Barbara Klemm – Die Foto-Chronistin und Künstlerin
Deutschland, die Welt und die Kunst
Die Fotos von Barbara Klemm – einer menschenfreundlich zugewandten Frau – haben Geschichte und Geschichten vermittelt und sich wie Ikonen der Zeitgeschichte in unser Gedächtnis eingegraben. Ihre Aufnahmen machte sie vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen feiert. Dabei hat sie sich nie der Arroganz der Macht ergeben, obwohl sie einflussreichen Polit-Größen, internationalen Künstlern und Schriftstellern begegnet ist. Auch den einfachen Menschen und deren Nöten, die sie in ebenso eindrucksvolle Bilder bannt, gilt ihre Empathie. Und gleich wo: Für den richtigen Moment hat die große Fotografin stets ebenso einen sechsten Sinn bewiesen wie auch für die perfekte Bildkomposition. Petra Kammann interviewte die Fotokünstlerin, deren neues Buch zur Buchmesse unter dem Titel „Zeiten Bilder“ (Schirmer & Mosel) erschienen ist.
Die Fotokünstlerin Barbara Klemm, Foto: Petra Kammann
Petra Kammann: 40 Jahre lang hast Du für die FAZ gearbeitet. Das ist doch eine ungeheure Zeitspanne. Hast Du aus all den Jahren die Bilder und Szenen noch im Kopf, um eine aus heutiger Sicht relevante Auswahl für das Buch „Zeiten Bilder“ treffen zu können?
Barbara Klemm: Es gibt ja von jedem Film einen Kontaktbogen, den ich damals machte. Wenn ich in diesen Kontaktbögen blättere, erinnere ich mich wieder, wo und unter welchen Umständen die Bilder jeweils zustande kamen. Dies ist schon sehr hilfreich, wenn auch nicht ganz leicht, für solch ein Buch eine schlüssige Auswahl zu treffen.
Sind denn Deine Fotos inzwischen noch nicht in einem Bildarchiv digitalisiert worden, so dass das Procedere einfacher wäre?
Bislang ist nur das digitalisiert, was auch in der FAZ gedruckt wurde. Und mir war es wichtig, in meinem neuen Buch „Zeiten. Bilder“ auch schon bekannte mit unbekannteren Motiven zu mischen.
Das kann natürlich nur ein Kondensat Deiner jahrelangen vielfältigen Arbeit sein. Welche Motive hast Du denn ausgewählt?
Die Auswahl war wirklich nicht leicht. Ich wollte die „Klassiker“ mit hinein nehmen, die zum Teil schon in anderen Büchern waren, dann aber zu einer thematisch anderen Struktur finden. In diesem Jahr lag es nahe, den Schwerpunkt auf die Maueröffnung und die Öffnung des Brandenburger Tors zu legen und dem, was damit zusammenhing. So habe ich mich vor allem auf die politische DDR konzentriert und nicht auf die dortigen Alltagsszenen.
Der Schwerpunkt in „Zeiten Bilder“ liegt also auf Polit-Ikonen und nicht auf Reisereportagen?
Natürlich musste Willy Brandt mit seinem legendären Zusammentreffen mit Leonid Breschnew in Bonn 1973 darin auch vorkommen, dem habe ich dann aber ein Bild von Brandt auf dem Frankfurter Wäldchestag im hessischen Wahlkampf gegenübergestellt. Und dann geht es raus aus Deutschland in die verschiedenen Länder: entsprechend dann nach Portugal, Spanien, Italien und England, Balkanstaaten, Israel, nach Lateinamerika, Russland, Iran, Indien, nach Südafrika und schließlich in die USA mit einigen Bildern aus dem jeweiligen Land. China fehlt leider, das wäre ein eigenes dickes Buch geworden.
Barbara Klemm zeigte ihre China-Bilder 2014/15 im MMK in der Ausstellung „Boom she Boom“, Foto: Petra Kammann
Spielt die Kultur denn gar keine Rolle?
Ein Stück Kulturgeschichte gehört natürlich dazu. Auf dem Buchcover deutet sich schon die Spanne an: eine Passantin bewegt sich zwischen Leonardo da Vinci und Elvis Presley.
Sind auch Künstlerporträts dabei?
