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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„And this is us. Junge Kunst aus Frankfurt“ im Frankfurter Kunstverein

Textile Bilder, Skulpturen und Imaginationsräume

Ein Beispiel von Petra Kammann

Überzeugende Arbeiten von 11 jungen aufstrebenden Künstlern und Künstlerinnen, die an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt und an der Hochschule für Gestaltung Offenbach studieren oder ihre Ausbildung dort gerade absolviert haben, sind derzeit im Frankfurter Kunstverein zu entdecken: Arbeiten von Benedikt Ackermann, Offert Albers, Rashiyah Elanga, Anita Esfandiari, Pia Ferm, Lisa-Sophie Gehrmann, Jenny Sofie Kasper, Ramon Keimig, Meret Kern, Nassim L‘Ghoul und Sonja Rychkova. Mit ihren eigens für den Frankfurter Kunstverein produzierten Werken zeichnen sie ein vielfältiges Bild der Fragen junger Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer vielschichtigen Identität, an unserer Gesellschaft und nach unserer Zukunft und ihren Räumen. Dabei sprengen sie die Grenzen der traditionellen künstlerischen Genres.

Pia Ferm Capriccio (study), 2023, Handgetufteter Wandteppich. Woll-, Leinen- und Polyestergarn, Polyestergewebe, Textilkleber 225 x 420 cm, Foto: Wolfgang Günzel, Courtesy die Künstlerin

In dieser wirklich starken Ausstellung junger Künstlerinnen und Künstler hat mich eine Arbeit ganz besonders fasziniert: eine Wandtepich-Gemälde-Skulptur-Installation. Vielleicht traf mich diese Arbeit mit besonderer Wucht, weil ich mit dem Fahrstuhl gleich in die vierte, eher abgedunkelte Etage fuhr, um mich von dort aus dann nach unten „durchzuarbeiten“. Aber mein Blick war unmittelbar von einer eigentümlichen Landschaft gefangen. Da musste ich verweilen.

Malt da jemand ein Panoramabild? Eine vom Menschen geschaffene stark konturierte Landschaft in der Schwebe zwischen Abstraktem und Figürlichem, die Erinnerung an eine Stadtlandschaft mit Baustellen? Überhaupt an eine Baustelle oder an einen verlassenen Industriepark ohne Menschen? Neben dieser verlassenen urbanen Stätte bleiben Leerstellen und Rätsel. Aber dann hätte er/sie das Bild doch an die Wand hängen können?! Das wie auch immer entstandene Ensemble einer räumlichen Szenerie kurbelt eigene Assoziationen und Nachdenklichkeiten an.

Rückseite der Arbeit von Pia Ferm, Foto: Petra Kammann

Warum aber diese großformatige Rauminstallation? Will uns da jemand eine Geschichte erzählen? Und welche? Bei näherem Hinschauen entdecke ich mehrere Schichten -transparente und dichte, erhabene und flache, nicht aber etwa Farbschichten, sondern stattdessen aufeinander geschichtete natürlich gefärbte Wolle. Ein Wandteppich also, der wiederum auch transparente Seiten hat. Tritt man hinter das Holzgestell, so ergibt sich ein neues und anderes Farbbild. Also ein Negativ der Vorderseite wie bei der Jacquard-Weberei?

Diese ungewöhnliche Arbeit stammt von Pia Ferm (*1986 im schwedischen Lykesil), die zunächst Druckgraphik und Malerei an der Dômen Artschool in Göteborg in Schweden studiert hat und 2020 ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main (DE) bei Prof. Tobias Rehberger beendete. Seitdem produziert sie Wandteppiche und Marmorskulpturen. Vielleicht hat der ein oder andere auch schon im Frankfurter Portikus, im Hessen-Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden oder in den Opelvillen in Rüsselsheim Pia Ferms ausgestellte Arbeiten dort wahrgenommen. Aber nun hatte sich ja die Pandemie in den entsprechenden Zeiten wie Mehltau über alles gelegt.

