Ankommen und Flanieren auf den Spuren von Georges Simenon in Lüttich
Eine alte Stadt erfindet sich neu
Von Petra Kammann
Der belgische Autor Georges Simenon (1903-1989) wäre in diesem Jahr 120 Jahre alt geworden. Grund für seine Heimatstadt Lüttich (Liège), den legendären Schriftsteller zu feiern. Simenon war ein ausgesprochen produktiver Autor, der sämtliche Erzählarten beherrschte, gleich ob Kurzgeschichten, Groschenromane, Reiseberichte, Reportagen, Autobiografien oder eben auch „richtige “ Romane. Auch wenn er seine Geburtsstadt schon mit 19 verließ, so ist sie doch in seinen Romanen immer wieder gegenwärtig. Durch die Brille des Vielschreibers lässt sich auch die wallonische Stadt voller Geschichte und Geschichten neu entdecken. Auf seinen Spuren hat die wallonische Stadt einen Spaziergang und eine dazugehörige App entwickelt. Nicht nur ihm begegnet man dort auf Schritt und Tritt…
Der Bahnhof Guillemins mit dem weit ausschwingenden Dach ist wie eine Willkommensgeste, Foto: Petra Kammann
Schon in den Bahnhof Liège-Guillemins mit dem Zug in Lüttich einzuschweben, ist ein Erlebnis der besonderen Art. In dieses kühne durchlässige architektonische Gebilde aus Stahl, Glas und weißem Beton, mit seinem so monumentalen schwingenden Baldachin rauschen die Hochgeschwindigkeitszüge Thalys, ICE und ÖBB-Nightjet von Ferne mit 300 Stundenkilometer an. Das ist einfach großes Kino, auch wenn sie dann bei der Einfahrt in den Bahnhof die Geschwindigkeit auf 100 km/h senken und kurz anhalten, die Passagiere raus und reinzulassen. Und schon geht’s weiter in Richtung Brüssel, Paris, Aachen, Köln, Wien, Luxemburg oder Maastrich. Bis an die 500 Züge sausen an diesem bedeutenden europäischen Verkehrsknotenpunkt täglich durch diesen Zwischenhalt.
Die Lage der Stadt am Maas-Übergang war immer schon besonders, begehrt und hart umkämpft, zumal in beiden Weltkriegen. Dass sich wegen des deutschen Vormarsches durch Belgien nach Westen hier auch Widerstand regte, wundert nicht. So entstand vor Ort auch ein Zentrum der Résistance. Daneben war Lüttich immer auch eine Stadt der Einwanderung – vor allem in der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Aber auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nach 1945, kamen zahlreiche Menschen aus Flandern, Italien und zunehmend aus Nordafrika hierher. In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem die Einwanderer aus subsaharischen afrikanischen Ländern. Das spiegelt sich auch heute in der multiethnischen, multikulturellen Bevölkerungsstruktur wider, die das Bild der Stadt und auch deren verschiedenartigen Bauten prägt.
In Guillemins fuhr 1842 draußen vor der Stadt der erste Zug ein, 1905 eröffnete zur Weltausstellung ein neuer Bahnhof, der Nachkriegsbahnhof (1958 bis 2009) wurde abgerissen
Um der Situation, schnell neuen Wohnraum zu schaffen, gerecht zu werden, veränderte sich in den 1960er Jahren das Stadtbild abermals gravierend. Alte Bausubstanz wurde weiträumig vernichtet, Schnell und billig zu errichtende Plattenhäuser traten an die Stelle. Und dann wieder musste sich die Region mit dem Niedergang des Kohlebergbaus im Lütticher Becken und der anschließenden Stahlkrise, mit der finanzielle Engpässe einhergingen, abermals den Schwierigkeiten des Strukturwandels stellen, sich neu erfinden und u.a. den Plan zum Bau einer U-Bahn aufgegeben. Inzwischen hat die Stadt eine neue Großbaustelle, auf der die weitverzweigte Trambahn einmal fahren soll. Damals aber hatte das Nachbarland Frankreich die Hochgeschwindigkeitszüge ins Gespräch gebracht, für die der Nachkriegsbahnhof von 1958 auch nicht mehr taugte: zu schmal, zu stark gekrümmt und die Bahnsteige waren für die schnellen Züge nicht lang genug.
