Ukrainer sind uns bei allem immer voraus“, hatte ich einer anderen Kyjiwer Freundin gestern in Bezug auf die hiesige Presselandschaft gesagt. Als Antwort verzog sie den Mund und murmelte, während wir im krymtatarischen Restaurant sitzen, etwas von „Low level“.
Manchmal übersetze ich noch Artikel aus der „Ukrainischen Prawda“, einer Internet-Zeitung, deren Chefredakteurin von der Krym kommt. Aus dem ukrainischen Süden strahlt auf diese Weise die Sonne.
Tageszeitungen
Denʾ (Tag, Kyjiw) https://day.kyiv.ua
Livyj Bereh (Linkes Ufer, Kyjiw) https://lb.ua/
Vysokij zamok (Hohes Schloß, Lʾviv) https://wz.lviv.ua
Wochenzeitung
Dzerkalo Tyschnja (Wochenspiegel, Kyjiw) https://zn.ua/
Zeitschriften
Korrespondent https://ua.korrespondent.net
NV / New Voice https://nv.ua/
Ukrajinskyj Tyschden (Ukrainische Woche) https://tyzhden.ua
Vogue https://vogue.ua/ (nb: Vogue publizierte Spezialausgaben zu ukr. Büchern)
Internet-Zeitungen
Ukrajinska Prawda (Ukrainische Wahrheit, Kyjiw) https://pravda.com.ua
Zachid.net https://zaxid.net
Zbruc http://zbruc.eu
Kulturjournal
Krytyka https://www.krytyka.com
PS: Konträr zum Verschwinden der Presse blühen augenblicklich Buchläden in der Ukraine. Anfang des Jahres wurde in Kyjiw neben dem Rathaus die große Buchhandlung „Sens“ geöffnet – sie hatte bereits Sommer 2023 auf dem Buch-Arsenal ihren ersten Auftritt. Hier und in rund einer Hand voll von Verlagsbuchhandlungen finden quer durch die Ukraine regelmäßig abends Lesungen und Diskussionen statt. Und auch tagsüber sind die Buchläden stets erstaunlich gut besucht von jungen Leserinnen und Lesern, die lebendiger und europäischer ausschauen als viele Jugendliche bei uns.