Die in ihrer Ausbildung erlernten Techniken kommen Pia Ferm für ihre aktuelle Arbeit jedoch durchaus zugute. Die Künstlerin zeichnet, ist Bildhauerin, arbeitet mit textilen Materialien und mit Marmor. Dabei entstehen ihre Arbeiten offenbar aus dem zeichnerischen Akt, den sie dann in verschiedene Materialien und Praktiken übersetzt. Für die aktuelle Ausstellung im Frankfurter Kunstverein hat Pia Ferm diese großformatige Rauminstallation, dieses skulpturale Textilbild, wohl über Wochen in einer eigens für sie aufgebauten Werkstatt vor Ort erarbeitet. Zweifellos eine Herausforderung für sie, die wohl eher über ein kleineres Atelier verfügt, und erstmalig eine Möglichkeit bekam, an einem monumentalen Format zu arbeiten.

Pia Ferms Arbeit nahm mich beim Blick in den Raum gefangen, Foto: Petra Kammann

Getragen wird ihre raumfüllende textile Skulptur von einem Rahmen aus Holz, der im Prozess der Realisierung der Künstlerin offenbar  als Tufting-Rahmen gedient hat. Tuften, das ist eine Technik, die seit den 1920er Jahren, als die erste Tufting-Maschine entwickelt wurde, für die industrialisierte Herstellung von Teppichböden genutzt wird. Ähnlich wie das Nähen mit einer Nähmaschine funktioniert auch das Tuften. Mit hohem Tempo sticht die Maschine dabei das dicke Garn in den Teppichbodenrücken. Es wird von der Rückseite gearbeitet, wodurch auf der Vorderseite Schlaufen entstehen, die in unterschiedlicher Höhe später beschnitten werden. Auf diese Weise können sie aber auch modelliert werden, so dass eine dreidimensionale textile Fläche entsteht.

Seit mehreren Jahren arbeitet Pia Ferm mit dieser Tufting-Technik. Dabei spielt die prozesshafte Handarbeit eine zentrale Rolle in ihrer Praxis: von der sorgfältigen Auswahl ihrer Materialien über den Einsatz der kontrollierten körperlichen Bewegungen für den Arbeitsablauf bis hin zum profunden Wissen um ihren Werkstoff und das technische Know-how. Während nämlich im industriellen Verfahren mehrere Nadeln nebeneinander gesetzt werden, arbeitet Pia Ferm mit einer speziell entwickelten Handtuftmaschine, die von einer Luftdruckpistole und einem Kompressor aktiviert wird, um Stiche auf das gespannte Trägermaterial zu nähen. Das Arbeiten mit der pistolenähnlichen Maschine wählt die Künstlerin auch, um das Vorurteil zu brechen, nur Frauen seien fähig, Textilarbeiten zu produzieren.

Ferm forscht dazu an einer eigenständigen Farbpalette, um präzise konzipierte Farbmischungen und -nuancen durch das Mischen unterschiedlicher Wollfäden zu erzielen. Die so entstandenen Farbschattierungen innerhalb einer Fläche entstehen durch zeitaufwändige und akkurate Arbeit mit den einzelnen Wollfäden. Dabei bezieht die Künstlerin ihr Material, gleich ob Wolle, Leinen, Baumwolle oder Cottolin, stets aus familiengeführten schwedischen Unternehmen, von einer kleinen Färberei, in der noch mit Naturpigmenten gefärbt wird.  Ausgehend von ihren Zeichnungen setzt sie auf dem gespannten Tufting-Stoff Linien und Konturen, die sie dann mit solchen natürlichen Farbflächen füllt und dreidimensional modelliert. Einzelne architektonische Körper scheinen durch einfallendes Sonnenlicht ihre Schatten und Reflektionen zu zeichnen.