So lohnte sich die Renovierung des alten Bahnhofs nicht mehr, Abriss und ein Neubau wurde beschlossen, zumal der gesamte Bahnhofsbereich der einstigen Bergbauindustriestadt heruntergekommen aussah. Ein internationaler Wettbewerb wurde ausgeschrieben. Den Zuschlag bekam damals der renommierte spanische Architekt Santiago Calatrava. Eingeweiht wurde sein Wunderwerk aus grazilem Beton im Jahr 2009. Die elegante schlanke Konstruktion des Daches, das sich bis zu 50 Meter Höhe über dem Terrain erhebt, wird gehalten von einer filigranen Stahl-Glas-Konstruktion, bei der sich die 157 Metern langen parallel zu den Gleisen laufenden 39 Stahl-Bögen zum Ende der Gleise hinabsenken und einen fließenden Übergang zum Dach der Bahnhofsvorhalle schaffen. Wie das über dem alten Bahnhof bei laufendem Betrieb geschah, war schon rein technisch eine Meisterleistung!
Blick vom Bahnhofsvorplatz auf die Stadt und das neu entstehende Viertel, Foto: Petra Kammann
Bislang erregte das lichtdurchflutete strahlend weiße Gebäude auf der Fahrt nach Brüssel schon immer wieder die Aufmerksamkeit der Reisenden. Doch wie sieht die Stadt dahinter aus? Seit dem letzten Oktober schimmert es auf dem Dach in pink, blau, weiß, gelb, rot. Und je nach Tageslicht changieren die farbigen Strahlen auf dem Boden. „Wie vom Himmel gefallen, Farben in situ und in Bewegung“ nennt der französische Schöpfer und Konzeptkünstler Daniel Buren seine temporäre Installation, für die eigens spezialisierte Bergsteiger angeheuert wurden, um in schwindelerregender Höhen des Daches 5 000 selbstklebende transparente farbige Venylfolienstreifen auf die Hälfte der Glasfelder zwischen den Streben anzubringen, berichtet der Stadtführer Jean Housen. Das sei ein wochenlanges Spektakel gewesen, das viele Schaulustige anzog. Der Architekten Calatrava habe dem Künstler Buren völlig freie Hand gelassen.
Bis Oktober noch erleben jetzt die Durchreisenden oder hier Ankommenden oder Abfahrenden die tollsten Farbspiele am Gleis, auf den Fenstern der vorbeifahrenden Züge oder beim Heruntergehen auf der Treppe, die zum Bahnhofsvorplatz führt, wo sich dann der Blick auf eine Stadt im Umbruch auftut, die in ihrer wechselhaften Geschichte schon etliche baulichen Neuanfänge erlebt hat. Wo einst Wiesen waren, entsteht zur Rechten nun ein neues fast futuristisches Büro- und Wohnviertel, während zur Linken noch komplette intakte Straßenzüge aus dem beginnenden 20. Jahrhunderts erhalten blieben. Calatrava hatte bei seiner Bahnhofskonzeption seinerzeit schon urbane futuristische und sicher ästhetisch gelungene Pläne. Finanziell sind die aber heute in einer Zeit neuer Krisen nicht mehr zu stemmen.
In diesem Haus in der Leopoldstraße wurde Simenon geboren, Foto: Petra Kammann
Dem berühmten Sohn der Stadt, Georges Simenon, der immer auch ein großer Reisender war, hätte die offene Wilkommensgeste des spektakulären Bahnhofs zur Stadt hin jedenfalls sicher gefallen, meint Jean Housen. Simenon selbst wurde am 13. Februar 1903 im Stadtzentrum von Lüttich in der Rue Léopold 26 in einer damals blühenden Stadt mit 165 000 Einwohnern hineingeboren, die als „die Stahlschmiede Europas“ galt. Seine Mutter Henriette, so sagt man, ließ das Geburtsdatum auf den 12. ändern, weil sie abergläubisch war. Ob Simenon daher so umtriebig und wenig sesshaft war?