Ursprünglich sollten noch viele Portraits hinzukommen. Jetzt sind es nur einige, wie z.B. ein Atelierbesuch bei Anselm Kiefer, Lothar Baumgarten im Bundespräsidialamt oder ein Bild von Andreas Slominski, der einen Windmühlenflügel in seiner Ausstellung im Portikus in Frankfurt a.M. verfeuert. Und ich zeige James Turrells Lichtraum, den er in Wolfsburg eingerichtet hatte.
Habt Ihr ausschließlich Bildende Künstler beziehungsweise die dazugehörige Kunstszene hineingenommen?
Ja, wenn auch nicht so viele. Dafür bekommt man einen Blick in Venedig in das Arsenale, wo man ein Bild des ghanaischen Künstlers El Anatsui anschauen kann. Daneben gibt es ein Foto von der documenta 4, auf dem Bilder von amerikanischen Künstlern zu sehen sind und einige Szenen mit Menschen im Museum, zum Beispiel in der Neuen Tretjakow-Galerie in Moskau, im Russischen Museum in Sankt Petersburg oder im MoMa in New York mit Kindern, die beim Betrachten des Gemäldes „Der Tanz“ von Matisse die Bewegung, die in dem Bild steckt, aufgreifen. Beim jüdischen Mahnmal in Berlin wiederum tauchen die Menschen lediglich als Schatten zwischen den Steinen auf. Oder ich zeige die Arbeit von Restauratoren in einem Raum der Barnes Collection in Philadelphia mit verschiedenen berühmten Gemälden an den Wänden.
Wenn man 40 Jahre für eine Zeitung gearbeitet hat, geht man doch ständig mit dem fotografischen Blick durch Städte und Orte. Ist das immer noch so?
Auf den meisten meiner Bilder standen immer die Menschen im Fokus. Auf der Straße stehen sie manchmal wie auf einer Bühne. Wenn man einen so unbeobachteten Moment erfassen will, muss man sehr schnell sein. Manche Fotos könnte ich heute gar nicht mehr machen, denn es ist inzwischen viel schwieriger geworden, weil die Menschen viel mehr auf dem „Recht am eigenen Bild“ bestehen.
Zunächst hattest Du in einem Portraitatelier in Karlsruhe eine Lehre gemacht und begonnen zu fotografieren. Wie kam es denn dazu, dass für Dich Aufnahmen außerhalb des Ateliers immer wichtiger wurden?
Das habe ich schon sehr früh gemerkt. Wenn es z.B. für das Fotoatelier den Auftrag gab, eine Hochzeit auch in der Kirche zu fotografieren, bekam, durfte ich die Dinge, die sich am Rand abspielten, fotografieren, so zum Beispiel als eine Fabrikanten Tochter der Firma „Uhu“ in Baden-Baden heiratete. Das war eine sehr feine Hochzeit, wo die Damen noch Hüte trugen. Da wurde mir klar, dass es für mich ein größeres Vergnügen war, solche Atmosphären einzufangen, als im Studio zu arbeiten.
Versace Haute Couture-Modenschau mit Madonna, neben ihr der Photograph Steven Meisel und Paul Beck, Paris 1993, Foto: Barbara Klemm, in „Zeiten Bilder“ (Schirmer & Mosel)
Und dann fiel Dein Blick „auf die Straße“ und auf das, was sich dort tut…
Als ich 1959 zur FAZ kam, dauerte es noch eine Weile, bis ich selbst fotografierte. Zunächst stellte ich Klischees her. 1968 habe ich dann erst so richtig mit der freien Fotografie angefangen.
Wie kam es dazu?
Als ich meinen damaligen Freund und heutigen Mann Leo kennenlernte, war er noch Medizinstudent und wie viele der Studenten an Reformen interessiert. So sind wir zusammen auf Teach-ins und Demos gegangen, wann immer ich Zeit dazu hatte. Das hat meinen Blick für politische Entwicklungen geöffnet. Insofern hat Leo, der gut informiert und kritisch war, großen Anteil an meiner politischen Entwicklung als Fotografin. 1970 bekam ich dann eine Festanstellung als Redaktionsfotografin mit dem Schwerpunkt Politik und Feuilleton und wurde gleich zu Anfang in den Osten geschickt.
War das nicht schwierig in Zeiten des Kalten Krieges?
Das war schon sehr mühsam. Meine erste Reise führte 1970 nach Polen. Dann ging es in die DDR. Glücklicherweise war in Polen damals der noch sehr junge und kompetente Bernhard Heimrich, ein wunderbarer Schreiber und Korrespondent. Mit ihm bin ich an die Oder-Neiße-Grenze gefahren. Eigentlich sollte ich in Warschau mit Außenminister Scheel und dem polnischen Außenminister Jedrychowski zusammentreffen. Aber Scheel war ständig in Brüssel. So habe ich erst an der Oder-Neiße-Grenze fotografiert.
