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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Uraufführung der Filmmusik von Karl Bartos zum Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in der Alten Oper

Furchterregend, zeitgenössisch und zwielichtig

Von Petra Kammann

„Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene gilt als ein Meilenstein der Filmgeschichte. Als dieser erste Psychothriller 1920 uraufgeführt wurde, geschah dies ohne Originalmusik. Kurze Zeit später erschien der Film mit einer Musik von Giuseppe Becce, der als virtuoser Komponist und Arrangeur bekannt war. Der expressionistische Schwarz-Weiß-Film mit den Kulissen im Stil des Malers Alfred Kubin galt lange Zeit als verschollen und zerstört. Eine Filmrolle wurde vor 10 Jahren dann aufwändig von der Fritz Murnau-Stiftung in Wiesbaden digital in einer 4K-Fassung restauriert. Im Rahmen der Reihe Film und Musik hatte die Alte Oper Frankfurt dem Ex-Kraftwerk-Musiker und Techno-Pionier Karl Bartos eine komplette Neuvertonung mit den Mitteln der Elektronik in Auftrag gegeben. Im Großen Saal der Alten Oper steuerte Bartos nun bei der Uraufführung höchst persönlich punktgenau und synchron Klänge zu den bewegten und bewegenden Bildern des Filmes auf einer Großleinwand. Sein Sound-Designer Mathias Black arrangierte die Klangregie. Herauskam ein so intensives wie unvergessliches audio-visuelles Erlebnis!

Uraufführung mit dem Komponisten Karl Bartos und Sounddesigner Mathias Black im Großen Saal der Alten Oper, Foto: Wange Bergmann

Hereinspaziert! Eine Stunde vor Aufführungsbeginn erläuterte Karl Bartos in der Alten Oper im Gespräch mit hr-Moderatorin Christiane Hillebrand den historischen Hintergrund, auf dem dieser ausdrucksstarke expressionistische Film mit den schiefen spitzwinkligen Häuser und den nächtlichen, von Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig gemalten Gassen, die Angst und Schrecken der Stadt Hostenwall symbolisieren, entstand. Das Drehbuch für den Film geht auf die Zeit der Romantik zurück und weckt Erinnerungen an Texte und Musiken von E. T. A. Hoffmann oder an die dunklen Texte von E.A. Poe. Eine Avantgarde der Jetztzeit?

Christiane Hillebrand (hr) im Gespräch mit Komponist Karl Bartos im Mangelsdorff Foyer der Alten Oper, Foto: Petra Kammann

Aber zunächst einmal kurz zum Inhalt des Films: Die kleine Stadt Holstenwall lebt in Angst und Schrecken. Der über allem schwebende unheimliche Caligari, ausdrucksvoll gespielt vom damaligen Theaterstar Werner Krauß, stellt auf dem Jahrmarkt einen jungen Mann, den Schlafwandler Cesare, (Conrad Veidt), als Sensation aus. Der sagt gleichsam unter Trance den Schaulustigen die Zukunft voraus. In der Nacht geistert dieser somnambule Cesare dann durch die Straßen und begeht grausame Morde, u.a. ermordet er auch Alan (Hans-H. v. Twardowski), einen der beiden Verehrer der schönen Jane (Lil Dagover).

Weitere ungeklärte Mordfälle ereignen sich. Ein Unschuldiger wird ins Gefängnis gesteckt. Auch die schöne Jane soll durch Caligaris Fremdsteuerung und Hypnose von Cesare getötet werden. Bei einer Verfolgungsjagd bricht der „sensible“ Cesare, der von der Schönheit der fliehenden Jane geblendet ist, zusammen. Jane wird gerettet und Caligari flüchtet in ein Irrenhaus, wo der Verfolger Francis ihn als Direktor der Anstalt, als Dr. Caligari, wiedererkennt.

Die mysteriösen Geschehnisse versetzen natürlich die Stadt in Aufruhr. Francis (Friedrich Fehér), Alans bester Freund und Konkurrent um die schöne Jane, verdächtigt sowohl Caligari als auch Cesare und nimmt auf eigene Faust Ermittlungen auf. Im Laufe dieser Ermittlungen, die er mit dem Personal der Irrenanstalt unternimmt, wird er sich anhand von alten Schriften und persönlichen Tagebuchaufzeichnungen der Geschichte Caligaris gewahr. Offenbar wurde dieser, beseelt durch einen mystischen Fall aus dem 18. Jahrhundert, selbst verrückt. Die Folge:  Er will fortan seinen Willen des hypnotisierten Schlafwandlers brechen und ihn zu kriminellen Taten zwingen. Daher wird Caligari vom Personal der Nervenheilanstalt in eine Zwangsjacke gesteckt.