Porträt des Autors von Victor Dinitz/ Collection Fonds Georges Simenon, Lüttich
Denn er hat er seine Geburtsstadt im Alter von gerade mal 19 Jahren verlassen, um 1922 nach Paris und in andere französische Orte zu ziehen, wo Künstler den Ton angaben. Nach 1942 zog es ihn dann in die USA, und nach dem Krieg zuletzt in die französische Schweiz nach Lausanne in eine prächtige Villa, da er in der Zwischenzeit durch die vielen Publikationen und Verfilmungen seiner Maigret-Romane sehr reich geworden war. Doch blieb die Atmosphäre der Stadt, in der er aufgewachsen war, für ihn so prägend, das er sie mit in seine Romane nahm und sie darin verwob..
Vor allem war es für ihn wohl das volkstümliche Inselquartier Outremeuse, das Viertel der kleinen Leute jenseits der Maas, wohin die Familie umgezogen war. Dort wuchs der kleine Georges von seinem 2. Lebensjahr an auf, erst im katholischen Kindergarten bei Nonnen, dann besuchte er hier die Schulen Saint-Julienne und Saint-André. Vom Altstadtviertel Carré aus gelangt man in wenigen Schritten über die älteste Brücke aus dem 12. Jahrhundert, , die „Pont des arches“, auf die andere Flussseite. Von dort aus konnte der vorwitzige Junge ungehindert das Markttreiben und das Verhalten der Menschen beobachten. Später gab der Journalist und Schriftsteller Simenon seinem 1921 veröffentlichten Roman den Titel dieser Brücke:„ Au Pont des Arches“.
Über die „Pont des Arches“, die älteste Brücke, geht es über die Maas nach Outremeuse, Foto: Petra Kammann
Outremeuse, dieses Viertel zwischen den beiden Maasarmen, wurde im 19. Jahrhundert neugebaut, „als nämlich die Stadt aus allen Nähten platzte„, erläutert die kenntnisreiche Stadtführerin Helene Bing, die ebenso gut Deutsch wie Französisch spricht. Im Mittelalter seien dort vor allem die Gärten der Stadt gewesen, dort hätten aber auch die Gerber, Weber, Schmiede und all diejenigen gelebt, „die man in der Stadt nicht haben wollte, weil es entweder laut war oder stank“. Hier also lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten kleinen Leute, die so selbstbewusst wie volkstümlich waren, so dass sie sich damals sogar ihre eigene unabhängige kleine Republik schufen, die Association de la République libre d’Outremeuse (Vereinigung der freien Republik Outremeuse). Bis heute wird hier zu Mariä Himmelfahrt am 15. August ausgiebig deren „Nationalfeiertag“, eine Mischung aus katholischer Frömmigkeit, Feierlust und Rebellion, begangen.
Die Kneipe mit den Holzmarionetten wird von François Ducroux, der es von seinem Vater übernommen hat, und seinem Sohn William bewirtschaftet, Foto: Petra Kammann
In Outremeuse befindet sich in der Rue Grande-Bêche n°35 auch eine der urigsten Brasserien mit traditioneller belgischer Küche, die Taverne Tschantchès et Nanesse in einem Fachwerkhaus aus dem 16. Jahrhundert. Über dem Tresen baumeln Holzmarionetten, die hiesigen Lokalhelden, deren Tradition sich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen lässt. Vor allem ist es das eigensinnige Pärchen, sind der stets hungrige und durstige Tchantchès mit seiner starken und eigenwilligen Kameradin Nanesse die Identifikationsfiguren, die es dem Volk immer wieder spielerisch vor Augen führen, dass sie von Pomp, großen Zeremonien und Tamtam nichts halten, zwar einen rebellischen unabhängigen Geist haben, aber auch ein großes und weiches Herz, jederzeit bereit, sich für andere und edle Ideale einzusetzen.
In dieser populären Brasserie-Bar wird übrigens auch seit 1985 alljährlich der Prix Tchantchès an herausragende Lütticher Persönlichkeiten vergeben. So erhielt auch Georges Simenon den Ehrenpreis, einen der Auszeichnungen, den er voller Dankbarkeit annahm und deswegen eigens nach Lüttich anreiste. Darauf ist der heutige Patron François Ducroux, der die Taverne im Sinne seines Vaters Henri Ducroux, der die Taverne gegründet und den Preis ins Leben gerufen hatte, weiterführt, auch mächtig stolz ist. Inzwischen bekocht sein Sohn William die Gäste mit Lütticher Spezialitäten wie „Boulets liegeoises“ mit Fritten.