Wie hat denn die Oder-Neiße-Grenze damals auf Dich gewirkt?
Einfach trostlos, grau und deprimierend. Ich hatte den Eindruck, der Krieg ist gerade zu Ende. Außerdem hatten wir immer einen Aufpasser dabei, der dolmetschte, weil Bernhard noch nicht so gut Polnisch konnte. Der Aufpasser machte mir immer klar, dass Vieles, was ich fotografieren wollte, nicht ging. Also stand ich morgens früh vor dem Frühstück auf und verließ das Hotel. Anschließend kam ich dann vom Zimmer wieder runter zum Frühstück, als wäre ich nicht weg gewesen. So kam das wunderbare Bild in Liegnitz mit den drei Generationen auf dem Pferdewagen und mit dem kleinen Pferdchen davor und einem Teil des mächtigen Doms im Hintergrund zustande.
Und wie kamst Du dann an Dein offizielles Foto vom Bundesaußenminister Walter Scheel und vom polnischen Außenminister Jedrychowski, die immerhin die Ostverträge aushandeln mussten?
Wir fuhren nach Warschau zurück und ich fragte den Bundespressesprecher Herrn von Wechmar, ob es eine Chance gäbe, die beiden irgendwo zusammen fotografieren zu können. Er sagte mir, dass es zwar ein Abendessen gäbe, aber keine Presse zugelassen sei. Das Essen der Politiker fand im Hotel Bristol statt. Also zog ich mir einen Rock an, packte den Fotoapparat in meine weiche Umhängetasche und schaute mir an dem nieselig-düsteren Novembertag den Platz an. Das konnte kein vernünftiges Foto ergeben. Was also tun? Da ging ich schnurstracks in die Halle des Hotels, wo zwar die Aufpassertypen in ihren hellen Regenmänteln hockten, aber eine Tür offen stand. Da ging ich ganz zielstrebig hinein. Da fragte mich der Außenminister: „Was machen Sie denn hier?“ „Ich wollte nur mal ein bisschen fotografieren.“ „Dann bleiben Sie mal da.“ So entstanden zunächst langweilige Bilder von Männern mit Sektglas, bis es dann zum Abendessen ging. Dann hatte ich Glück, was man als Fotograf auch braucht, denn dann saßen beide Politiker nebeneinander. Alles war zwar ziemlich dunkel, und im Hintergrund hing ein Gobelin mit einer Liebesszene. Doch bevor Herr von Wechmar sagen konnte: „Nun reicht’s“, hatte ich schon mein Bild gemacht.
Bei Deinen Fotos denkt man vor allem an Schwarz-weiß-Fotos. Was war der Grund, dass Du vor allem Schwarz-weiß-Aufnahmen machtest?
Als das frühere FAZ-Magazin rauskam, haben mein Kollege Wolfgang Haut und ich zunächst zwei Jahre lang für das Magazin gearbeitet, wenn auch nicht mit großen Themen. Die wurden an die ehemaligen Schüler des Stardesigners Willy Fleckhaus vergeben. In der Zeit stellte ich aber fest, dass das nicht meins ist. In der Farbfotografie ist man von so vielen Dingen abhängig, die man nicht beeinflussen kann. Natürlich kann man für ein Magazin Dinge speziell arrangieren. Und es gibt auch hervorragende Fotografen, die das können. Meine Sache war es nicht.
Barbara Klemm: Hinter jedem Bild steckt eine Geschichte, Foto: Petra Kammann
Sieht man die Dinge schwarz-weiß denn konturierter und schärfer auf das Wesentliche reduziert?
Farbe lenkt oft vom Inhalt ab und wirkt wie eine schöne Verpackung, bei der der Inhalt keine so große Rolle spielt. Diese Position habe ich auch immer den Redaktionskonferenzen vertreten, weil das meiner Meinung nach dem Wesen einer Tageszeitung entspricht. Ich war der Meinung, dass die Tageszeitung keine Illustrierte ist, durch die man erst blättert und dann erst anfängt zu lesen. Eine Tageszeitung muss gelesen werden. Da soll das Bild auf den Text neugierig machen, aber den Text auch nicht zu einer Bleiwüste verkommen lassen. Und da erscheint mir ein Schwarz-weiß-Bild geeigneter.
