Die Künstlerin Gözde Ju mit einer Einzelausstellung im Kunstverein EULENGASSE von
Das Leben an fragilen Fäden schafft sich Raum
Von Petra Kammann
Im Kunstverein EULENGASSE werden derzeit bis zum 25. Februar unter dem Titel „Leben unter uns“/“Life among us“ Werke der türkischen Künstlerin Gözde Ju ausgestellt, die das kunstvolle Weben und Nähen feinster Spitzen, die in der Vergangenheit in ihrer Heimat Türkei von Frauen als Mitgift oder zur Verschönerung des Hauses hergestellt wurden, kunstvoll transformiert.
Hinter jedem Porträtfoto lauert eine ungeschriebene Geschichte, erläutert Gözde Ju der Besucherin Renate von Köller, Foto: Petra Kammann
Anhand von „Objets trouvés“ (vorgefundenen Objekten) spinnt Gözde Ju neue Geschichten von Menschen, insbesondere Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Fragil hängt deren Existenz an verwobenen dünnen Fäden. Die seit der Pandemie in Frankfurt lebende Künstlerin liebt es, wo immer sie sich gerade aufhält, auf Flohmärkte zu gehen und alte Fotografien zu sammeln: Porträts von türkischen Frauen aus den 1960er/1970er Jahren, Klassenfotos oder alte Stick- und Klöppelarbeiten, zu denen sie eine Geschichte imaginiert.
Gözde Ju, Freihändige maschinelle Stickarbeit „Blue“ (130 cm x 100 cm) aus dem Jahr 2023, Foto: Petra Kammann
Wie muss sich die abgebildete Person im Moment der Entstehung gefühlt haben? Was sagt dieses Fotos über die Bedeutung der Person zu dieser Zeit aus? Und welchen Blick werfen wir – von heute aus gesehen – auf die dargestellten Personen? Was strahlt ihre Körperhaltung aus? In welcher Umgebung befinden sie sich?
Solchen Fundstücken fügt Gözde Ju eine neue Bedeutung hinzu. Sie dienen der Künstlerin als Grundlage für die weitere Be- und Verarbeitung. Proportional vergrößert sie diese und stickt freihändig auf einer Nähmaschine die Figurengruppe auf feinstem Untergrund wie Tüll und beschert ihnen so ein neues, ein zweites durchsichtigeres Leben.
Das erste offizielle Gruppenfoto, das von ihr gemacht wurde, erinnert sich Gözde Ju, und macht daraus ihr Bild, Foto: Petra Kammann
Aber noch einmal ganz von vorn. Gözde Ju zeigt ihr eigenes Klassenfoto, das man als Auslöser für ihre Arbeitsweise ansehen kann. Darauf ist eine bestimmte soziale Rangfolge zu erkennen. Erhöht ist die autoritäre Klassenlehrerin, die das von Natur aus stets freundliche Lächeln aus dem Gesicht des Kindes in blauer Schuluniform, das in der unteren Reihe unter den darüber stehenden Jungen knien soll, stattdessen aber einfach trotzig stehen bleibt, zum Verschwinden gebracht hat.
In der Arbeit „Blue“ steckt Gözde Jus Selbstporträt, Foto: Petra Kammann
Dieses Foto hat Ju neu interpretiert, mit Leben, emotionaler Wärme und Würze aufgeladen. An oberster Stelle steht auf dem Podest symbolisch Mustafa Kemal Atatürk, Begründer der Republik Türkei, der – wie die in Adana aufgewachsene Künstlerin versichert – heute in allen Klassenräumen zu finden und daher sofort identifizierbar ist. Herausragend die autoritäre Lehrerin, farblos.
Nur einer der Jungens fällt aus der Gruppe auf. Er wendet sich der kleinen Rebellin zu, ist rot bestickt. An einer Stelle fällt eine rote Nelke herab, deren Stil auf sie zeigt. Ein kleiner Wink wohl auf die osmanische Tradition, in der Blumen wie Tulpen, Hyazinthen, Nelken und vielen weiteren Pflanzen eine symbolische Bedeutung zukommt und die immer wieder auf den klassischen keramischen Waren und Fliesen auftauchen. In Jus verschiedenen Arbeiten, in denen häufig auch die traditionellen Stickereien und filigranen Klöppelarbeiten eingearbeitet sind, sprengen die Blumen den Rahmen und hängen an einem Faden.