In der Taverne wird seit 1985 der Prix „Tchantchès & Nanesse“ an besondere Lütticher vergeben. Den Ehrenpreis erhielt auch Georges Simenon, den Dutroux Vater porträtierte, Foto: Petra Kammann
Von Outremeuse aus ging Georg Simenon schon als 16-Jähriger über die Maas zur „Gazette de Liège“, wo er von einem Tag auf den anderen zum Zeitungsreporter wurde. Immer wieder hatte der Autor später wiederholt betont, dass er ein „Kind von Outremeuse“ geblieben sei. Da wundert man sich nicht, dass es in diesem populären Ortsteil eine Simenon-Kindertagesstätte, eine Simenon-Jugendherberge,und einen Platz gibt, an dem Zitate aus seinen Büchern in Stein gemeißelt und angekettet sind.
Hier liegen die Schulen, in die der kleine „Sim“, wie er sich später nannte, gegangen ist, und schon früh ob seiner Sprach- und Phantasiebegabung Aufsehen erregte, dann die Kaserne, in der er seinen Militärdienst ableistet hat. Ganz in der Nähe liegen auch die Wohnungen der Familie Simenon wie in der Rue de la Loi. In der Rue des Écoliers würde man ohne Hilfe sicher an einer Holztür vorbeilaufen, die sich zu einer schmalen Sackgasse hin öffnet, an der früher eine Schreinerei lag.
In der ersten Etage hockte dort ein Künstlerkreis zu Simenons Jugendzeiten in einem so kleinen Raum beieinander, dass man ihm den Spitznamen „La Caque“ verpasste, also „Das Heringsfass“. Was da abging, war für die unangepassten Jugendbewegten viel spannender als die langweilige und fromme Schule. Da saßen, tranken, musizierten und philosophierten er und seine Freunde also, hier empfingen sie auch ihre Freundinnen, führten ein bohemehaftes Leben. Hier lernte Simenon auch seine spätere und erste Frau, die Malerin Tigy (eigentlich: Régine Renchon) kennen.
Das Lütticher Rathaus, auch „La violette“ genannt, Foto: Petra Kammann
Mit 15/16 hatte also Simenon bei der Gazette de Liège angeheuert.Vier Jahre lang sollte er für die Gazette im Stadtzentrum von Lüttich arbeiten, anfangs nur als Bürogehilfe, später als Redakteur, der seine eigenen Rubriken und Kolumnen schrieb. Sein Metier war es, so Rubriken wie Unfälle & Verbrechen und die berühmten Chiens écrasés , die „überfahrenen Hunde“, mit anderen Worten das Vermischte, zu sammeln und zu schreiben. Dazu gehörte auch der tägliche Besuch beim Hauptkommissariat. So konnte er bei der täglichen Redaktionskonferenz mit den neuesten Nachrichten brillieren.
Simenon behauptete später, er hätte damals auch einen tiefen Einblick in die Arbeit der Polizei bekommen, was sich beim Schreiben seiner Krimis bezahlt machte. Hier war er wohl auch erstmalig den Namen Maigret gestoßen. Am Rathaus gibt eine Plakette darüber Auskunft, dass es dort einen realen Monsieur Maigret gegeben hatte. Dieser Name muss ihn inspiriert haben. Simenons erster „richtiger“Artikel erschien 1919. Der Erfolg seiner Kolumnen in der Gazette de Liège machten ihm bewusst, wo seine eigentliche Berufung liegt: im Erzählen und im Hinzuerfinden.
Die alte Lütticher Tageszeitung „Gazette de Liége“, für die Simenon zunächst Polizeimeldungen schrieb, Foto: Petra Kammann
Im Mai 1920 erschienen in der Zeitung dann schon seine Kurzgeschichten, etliche auch mit satirischem Einschlag. Da das Echo auf seine Geschichten bei den Lesern positiv ausfiel, fühlte er sich so bestärkt, nun auch einen Roman zu schreiben: „Au pont des arches“. In diesem Roman steht eine Apotheke im Mittelpunkt, die sich auf die Herstellung von Abführmittel für Tauben spezialisiert hatte. Simenon fand zwar keinen Verleger für die etwas abstruse Geschichte, aber einen Drucker, der bereit war, das Buch zu veröffentlichen, sofern der Autor dafür nur 300 Abnehmer fände. Mit seinen besten Verbindungen in der Stadt gelang ihm das im Handumdrehen, zumal „die Ausgabe auch noch von befreundeten Malern illustriert worden war.