Doch ist Caligari der scheinbar völlig normale und freundliche Direktor. Hat Francis am Ende den Verstand verloren – oder ist Caligari doch der Wahnsinnige? An ihrer Modernität haben die im Film benutzten Motive der Schwarzen Romantik ebenso wenig etwas eingebüßt wie die Entwicklung der Psychoanalyse oder Psychologie, die zunehmend versucht, die Traumata des Ersten Weltkriegs auf andere Weise zu bewältigen. Im Film werde gewissermaßen als Gegenwehr „das Innere nach Außen“ gekehrt, so Bartos. Vor dem Jahrmaktswagen von Caligari weht die Fahne mit einem abgemagerten, vom Elend gezeichneten Menschen.

Gleichzeitig reicht die Erzählung des Filmstoffs zurück in die Epoche von Johann Sebastian Bach. So habe die zeitliche Verschränkung der zugrundeliegenden Nachkriegsgeschichte dem auch in klassischer Musik ausgebildeten Musiker Karl Bartos die Grundausrichtung für seine Komposition an die Hand, gegeben. Er imaginierte zu der Erzählung der Nachkriegsdepression ein ganzes Orchester. In seinem Klanggewebe finden sich daher Anklänge an kirchliche Barockmusik ebenso wieder wie auch chorale Elemente oder tänzerische Elemente im Jahrmarktstrubel, im Zusammenhang mit dem Auftauchen von Jane sind es eher romantische musikalische Motive. Was die Gegenwart der Moderne bzw. die Zukunft betrifft, so erinnern die eingebauten rhythmischen oder repetitiven Elemente an Kompositionen der Minimal Music eines Steve ReichPhilipp Glass oder John Cage.

Die kommentierende Sprache der auftauchenden Menschen hingegen tritt lediglich als Gemurmel oder Gebrabbel in Erscheinung, besonders, wenn die Stimmung aufgewühlt ist. Die expressionistische Zwischentexte, die immer wieder den Bedeutungszusammenhang herstellen, liest man immer mit. Sie bilden die Scharniere zum Verständnis der Lage und deuten die Stimmungen ebenso wie die synchrone Musik, die Bartos hinzu phantasiert hat. Dabei versetzt er sich in die Rolle der verschiedenen Instrumente, wird zu deren Medium.

Karl Bartos während seiner Erläuterungen, Foto: Petra Kammann

Nach den dramatischen Erfahrungen des industrialisierten massenhaften Tötens im Ersten Weltkrieg müssen die Emotionen der Menschen einfach nach außen dringen. Irritierend ist hinter der Filmhandlung die Psyche der Menschen. Liegt Grausamkeit in ihrer Natur? Frei nach dem Motto „Böse Menschen haben keine Lieder“ trieb Bartos, der sich seit gut 20 Jahren mit dem ihn faszinierenden Film auseinandergesetzt hat, beim Komponieren daher auch die Frage um: Wie klingt das Böse? Welche Tonart kann ihm zugeordnet werden: Dur oder Moll? Auch diese Frage konnte er nicht eindeutig beantworten, weswegen er ein ganzes vielstimmiges Orchester ersann, das die Handlung begleiten oder kommentieren solle.

Zu seiner Grundfrage zählte auch: „Was wäre, wenn ich die Geräusche der Welt wiederherstelle?“ So hängt das Thema der Lautstärke wiederum mit der jeweiligen Dramatisierung der Situation zusammen. Da wirken die leiser oder lauter werdenden Tritte auf den in schwindelnde Höhen führende Treppenstufen ebenso unheimlich wie das reine Ticken einer Uhr oder das Quietschen einer Tür, welches den Thrill der jeweiligen Szene gegenüber den wiederkehrenden lauten und volkstümlichen Jahrmarktszenen erhöht. In sie sind sowohl eher heitere Drehorgelszenen wie auch marktschreierisches Auftrumpfen eingebaut. Natürlich war nach all dem Leid des vergangenen Krieges auch das Bedürfnis nach unbelasteter Unterhaltung vorhanden. Hingegen wirkt im Falle von Caligaris Auftreten mit den rollenden und unheilverkündeten Augen zum Beispiel das Fagott oder der starke Orgeleinsatz außerordentlich bedrohlich und furchterregend, während bei der Beerdigung des ermordeten Alans die Orgelklänge eher an damit verbundene Trauerriten erinnern.

