Nachhaltigkeit als Prinzip: der DAM-Architekturpreis 2024
Berlin bildet den Schwerpunkt der Szene – Holz wird Lieblingsmaterial
Von Uwe Kammann
Wenn es ein Wort gibt, das nachhaltig die gegenwärtige qualitative Bewertung von Architektur prägt, dann ist es eben genau diese Eigenschaft: Nachhaltigkeit. Das fiel schon beim letztjährigen Architekturpreis des Deutschen Architekturmuseums (DAM) auf, und das war/ist auch in diesem Jahr nicht anders. Das gilt in erster Linie für die Auswahl der Materialien, das gilt für die technischen Rahmenbedingungen und die Ausstattung, gerade im Hinblick auf die energetischen Grunddaten. Das gilt auch für die Bauaufgaben, mit einem Vorrang: Um-, An- und Weiterbau statt Abriss und Neubau; und ebenso für die Nutzungen, mit einem fixen Credo: Flexibilität in jeglicher Richtung.
Genereller Trend? Schild im Ausstellungsraum des Deutschen Architekturmuseums, Foto: Uwe Kammann
Die Chancen, die vorherrschenden Tendenzen zu erfassen oder auch durch jurierende Aufmerksamkeit zu fördern, sind dabei in der Vorgehensweise des DAM-Preises gut verankert, weil er strukturell mehrstufig aufgebaut ist. In der diesjährigen ersten Entscheidungsrunde wurden aus den rund 200 Vorschlägen einer Expertenkommission und der Architektenkammern in Deutschland 104 Projekte nominiert („Longlist“), die dann im zweiten Schritt auf 24 Projekte eingedampft wurden („Shortlist“). Daraus kürt die Jury dann, gleichsam als breitere Spitze, fünf Finalisten, von den sich einer die Krone des DAM-Preises aufsetzen darf.
Presserundgang durch die Ausstellung im DAM-Museum im Ostend mit den Juroren, Foto: Diether von Goddenthow
Dabei ist das Spektrum – dies gehört zum Grundprinzip – sehr groß. Es umfasst, so drückte es DAM-Direktor Peter Cachola Schmal im letzten Jahr mit genereller Aussagekraft aus:„Äpfel, Birnen, Pflaumen, Nüsse“- und dies in einem Maßstabsfächer von groß (diesmal übrigens mit eher bescheideneren Maßen) bis winzig (naja), wie bei einem Wohnhaus und einem Toilettenhäuschen.
Das Grundziel des Preises formulieren die Veranstalter so: ein „möglichst umfassendes und vielfältiges“ Bild des zeitgenössischen architektonischen Schaffens (hier: im Zeitraum Ende 2021 bis Frühjahr 2023) aufzuzeigen. Dabei werden drei Kriterien hervorgehoben: Die besten Bauten sollen originelle, experimentelle und schulbildende Eigenschaften vorweisen.
Lassen sich unter diesen Vorzeichen aktuelle Tendenzen ablesen? Nun, unter dem Stichwort originell lässt sich kaum ein Bau klassifizieren. Auch experimentell muss eher klein buchstabiert werden (der einzige wirkliche Kandidat in diesem Sinne, ein eleganter Versuchsbau aus Carbonbeton, kam nicht einmal auf die 24er-Kurzliste). Eher lassen sich die schulbildenden Eigenschaften an der Auswahl ablesen.
Mit Holz verkleidet: Mehrgenerationenhaus und genossenschaftliches Wohnen in Bad Aibling von Florian Nagler Architekten, Foto: Uwe Kammann
Das beginnt bei der Materialdominanz, denn Holz macht inzwischen bei erstaunlich vielen Architekten das Rennen, läuft dem lange dominierenden Beton mehr und mehr den Rang ab. Und, nicht minder bemerkenswert, Bauen am und Bauen mit dem Bestand – von der Renovierung bis zu einer Um-Ordnung oder einer addierenden Neu-Interpretation – ist bei knapp der Hälfte der ausgewählten Bauten das Mittel der Wahl.
Das Primat des Neubauens um jeden Preis ist also längst gebrochen. Dies gilt ja auch übergreifend: Beim Hochhauspreis des DAM wurde zuletzt ein Turm in Melbourne ausgezeichnet, der in vielem genau den Kriterien Umnutzung, Weiterbau und im weitesten Sinne Nachhaltigkeit entspricht. Eine Steigerung des Ganzen: die inzwischen oft erhobene Forderung nach Verzicht: kein Bauen gilt inzwischen manchen Architekten und Theoretikern als das beste Bauen.
Was beim jetzigen Wettbewerb erkennbar fehlt (wurde es vermisst?): die hochrepräsentativen Großbauten, die bewusst auf markante Formen setzen, auf das, was heute gerne als ‚signature architecture’ bezeichnet wird. In den letzten Jahren waren – wenn man dieses Kriterium etwas erweitert – auch herausragende Kulturbauten wie die James-Simon-Galerie auf der Berliner Museumsinsel oder der Dresdner Kulturpalast ganz oben auf dem Podium gelandet.