Die Kirche von Outremeuse, nicht weit von „La Caque„, die auch heute noch immer düster und abweisend wirkt, hieß Saint-Pholien. An deren Türklinke hatte sich einer dieser Bohemiens, der Kunststudent Joseph Klein, erhängt. Die wahre, traurige Geschichte wird in dem frühen Maigret-Roman von 1931 „Der Gehängte von Saint-Pholien“ in einen Kriminalfall umgewandelt, dem der Kommissar mehr aus einer Laune heraus auf die Spur kommt.
Im Antiquariat „A l’enseigne du commissaire Maigret“ findet sich alles von und über Simenon, Foto: Petra Kammann
Simenons erste schon erwähnte Frau Tigy, damals eine erfolgreiche Malerin, hatte ihm die Augen für die Welt der Künste geöffnet. Gemeinsam waren sie nach Paris ausgewandert, wo 1931 die Karriere des „richtigen“ Autors begann, als Simenon, der bis dahin fast nur Groschenromane und diese meist auch nur unter Pseudonym veröffentlicht hatte, sein erstes „echtes“ Buch mit dem erfundenen Kommissar geschrieben hatte:„Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien“. Die Lütticher Kirche Saint-Pholien bildet dazu den Hintergrund.
Die Polizei sprach damals von Selbstmord, was aber sowohl Simenon als auch andere Zeitgenossen bezweifelten. So mischen sich in diesem ersten „Maigret“-Roman Legenden, Vermutungen und wahre Begebenheiten, war Simenon doch selbst Teil dieses Künstlerkreises und machte nun aus dem Suizid einen Mordfall.
Gleich gegenüber der Kirche Saint Pholien befindet sich heute auch das inspirierende Antiquariat „A l’enseigne du commissaire Maigret“ („Im Zeichen von Kommissar Maigret“) – eine wahre Fundgrube für Leseratten, die gerne in Buchhandlungen stöbern, um neue Entdeckungen zu machen. Ob sie dort noch so etwas wie den ersten Maigret oder „Au Pont des arches“ finden?
Die Ausstellung „Simenon, du roman dur à la bande dessinée“
Ausgestellt sind derzeit jedenfalls etliche seiner Werke, Manuskripte, Listen, Plakate, Magazine, Gazetten, Druckprodukte aller Art von und über Georges Simenon gerade noch bis zum 12. Mai 2023 im kulturhistorischen Archiv der Stadt, Ilot St. Georges, wo der Fonds patrimoniaux der Stadt Lüttich liegt.
Plakat von der Ausstellungs im Fonds patrimoniaux de la Ville de Liège
Auf dem dort ebenfalls ausgestellten originalen Ex libris des berühmten Schreibers, Sammlers und Erfinders des Kommissars Maigret ist eingraviert:“ Comprendre et ne pas juger„, also: „Verstehen und nicht urteilen“. Hat er tatsächlich schon früh etwas von der Komplexität der menschlichen Natur begriffen, als er mit gerade mal 16 Jahren täglich die Polizeiberichte für die Lütticher Tageszeitung auswertete, dass man Menschen nicht einfach ungefragt verurteilen soll?
Da Georges Simenon ein so produktiver Autor war, der die verschiedenen Prosa-Genres beherrschte, sammelte die 1904 gegründete öffentliche Bibliothek der Fonds patrimoniaux de la Ville de Liège sämtliches Schriftgut von und über Georges Simenon, denn er war mit mehreren Hundert Millionen verkaufter Bücher einer der erfolgreichsten Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts. Er schrieb 28 Erzählungen, um die 1000 Kurzgeschichten. Allein in den 1920er Jahren hatte Simenon unter verschiedensten Pseudonymen fast zweihundert Groschenromane veröffentlicht. Ein Teil davon ist nun in der Ausstellung „Simenon, du roman dur à la bande dessinée“ zu sehen, Zeitschriften aller Art inbegriffen. Von den Büchern, die ab 1929 unter seinem eigenen Namen veröffentlicht wurden, unterscheidet man die Maigret-Reihe – 75 Romane -, daneben die „romans durs“, also „harte“ Romane oder vielleicht „schwierige“ Romane, in denen der berühmte Kommissar keine Rolle spielt und die auch keine Kriminalromane im eigentlichen Sinne sind.