Während der Aufführung sitzt Bartos vor seinem elektronischen Keyboard unter dem großen Filmbild so, als spiele er im Verlauf des Films auf der Tastatur eines Klaviers. Dabei zieht er die verschiedenen Register bzw. die Stimmen der verschiedenen Instrumente, um den Klang eines realen Orchesters zu simulieren. Nichts in diesem imaginierten Orchester ist eindeutig zuzuordnen ebensowenig wie in der Rahmenhandlung, als Francis in die Heilanstalt zurückkehrt, und er dann alle Beteiligten als Insassen antrifft –oder wie Caligari, der als gütiger Anstaltsleiter nun angibt, den Schlüssel zur Heilung von Francis zu kennen. Ratlos fragt man sich: Was stimmt hier eigentlich, und wer ist nun wahnsinnig, Caligari oder Francis? Am Ende alle? Diese Frage lässt der Film am Ende ebenso offen wie die nach der (Er)Lösung der „Doppelgänger“. Denn die Geschichte um den zwielichtigen Dr. Caligari bleibt bis zur letzten Szene ein surreal-expressives Spiel um Wahn und Traum, um Hirngespinst und Schlafwandelei.

Filmstill aus: Das Cabinet des Dr. Caligari, Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung

Interessant, dass in der Entstehungszeit der Weimarer Republik und mit ihr verbundenen sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise der Stummfilm auch schon ein Jahr später nach der Uraufführung auf Interesse in damaligen Weltstädten wie Paris und New York stieß. „Dieser Film ist etwas ganz Neues … – die größte von allen Seltenheiten: ein guter Film“,  schrieb Kurt Tucholsky, während der Soziologe Siegfried Krakauer in dem tyrannischen Hypnotiseur Caligari einen Vorboten Hitlers sah und in den albtraumhaften Bilderwelten Anzeichen eines drohenden Unheils der späteren Nazidiktatur. „Da Deutschland so verwirklichte, was in seinem Film von Anfang an bereits angelegt war, nahmen die Leinwandgestalten tatsächlich Leben an“, so Kracauer:

Das würde die Geschichte der verschwundenen kostbaren Filmrolle selbst, die bemerkenswert ist, wohl bestätigen. 1922 war sie von der Decla-(Bioscop AG) zur UFA (Universum-Film Aktiengesellschaft) und 1935 von dort aus ins Reichsfilmarchiv gewandert, von wo aus sie 1945 nach Moskau gelangte. Erst in den frühen Siebzigern wurde sie dann dem Staatlichen Filmarchiv der DDR wieder übergeben und 1990 in den Bestand des Bundesfilmarchivs aufgenommen.

Als Pionier der Elektronischen Musik beschäftigt sich das ehemalige „Kraftwerk“-Mitglied Karl Bartos, der schon von Fritz Langs Film „Metropolis“ fasziniert war, seit fast 20 Jahren mit diesem Pionierwerk der Filmgeschichte. Damals wie in „Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn“ war für ihn wohl eher das zeitgenössische Thema zum  Verhältnis „Mensch  und Maschine“ akut. Nun ging es eher um das maschinelle Töten, das sich auch im heftigen Rhythmus der Musik wiederfindet und um das allmähliche Verschwinden von Realität und das gleichzeitige Entdecken virtueller Realitäten. Dabei ist ihm eine komplette Neuvertonung gelungen.

Experiment gelungen: Karl Bartos Musik, Elektronik und Sounddesign und Mathias Black, Klangregie, Technische Leitung, Foto: Wonge Bergmann

Der Applaus des Publikums und das anschließende Gedränge beim Signieren seiner Schallplatten und CDs im Foyer sprachen eine eindeutige Sprache. Die Begeisterung war immens und die Botschaft war angekommen. Und vielleicht ist der Stummfilmklassiker ob der digital restaurierten Filmgrundlage von erschreckender Aktualität. Dank der gewaltigen orchestral angelegten Komposition mit den Mitteln der Elektronik hat Bartos einen weiteren virtuellen Raum erobert, dem man sich nicht entziehen kann. Auch der ist jetzt digital verfügbar mit allen Gefahren, die darin stecken. Und lebt aber doch auch von den anwesenden Akteuren, die ihn vor Publikum zum Leben erwecken können wie ein Karl Bartos, der die Partitur zunächst mit der Hand und für Klavier geschrieben hatte und ein Mathias Black, der elektronisch die richtige Mischung herstellt, auch vor großem Publikum…

www.alteoper.de

→ Film und Musik: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in neuem Klanggewand von Karl Bartos in der Alten Oper

 

 

 

 

 

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