documenta 13 in Kassel (19)
Geoffrey Farmer: „Leaves of Grass“
Zeit und Geschichte – vergänglich wie Gras …
„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras
und alle Herrlichkeit des Menschen
wie des Grases Blumen.
Das Gras ist verdorret
und die Blume abgefallen.“
Johannes Brahms leitet den 2. Satz seines berühmten „Ein Deutsches Requiem“ mit diesen Versen aus dem Ersten Petrusbrief ein.
Beziehungsreich nennt Geoffrey Farmer seine für die documenta 13 produzierte Arbeit – den letzten Teil einer grösser angelegten Trilogie – „Leaves of Grass“. Und grossdimensionierte Gräser hat er darin verarbeitet, mächtige, trockene Stängel legen Zeugnis davon ab.
Es ist eine dreidimensionale Schattenspiel-Collage aus Fotografien, entnommen aus 50 Jahrgängen des US-amerikanischen fotojournalistischen Magazins LIFE, konkret den Jahrgängen 1935 bis 1985. Fast alle der abgebildeten Personen des privaten wie öffentlichen Lebens sind inzwischen verstorben.
LIFE, im Jahr 2000 jedenfalls in seiner bekannten Form endgültig eingestellt, war das Fotomagazin, aus dem Zigmillionen Amerikaner ihr historisches und politisches Weltbild bezogen. Es ist nicht verfehlt, von einer damaligen Vormachtstellung der Fotografie für die öffentliche Meinungs- und die politische Willensbildung, ja für die Geschichtsschreibung zu sprechen. Dann machte das sich grossflächig durchsetzende Fernsehen, das Niveau mancher Fotoserien unterbietend, solchen Printmagazinen den Garaus.
Die vom Künstler ausgewählten Jahrgänge fallen in die Zeit der Unruhe und des Faschismus in Europa, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs mit seiner das Mass menschlichen Vorstellungsvermögens übersteigenden Zahl von 50 bis 70 Millionen Getöteten und Ermordeten, in die Zeit des europäischen Wiederaufbaus und vor allem des Kalten Kriegs mit dem Eisernen Vorhang zwischen Ost und West.
Farmers Arbeit entspricht der Dimension der fünf ausgewählten Dekaden: Über 16.000 einzelne Fotografien aus LIFE wurden ausgeschnitten und montiert; ein Stab von – wie wir lesen – 40 Mitarbeitern war daran beteiligt. Die schon skulptural anmutende Arbeit im Seitenlichtflur der Neuen Galerie an der Kasseler „Schönen Aussicht“ misst 40 Meter an Länge. Da sie beidseitig zu betrachten ist, haben die Besucherinnen und Besucher des Kunstwerks ein Defilee von 80 Metern zu bewältigen.
Wieviel an Zeit ist angemessen, die 16.000 Fotos, in der Montage durchaus sortiert und komponiert, anzuschauen und zu „verarbeiten“? Eine Stunde, ein Tag, eine Woche?
Leaves of Grass, 2012, Ausgaben des Magazins LIFE 1935 – 1985, hohes Gras, Holz, Klebstoff, Masse variabel (Ausstellungsansichten und Details), Courtesy der Künstler
Geoffrey Farmer wurde 1967 in Eagle Island, British Columbia geboren. Er studierte am Emily Carr Institute of Art and Design in Vancouver und am San Francisco Art Institute. Der Künstler lebt und arbeitet in Vancouver
Fotos: FeuilletonFrankfurt