1976 hatte der Autor sein umfangreiches Archiv und Werk der Universität Lüttich vermacht. Heute verwaltet es sein Sohn John Simenon und sorgt dafür, dass es lebendig bleibt. Er war es auch, der das Festival „Le Printemps Simenon“, das vom 8. bis 11. März in Lüttich stattfand, ins Leben gerufen hat, und dem er vorsteht. Er möchte, dass sich auch die nachwachsende Generation mit dem Werk seines Vaters beschäftigt und bezieht die Forschung an der Universität und die Stadt Lüttich mit ein. „Damit machte er sie (die Universität) zu einem unumgänglichen Ort für das Studium des Werks eines Schriftstellers, der auch heute noch einer der meistgelesenen, meistübersetzten und meistadaptierten Schriftsteller der Welt ist. Das (…) Festivalprojekt ist eine Fortsetzung der engen und respektvollen Zusammenarbeit zwischen der Universität und John Simenon“, sagt voller Respekt die Rektorin der Universität Lüttich, Anne-Sophie Nyssen.
Sogar ein handschriftliches Exemplar von „Au pont des Arches“ befindet sich in der Ausstellung, Foto: Petra Kammann
John Simenon ist davon überzeugt, dass sich Adaptionen von den „harten Romanen“ in Comics genauso gut durchsetzen würden wie diejenigen Romane, die seit jeher Grundlage für Kino, Radio oder Fernsehen dienten. Gemeinsam mit Jean-Luc Fromental und José-Louis Bocquet initiierte er zwei Projekte beim Verlag Dargaud: die Erstellung eines biografischen Comics und eine Serie von acht Adaptionen. Das Storyboard zum „L’Ostrogoth“ entwickelte John Simenon mit José-Louis Bocquet.
In der Bibliothek wird auch das vorläufige Drehbuch zu einer filmischen Bibliographie zu Georges Simenon vorgestellt. So zeichnet etwa Jacques de Loustal in kantigen Linien eine Graphic Novel unter dem Titel „Simenon, l’Ostrogoth“ eine Biografie über Simenons junge Jahre in Lüttich, wo er seine erste Frau, die Malerin Régine Renchon ( Tigy) im La-Caque-Kreis kennenlernte und macht auf diese Weise die vergangene Zeit lebendig.
In der öffentlichen Bibliothek der Fonds patrimoniaux de la Ville de Liège werden Bücher, Schrift- und Druckprodukte sowie Plakate aufbewahrt, Foto: Petra Kammann
Die ersten drei Alben werden voraussichtlich im Laufe des Jahres 2023 erscheinen in den Fonds Patrimoniaux anhand einer Auswahl von Originalzeichnungen und vorbereitenden Dokumenten als Work in Progress vorgestellt. Eine auf acht Bände angelegte Reihe adaptiert zudem wichtige roman durs. Der Autor nannte diese Romane „hart“(„dur“), weil sie „mühevoll zu schreiben“ waren, glaubt sein Sohn John Simenon, für den das Werk seines Vaters eine hohe Präsenz hat, während das Schreiben eines „Maigret“ für den Vater fast eine Art Erholung gewesen sei. Der Begriff „hart“ passe seiner Meinung nach allerdings auch bestens zum präzise geschulten Blick des Autors, der in seinen Romanen sowohl die authentische Atmosphäre als auch die Wahrheit zutage fördere: nämlich die „Wahrheit“ einer „nackten“, schlichten Menschheit , die durch die widrigen Umstände unwillentlich zu etwas getrieben wird.
Den Auftakt machen „Der Passagier der Polarlys“ mit den Illustrationen von Christian Cailleaux und „Der Schnee war schmutzig“, gezeichnet von Yslaire. Die im Fonds Patrimoniaux ausgestellten Seiten aus den Comics treffen die düster-geheimnisvolle Stimmung der Romane bestens.