Die Tiefdruckbeilage „Bilder und Zeiten“ war eine kongeniale Plattform für Fotografen wie Dich, nicht zuletzt wegen der ausgezeichneten Druckqualität. Das muss doch ein Glück für Fotografen gewesen sein?
Natürlich, sowohl Wolfgang Haut als auch ich haben beide gerne dafür gearbeitet, zumal diese Seiten anzeigenfrei waren und nichts vom Thema ablenkte. Wo gibt es das schon? Darum haben uns auch die anderen Fotografen oft beneidet. Außerdem waren in dieser Beilage ausgesprochen interessante Autoren vertreten, denen sehr viel Platz für ihre Überlegungen eingeräumt wurde. Da wurden eben nicht nur Häppchen gereicht.
War es dann schlimm für Euch, als die Beilage 2001 eingestellt wurde?
Und wie! Als das FAZ-Magazin herauskam, wollte man die Beilage schon einstellen. Doch hat sich der frühere Herausgeber Joachim Fest hinter die Beilage gestellt. Frank Schirrmacher wollte zunächst mit der gesamten Redaktion nach Berlin umziehen, was aber nicht stattfand. Später wurde dann die Sonntagszeitung entwickelt. Dafür wurde die Tiefdruckbeilage geopfert.
Als Frau warst Du in Deinem Metier auf ziemlich einsamem Posten. Wer hat sich denn hinter Dich gestellt und Dir den Rücken gestärkt, auch die Schreiber?
Blendend in Lateinamerika war Walter Haubrich vernetzt. Wunderbar war aber auch der Japan-Korrespondent Thomas Ross. Als ich bei der FAZ noch nicht festangestellt war, wollte ich in Tokyo, das damals noch aus niedrigen Häusern bestand, fotografieren. Das hat er mir ermöglicht und war offensichtlich von den Ergebnissen sehr angetan. Als er dann als Korrespondent nach Indien wechselte, wollte er auch, dass einer von uns, entweder Wolfgang Haut oder ich, nach Indien kommt. Aber wir beide wollten zunächst da gar nicht hin. Damals spielte sich in Indien vieles auf der Straße ab und die unübersehbare Armut war wirklich unerträglich. Am Ende wurde das eine der interessantesten Reisen, die Thomas Ross bestens vorbereitet hat. Angefangen in Delhi, dann Pandschab, über Laknau und Kalkutta nach Madras, nach Trivandrum, ganz im Süden, wo das Leben nicht so lethargisch war bis schließlich nach Bombay.
Wie hast Du eigentlich all die Reisen im Laufe der Jahre physisch überstanden: den Klimawechsel, die teils schwierigen hygienischen Bedingungen, die Zeitverschiebung. Bist Du nie krank geworden?
Ich war immer sehr aufmerksam und vorsichtig. In den Tempel in Indien habe ich z.B. nie etwas angenommen, was zum Essen angeboten wurde. Natürlich hatten wir Kontakt mit Leuten, die sich im Land auskannten. In Lateinamerika bekam ich wegen der Höhe Migräneanfälle. Das war sehr schlimm. Aber ich konnte mich nicht einfach ins Bett legen, wenn ich nur 8 Tage für eine solche Tour hatte und gute Bilder mit zurück bringen wollte. Nach der Rückkehr musste dann gleich die Dunkelkammerarbeit gemacht werden.
Solche Extreme muss man auch verkraften. Hat es da nicht sogar fast etwas Meditatives, wenn man nach noch nicht verarbeiteten Eindrücken einer aufregenden Reise erst einmal in der Dunkelkammer abtaucht?
Ja, man kommt dann nach all den Anstrengungen auf der Reise wieder runter. Die Dunkelkammerarbeit mit dem Finden der richtigen Tonwerte beim Vergrößern ist der zweite Prozess zur Herstellung eines guten Bildes.
Wolf Biermann, Konzert vor der Ausbürgerung aus der DDR, Köln, 1976, Foto: Barbara Klemmin in „Zeiten Bilder“ (Schirmer & Mosel)
Nochmal zurück zu den Reisereportagen. Das erfordert einen ganz schönen Mut, sich in einer Männergesellschaft zu behaupten. Wie hast Du das geschafft, besonders im Osten?