Nachdenklicher Mann bei der Betrachtung von Gözde Jus „As A Woman..“ 2024, Free Hand Machine Embroidery 150 x 100 cm, Foto: Petra Kammann
Stark hat die Künstlerin u.a. die Lektüre von Virginia Woolfs Texten beeindruckt. So bildete eine ihrer zentralen Aussagen aus dem Buch „Three Guineas“/“Drei Guineen“ aus dem Jahre 1938 den Hintergrund für ein weiteres brandneues Werk „As A Woman“ aus dem Jahr 2024, das auf einer Wand im Raum der EULENGASSE zu erleben ist. Drei Frauen, die dem Wind ausgeliefert sind, halten aneinander fest und werden von Woolfs berühmter Aussage „As a woman I have no country. As a woman my country is the whole world“ / „Als Frau habe ich kein Land. /Als Frau ist mein Land die ganze Welt“ begleitet.
Gözde Ju „As A Woman..“ 2024, Free Hand Machine Embroidery 150×100 cm, Foto: Petra Kammann
Mit diesem vielzitierten Satz von Virginia Woolf, der die britische Autorin zur Symbolfigur der Frauenbewegung machte, verweist die Künstlerin Ju sowohl auf die emotionale Bedeutung wie auch auf die Voraussetzung heutiger selbstbewusster Frauen, für die eine gründliche und nachhaltige Ausbildung und wirtschaftliche Unabhängigkeit durch einen eigenen Beruf und Solidarität unabdingbar sind, was nicht bedeutet, dass sie deswegen ihre eigene Tradition verleugnen sollten.
Oft genug aber geben Frauen im häuslichen Umfeld diese Grundrechte wieder auf und finden sich plötzlich jenseits der Selbstverwirklichung wieder. Vor allem müssen sie sich um ein Vielfaches mehr anstrengen als ihre männlichen Partner. Das trifft die Migranten doppelt, der Ju die große titelgebende, in zwei Lagen im Raum schwebende transparente Arbeit gewidmet hat: „Life Among us“.
Ausstellungsbesucherin Renate von Köller zeigte sich beeindruckt von „Life among us“, Foto: Petra Kammann
Die beweglich schwebenden Fäden, die an orientalische Teppiche und Minarettspitzen erinnern, welche die Identitäten der dargestellten Personen als silhouettenartige Hohlräume verschwinden lassen, werfen durch das flirrende Licht Schatten auf die Wand. Dabei üben sie einen ganz eigenen poetischen Zauber aus.
In einer Welt, in der – wie in der Türkei – Klöppeln und Sticken mit der Arbeit von Frauen verbunden war, agiert die Künstlerin als kulturelle Vermittlerin und als Erforscherin von Identitäten. Dabei wird sie zur Dokumentaristin von erzählten Geschichten, denen sie eigene imaginierte Geschichten von Entwurzelung und unerfüllten Sehnsüchten bis hin zur Obdachlosigkeit hinzufügt.
Große gestickte Wandarbeit von Gözde Ju, „The Remains“ 2023, Mixed media, Free Hand Machine Embroidery, Lace, 260 × 70 cm
In die fragilen Arbeiten von Gözde Ju, die wie soziale Vexierbilder anmuten, sind ganze reale, selbstgestickte Geschenke ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter eingebunden.
Was aber bleibet, so könnte man vielleicht die Hölderlin-Sentenz ummünzen, stiften die Künstler und Künstlerinnen. Zerbrechlich und hoffnungsvoll weisen sie neue Wege, um das „undurchsichtige Gesicht der Migration“ (so ihre türkische Kuratorin Meike Bayik) ans Licht zu holen.
Kunstvoll verbindet Gözde Ju vielschichtige Begegnungen und Zugehörigkeiten: sinnlich, emotional und visuell. Stich für Stich.
Gözde Ju – Biographie
Geboren 1992 in Adana/Türkei.
Nach ihrem Abschluss an der dortigen Hochschule für Bildende Künste im Jahr 2009 begann Gözde Ju ihr Studium an der Fakultät für Bildende Künste der Anadolu Universität. Sie machte ihren Abschluss in den Disziplinen Druckgrafik und Malerei (Doppelstudium).
2018 erlangte sie ihren Master-Abschluss mit der Arbeit „Raumsuche in der zeitgenössischen Druckgrafik“ . Darin beschäftigte sie sich mit der Bewertung von Druckgrafik und zeitgenössischer Kunst im Kontext von Räumlichkeit. Darüber hinaus schloss sie ihr Studium mit dem Proficiency of Art Programms (PhD) ab.
Seither lebt Gözde Ju als freie Künstlerin. Sie nahm zwischenzeitlich an diversen Ausstellungen in den verschiedensten Ländern wie Griechenland, Schweden, Frankreich, England und China teil. Derzeit arbeitet sie in ihrem Atelier, im Atelier Frankfurt.
Termine im Kunstverein EULENGASSE