„Simenon, un Monde en Crise“. Photograhies 1931-1935
Am Ufer der Maas befindet sich das bedeutendste Museum der Stadt, das Grand musée Curtius, wo u.a. in den Gängen herrliche mittelalterliche Kapitelle liegen. Derzeit ist dort in der unteren Ebene die Arbeit des fabelhaften Fotografen Simenon zu entdecken, der zwischen 1931 und 1935 um die Welt gereist ist. Dass er überhaupt fotografierte, war und ist nur wenigen bekannt, doch nach Ansicht der Ausstellungskuratoren zeigen diese Fotos ein neues und unbekanntes Bild seiner schriftstellerischen Arbeit. Mit der gleichen Leidenschaft und Intensität, wie er Reportagen machte und schrieb, fotografierte er auch unterwegs. Da kaum einer die Menschen besser kannte als dieser Reporter und Autor, der um die Schwächen, die Verzweiflung, die Ängste der Menschen wusste, hielt er mit seinem unbestechlichem er bewegende menschliche Situationen auch mit der Kamera fest und kam ihnen nahe. Die sie bewegenden Themen tauchen dann wieder in seinen Romanen auf.
Der Innenhof des Musée Grand Curtius , Foto: Petra Kammann
Eine Auswahl dieser Fotografien brachte er von diesen Reisen in die Normandie, nach Deutschland, Osteuropa, ans Mittelmeer, nach Nordafrika, in den Kongo, nach Istanbul, nach New York , Panama und Polynesien mit, denn das Ziel dieses unruhigen Geistes war es, „alle möglichen Leben zu leben“ und hinter all den verschiedenen Menschen in den unterschiedlichsten Kulturkreisen den „Homme nu„, den „nackten Menschen“ wie er es später nannte, sichtbar zu machen. Dabei ist sein Blick geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und damit zusammenhängenden Auseinanderklaffen von traditionellem Leben und der Weltwirtschaftskrise, was Anfang der 1930er Jahre in vielen Ländern spürbar war. Mit seiner Leica und seiner Rolleiflex nahm der Fotograf Anteil an den Menschen, an ihren Nöten und Freuden.
Blick in die Foto-Ausstellung im Grand Musée Curtius, Foto: Petra Kammann
Von Paris aus wollte er ab 1928 das neue und noch unekannte Land Frankreich, in dem er nun lebte, erkunden. Da fuhr er mit seiner Frau Tigy und seiner Haushälterin Boule (auch eine seiner Geliebten) auf einem eigenen Hausboot namens L’Ostrogoth (der Ostgote) über die französischen Kanäle und Flüsse quer durch Frankreich. Dabei schärft er seinen Blick für den Alltag in der Provinz, in der auch ein Teil seiner Romane spielt und entdeckt die kleineren und größeren Städte an der Küste wie Boulogne, Honfleur, Concarneau, Bordeaux, Marseille, wo er den oft mühsam Alltag der Fischern das Hafenleben festhält, wo er aber auch fasziniert ist von der Kraft des Meeres. Da liegt auf seinen Fotos ein Hauch von Poesie des Alltags über dem Frankreich der kleinen Leute. Dabei entgehen seinem Blick dennoch so manch desolate Zustände, die kaum einer sieht, nicht.
Blick in die Ausstellung, Foto: Petra Kammann
Weitere Stationen waren unter anderem Nordafrika und Belgisch-Kongo (1932), wo er interessanterweise zu dieser Zeit als Belgier nicht etwa den Blick des Kolonialisten einnimmt, Deutschland, Osteuropa, Mittelmeerstaaten und die Türkei (1933/34). Eine Weltreise führte ihn 1935 über New York, Mittelamerika, Panama nach Polynesien und Australien, Indien und zurück ans Mittelmeer.
Enfants dans les rues de Vilnius (alors ville polonaise), mars 1933. © Simenon.tm / Collection Fonds Georges Simenon Uliège
Besonders eindrucksvoll sind seine Bilder aus Osteuropa um 1933 quer durch Polen, die Tschechei und Slowakei, Ungarn und Rumänien, wo er viel Elend wahrnimmt, eine Welt, die sich wirklich in der Krise befindet: in der heutigen Ukraine auf der Krim am schwarzen Meer, bettelnde Frauen mit Kindern in Warschau, oder Szenen im ärmlichen jüdischen Viertel von Vilnius im heutigen Litauen, das bald darauf vollends verschwand.