Natürlich musste man mit den verschiedensten Leuten zusammenarbeiten. So war ich einmal 3 Wochen mit dem Korrespondenten Bernhard Heimrich im Auto von Moskau nach Kiew unterwegs. Unser Begleiter, Übersetzer, Kontrolleur Anatol war unendlich langweilig. Ich konnte mich da oft selbständig machen und vieles fotografieren.
Welche Rolle spielt denn die Sprache, wenn man durch wildfremde Gegenden reist und nichts versteht? Gab es Situationen, wo Du an Deine Grenzen gestoßen bist, weil Du Dich mit den Menschen nicht verbal verständigen konntest?
Viele Reisen habe ich ja mit den Korrespondenten gemacht, die die Sprachen konnten. Natürlich wäre es viel besser gewesen, wenn ich Sprachen besser gekonnt hätte.
Und wie kam es zu den historischen Fotos vom Fall der Mauer am 10. November 1989?
In der Nacht des 9. November kam es nach der Ankündigung von Schabowski zu einem Strom von Menschen aus Ostberlin in den Westen Berlins. Ich flog am nächsten Morgen mit der ersten Maschine nach Berlin und begann zu arbeiten. Dann wollte ich auch wissen, wie es auf der anderen Seite der Mauer aussah. Ich kletterte auf der einzigen Leiter, die es an der Mauer gab, hinauf und sah wie junge Mädchen mit den ostdeutschen Grenzsoldaten flirteten. Da dachte ich mir, es kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Als alle jungen Leute auf der Mauer sich wieder zum Westen umdrehten, konnten wir sehen, dass 3 Oberbürgermeister der Stadt Berlin, Walter Momper, Dietrich Stobbe und Willy Brandt sich vor der Mauer eingefunden hatten, so dass ich das bekannte Foto mit Willy Brandt vor der Mauer machen konnte.
Wo hattest Du beim Fotografieren die größte Angst, zum Beispiel, dass Du von Massen erdrückt werden könntest?
Das war beim Tag der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990. Da wurde die ganze Menge von hinten nach vorne gedrückt. Das war sehr gefährlich. Dabei entstand das Foto mit den Politikern Oskar Lafontaine, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Hannelore und Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker und Lothar de Maizière.
Fall der Mauer, Berlin, 10. November 1989, Foto: Barbara Klemm in „Zeiten Bilder“ (Schirmer & Mosel)
Hat man Dir eigentlich nie einen Film aus der Kamera genommen?
Doch. Zum Beispiel in Portugal, ein Jahr nach der „Nelkenrevolution“, als die ersten Wahlen stattfanden und extrem linke Gruppen demonstrierten. Da habe ich mich auf einen Laternenpfahl gerettet und von oben fotografiert. Ich verstand kein Wort, begriff nur, dass sie mich verprügeln wollten, wenn ich den Film nicht herausnehmen würde. Dies habe ich dann gemacht.
Viele Menschen haben Probleme, wenn sie mit ihrem Konterfei konfrontiert werden. Hat jemand auch schon mal protestiert?
Nein. Ich habe die Aufnahmen, die ich von bekannten und berühmten Personen für die Zeitung gemacht habe, ihnen nie vor der Veröffentlichung gezeigt. Nachdem das Foto mit dem Artikel erschienen war, habe ich den Künstlern als Dank für die Zeit, die sie mir gaben, einige Bilder geschenkt.
Cover des neuen Buches
von Barbara Klemm,
Zeiten Bilder.
Mit einer Einführung
von Norbert Lammert
und einem Nachwort
von Barbara Catoir,
288 Seiten,
136 Duotone-Tafeln,
ISBN 978-3-8296-0877-0,
€ 49.80 €
Gibt es auch verpasste Bilder?
Sehr viele. Es gab Situationen, in denen ich Hemmungen hatte, ein Foto zu machen, wenngleich ich mich dann anschließend oft geärgert habe. So, als wir in China an den Lehmhäusern vorbeigefahren sind und ich fragte, ob man mal anhalten könnte. Da sagte mir die Übersetzerin: Das geht nicht. Punkt. Da habe ich Ruhe gegeben. Man muss in Situationen abwägen können, ob es sich lohnt, auf etwas zu bestehen.
Welche Vorbilder hattest Du, gleich ob menschlich oder fotografisch?