Dass ein solcher Arbeits- und Entstehungsprozess sowohl langwierig als auch dynamisch und körperlich anstrengend ist, kann man sich unschwer vorstellen, das macht ihre Arbeit aber auch gerade im digitalen „Zeitalter der Reproduzierbarkeit“ zu etwas absolut Unverwechselbarem. Es setzt zudem nicht allein die Kenntnis der traditionellen Handwerkstechniken voraus, sondern erfordert dazu noch eine gehörige Portion Zeit, Wissen und konzentriertes manuelles Arbeiten, das aus der ständigen Wiederholung von Schauen, Schießen, Zurücktreten, Schauen, Schießen und stetige Überprüfen der anderen Seite besteht. Der Vorgang der gelebten Nachhaltigkeit hat zudem auch etwas Meditativ-Rituelles und Stabilisierendes, wobei Pia Ferms Motive bei aller Bodenhaftung durch die schwere Arbeit stets in der Schwebe zwischen Abstraktem und Figürlichem bleiben und sie nichts an Transparenz verlieren, was diese Kunst so anziehend macht.

Drei-Kanal-Video-Installation von Nassim L’Ghoul, „Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück“ , Foto: Wolfgang Günzel, Courtesy der Künstler

Aber auch die Arbeiten der anderen Künstlerinnen und Künstler sind in ihrer surrealen Wirklichkeitsliebe und ihrer künstlerischen Bearbeitung absolut bemerkenswert und lohnen den Gang in den Frankfurter Kunstverein. Zu meinen Favoriten zählen zum Beispiel die Pia Ferm im dunkeln gegenüberliegende Raum installierte surreale Drei-Kanal-Video-Installation mit Elementen eines Hieronymus Bosch (*um 1450 †1516) von Nassim L’Ghoul, der uns die ,Echternacher Springprozession‘ des Fortschritts vor Augen führt unter dem Titel: „Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück“ wie auch gleich im Treppenhaus des Kunstvereins die beiden raumfüllenden monochromen Gemälde von Sonja Rychova –Porträts, bei denen das Gesicht nicht (oder nicht nicht mehr?) erkennbar ist, Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität.

Anita Esfandiari, Gave the cypress a rosy shade of the redbud; and to the tulip gave the stature of a bambuseae. Doutey of the artist

Anspielungsreich sind auch Lisa Sophie Gehrmanns im drei D-Verfahren entstandenen und farblich veränderten Narren und „Horizontsucher“ auf der Zwischenetage sowie im danebenliegenden Raum der geradezu schwebende, von der Decke baumelnde und sich drehende Gefängnistempel der iranischen Künstlerin Anita Esfandiari mit Gegenwarts- und Mythologiebezug wegen der Ausmalung des durchbrochenen Zylinders im Inneren,

Blick auf Benedikt Ackermanns Installation  „Filtered time series“ (Frankfurt), Foto Petra Kammann

während Benedikt Ackermann mit „Filtered time series“ (Frankfurt) eine beeindruckend konzeptionelle Installation zum Thema Zeit und Licht hergestellt hat mit 23 Bildschirmen, 23 Mediaplayern, Switch, Netzteile, Netzwerkkabel, Videokabel, Stromkabel, Adapter und Velcro.

„Another dream unter the Troposphäre“ von Rahiuyah Elanga, Foto: Petra Kammann

Und fast symbolisch im Tiefgeschoss heißt es „Another dream unter the Troposphäre“. Da führt die imaginäre Reise der Filmemacherin Rahiuyah Elanga ins All und auch  in den Kongo, woher ihre Eltern stammen.

Mit den Jugendlichenpoträts von Sonya Rychkova gleich im Treppenhaus werden Sie empfangen, Foto: Petra Kammann

And This is Us 2023 – Junge Kunst aus Frankfurt

noch bis zum 11.06.2023

im Frankfurter Kunstverein
Steinernes Haus am Römerberg
Markt 44
60311 Frankfurt am Main

www.fkv.de

 

 

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