Blick in die Ausstellung, Foto: Petra Kammann
Bei allen Bildern spürt man seine Empathie zu den Menschen, die er anschaut, vor allem auch die Ausdrucksstärke der Kinder, die auf den Straßen leben und spielen. Und daneben gibt es immer wieder auch so schöne und anmutige Momente wie in Tahiti, wo sein Blick auf die nackte Schöne mit der Blume im Haar an Paul Gauguins berühmte Gemälde aus der Südsee erinnert. Erstaunlicherweise wirken sie dennoch nicht sexistisch, sondern intim, rein und voller Würde.
Blick in die Ausstellung, Foto: Petra Kammann
So sieht er selbst es im Rückblick in seinen „Intimen Memoiren„, die er in fortgeschrittenem Alter notierte: „ich schrieb nicht über das, was ich sah. Meinen Romanfiguren war ich während meiner Kindheit in Lüttich begegnet, danach in Paris und in der französischen Provinz, wo ich mich bald in einem Schloss, bald auf einem Bauernhof für ein ganzes Leben niederließ.“,
Die Ausstellungen und Lesempfehlungen
Fotoausstellung
„Simenon, Bilder der Welt in der Krise“
Im Musée Grand Curtius, Féronstrée 136, Lüttich
noch bis zum 31. August 2023
Mo.–So., 10–18 Uhr, Di. geschlossen (www.grandcurtius.be). Katalog 7 Euro
mit Unterstützung von „les Musées de la Ville de Liège“, dem “ Fonds Simenon“, dem „Fonds Simenon Patrimoine de la Fondation Roi Baudouin“, von“ Simenon.tm“.
Comicausstellung
„Simenon, du roman dur à la bande dessinée„
Im Archiv „Les Fonds Patrimoniaux de Liège“, Ilot St. Georges, Lüttich
Dort sind n der Bibliothèque neben Simenon- Druckproduktien Beispiele von Drehbuchautoren und Comiczeichnern, die im Verlag Dargaud und unter der Leitung von John Simenon eine neue Serie von Simenon-Adaptionen vorbereiten, s zu sehen.
noch bis zum 12. Mai 2023
Geöffnet von Montag bis Freitag von 10:30 bis 17:00 Uhr
Der Simenon-Rundgang
Den neugestalteten Simenon-Rundgangs im Viertel Outremeuse und der Besuch von “La Caque” („Das Heringsfass“), in Form eines Spaziergangs kann man buchen unter:
Führungen durch die Stadt kann man vereinbaren mit dem Tourismusbüro Lüttich (www.visitezliege.be) oder direkt bei den deutschprachigen Mitgliedern von „Guides 4 You“, die auch zu anderen Themen und Orten in Ostbelgien Rundgänge anbieten. Sie sind im Internet zu finden unter der Adresse www.guides4you.be
Leseempfehlungen zum Werk Georges Simenons:
Das Gesamtwerk wird auf Deutsch bei Kampa, Zürich (gebunden), und als Taschenbuchausgabe bei Atlantik/Hoffmann und Campe, Hamburg veröffentlicht.
Georges Simenon, „Stammbaum“. Atlantik Verlag, 816 Seiten, 16 Euro. Dabei handelt es sich um die frühe Autobiografie.
In „Maigret im Gai-Moulin“ (früher als „Die Tänzerin“ sowie „Maigret und der Spion“ verlegt) dauert bis zur Hälfte des Buches, bis Maigret überhaupt in Erscheinung tritt. Zuvor hat sich eine ganze Welt aufgetan, rund um die einst titelgebende Animierdame eines Nachtlokals und zwei Jungspunde, die über ihre Verhältnisse leben.
Georges Simenons Lebensbeschreibung „Intime Memoiren“, blickt er anlässlich des Todes seiner Tochter auf seine Kindheit in Lüttich zurück (Kampa Verlag)
Maison du Tourisme du Pays de Liège
4000 Liège