Erich Salomon war für mich ein großes Vorbild für die politische Fotografie. Ich hatte gehofft, dass ich, wenn ich so um die 60 bin, vielleicht einmal mit dem Erich-Salomon-Preis ausgezeichnet würde. Ich erhielt ihn mit dann gerade mal 50, im Mai 1989, vor dem Mauerfall, als die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) „150 Jahre Fotografie“ in Berlin feierte. Das fand ich natürlich großartig. Natürlich fand ich auch Cartier-Bresson herausragend. Bei den Frauen war es Gisèle Freund, die unter anderem sehr gute Autorenportraits gemacht hat, und natürlich Ellen Auerbach. Sie war zu ihren Studienzeiten eine Freundin meiner Mutter, eine Freundschaft, die dann auf mich übergegangen ist. Vielleicht haben meine Bilder eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren, wenn ich an ihre Reportagebilder aus Mexico aus den 50er Jahren denke. Sie war in den 20er Jahren zusammen mit Grete Stern eine Schülerin des Bauhaus-Fotografen Walter Peterhans. Schon vor ihrer Emigration 1933, zunächst nach Palästina, später in die USA, hatte sie zusammen mit Grete das Fotostudio „Ringl und Pitt“ (so die Spitznamen der beiden) in Berlin gegründet, das schon mit Werbefotografie Erfolg hatte.
Du hast im Laufe der Jahre etliche Preise bekommen. Welcher der Preise war Dir besonders wichtig?
Der Max-Beckmann Preis der Stadt Frankfurt am Main, der ja eigentlich ein Preis für bildende Künstler ist, hat mich besonders gefreut, waren es doch die Maler, die mich zu meinen Fotos inspiriert haben. Sie haben nicht nur meinen Blick sicherer gemacht, sie haben mich auch ermutigt, kühne Perspektiven einzunehmen oder entsprechende Ausschnitte zu wagen.
Max Beckmann-Preis-Verleihung in der Paulskirche 2010, v.l.n.r.: Prof. Felix Semmelroth, Leo Hilbert, Barbara Klemm, OB Petra Roth, Foto: Petra Kammann
Was bedeutet Dir der Orden Pour le mérite? Ist diese prestigeträchtigste Auszeichnung die Krönung?
Darüber war ich sehr überrascht. Man bekommt diese noble Auszeichnung für sein Lebenswerk und wird in einen Kreis von 40 deutschen und 40 ausländischen Mitgliedern aus Wissenschaft und Kunst gewählt. Zunächst hatte ich Angst, dazu zu gehören. Denn in diesem Orden sind viele bedeutende Wissenschaftler und Nobelpreisträger wie z.B. Prof. Christiane Nüsslein-Volhard und Prof. Eric Kandel oder Direktoren von Max-Planck-Gesellschaften, wie Prof. Michael Stolleis.
Welche Künstler und Schriftsteller haben Dich besonders beeindruckt?
Bei den Künstlern finde ich es schwierig zu sagen. Bei den Schriftstellern ist es Thomas Bernhard. Als ich ihn auf seinem Vierkanthof besuchen wollte, hatte er gerade „Die Kälte“ aus seiner biographischen Reihe veröffentlicht, in der er seine Kindheit im Lungensanatorium beschreibt. Viele meinten, diese komplizierte Person würde mich vielleicht gar nicht empfangen. Sowohl die Geschichte als auch sein Stil haben mich damals sehr beeindruckt. Als ich zu ihm fuhr, stand das Tor offen. Und ich trat ein in diesen leeren Gewölberaum, in dem nur vier Tische standen. Das war vermutlich mal ein Kuhstall gewesen. Zunächst saßen wir bei einem Expresso in der Küche zusammen und haben ein bisschen erzählt. Als ich ihm sagte, dass mich sein Stil an „Tristram Shandy“ von Lawrence Sterne erinnerte, war er sehr erfreut, weil es auch sein Lieblingsautor war. Dann sagte ich ihm, dass ich den leeren Raum für das Foto von ihm passend zu seinem neuen Buch fände. Das war dann eines der bekannten Bilder von ihm.
Dein Vater Fritz Klemm war Maler, Deine Mutter hat Kunst studiert, war Bildhauerin und Malerin. Spielte es für Dich eine Rolle, dass Deine beiden Eltern künstlerisch gearbeitet haben?
Ganz sicher. Meine älteste Schwester ist auch Künstlerin. Sie modelliert, macht kleine Bronzeplastiken. Die jüngere Schwester hat Schneiderei gelernt und dann Patchworks entworfen. Die jüngste Schwester ist innenarchitektonisch sehr begabt. Ob es so etwas wie ein künstlerisches Erbe gibt, kann ich nicht sagen.