Das Casalsforum von Staab Architekten , Foto: Petra Kammann
Das fiel diesmal in den Dimensionen viel bescheidener aus, mit zwei Konzerthäusern: einmal einer neben einer Altvilla behutsam eingegrabenen, im Innern hochexpressiven Musikbegegnungsstätte in Lichtenberg (Architekt: Peter Haimerl); dann mit dem Casals-Forum in Kronberg von Staab Architekten, ein der Musik gewidmetes Bauensemble, das bislang alle Besucher mit seinem hellgänzenden, schwebenden Helmdach und dem organischen Inneren des Konzertsaal begeistert.
Auch Schmal sieht darin ein „hervorragendes Projekt“, aber eben auch eines in der Peripherie. Denn in Frankfurt, so sein eigenes Echo auf Regionalpatriotismus, sei unter Preisgesichtspunkten „wieder mal nix“. Allerdings, hier sind vielleicht doch Fragezeichen zu setzen. In der 104er-Langliste – deren Projekte im „Architekturführer Deutschland 2024“ (DOM publishers) alle vorgestellt werden, mit bestens formulierten, die Bauten charakterisierenden Begleittexten – finden sich durchaus Frankfurter Beispiele, die einen Weg in die Shortlist verdient hätten.
Da ist der relativ filigrane, in sich raffiniert verschobene Doppelturm (Eike Becker) der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mitten im Europaviertel. Da ist das Büro- und Hotelhochhaus ONE (Meurer Generalplaner), gleich am Anfang eben dieses immer noch neu wirkenden Quartiers (dem erst jetzt mit Mühen ein U-Bahn-Teilstück eingepflanzt wird). Und da ist die Aufstockung von drei schlichten 60er-Jahre-Häusern, deren Satteldächer durch Staffelgeschosse mit Flachdächern ersetzt wurden.
Das ist nicht spektakulär, beileibe nicht, aber es ist eine architektonische Lösung, die in bester, unaufgeregter Weise sozialpolitischen Forderungen entgegenkommt. Und die an das erinnert, was das den Preis begleitende „Deutsches Architektur Jahrbuch 2024“ (verlegt wie immer bei DOM publishers, herausgegeben vom auch für die Ausstellung verantwortlichen DAM-Trio Christina Gräwe, Yorck Förster und Peter Cachola Schmal) in einem Nachruf als zentralen Satz des verstorbenen Architekten Arno Lederer zitiert: „Nicht die Architekten sagen der Stadt, wie sie sein soll, sondern die Stadt sagt den Architekten, was sie war, was sie ist und was sie sein will.“ Auch der Satz im Nachruf auf den so unbestechlichen wie humanorientierten Architekturkritiker Wolfgang Pehnt kommt einem sofort in den Sinn, wonach das große Versprechen des Neuen Menschen in neuen Häusern gescheitert sei.
Urbanes Theater: Baulich verschränkt und offene Bühne zur Straße vom Büro June 14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff, Foto: Petra Kammann
Nun gut, das klingt vielleicht zu apodiktisch. Aber ein solches Ausrufezeichen liegt nicht fern, wenn man bei den jetzigen Finalisten die ‚Baugruppe Kurfürstenstraße’ in Berlin (vom Büro June 14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff) näher betrachtet. Dabei handelt es sich um einen Wohnkomplex, der aus sechs ineinander verschränkten Baukörpern besteht. Die doppelhohen Räume der Wohnungen lassen viele Konfigurationen und Kombinationen zu. Sie sind alle raumhoch verglast – das Privatleben kann lediglich durch Vorhänge geschützt werden. Der Jury-Begleittext lobt die „Auflösung und Verschmelzung von öffentlich und privat, von innen und außen“. Auf der Ausstellungstafel im DAM wird die Bühnenfunktion herausgestellt – Leben als Inszenierung fürs städtische Publikum.
Ist das im weiten Sinne vorbildlich, kann oder soll es Schule machen? Zweifel sind wegen der auf Exhibition setzenden Konzeption erlaubt. Auch die städtebauliche Einbindung („Verzahnung“) in den Stadtraum mit Vor- und Rücksprüngen wirft Fragen auf. Ist das nicht genau die selbstherrliche, auch eitle Negierung eines klassischen Straßenverlaufs im Block, unter der Vorgabe, damit moderne, fluide Lebensentwürfe zu fördern und „neue Identitäten zu generieren“, wie es dem Architektur- und Designbüro vorschwebt? Ohnehin: Der äußere Kontrast zum direkten Straßennachbarn, der Berliner Hochschule für Technik mit ihrer martialisch-massiven Säulenfassade, könnte nicht größer sein.
Wer wissen will, wie gesellschaftliche Mikro-Utopien im heutigen Jargon (natürlich genderkonform) formuliert werden, der sollte unbedingt die Selbstbeschreibung lesen: (https://www.baunetz-architekten.de/meyer-grohbruegge/7862338/projekt/8038106). Kostprobe:
„Die Bewohner*innen sind eingeladen, die traditionellen Grenzen zwischen sich und ihren Nachbar*innen neu zu verhandeln. In einer ähnlich einladenden Geste durchbricht die sägezahnförmige Anordnung der Türme die undurchdringliche Mauer der europäischen Blockstruktur, die das Öffentliche vom Privaten trennt.“
Peter Cachola Schmal erläutert das aufgestockte Hamburger Wohnhaus, Foto: Petra Kammann
Das traditionelle Gegenbild verkörpert in Reinform ein Hamburger Blockrandhaus, dessen im Kriege gekapptes Dachgeschoss von Trutz von Stuckrad Penner Architekten wieder aufgebaut und aufgestockt wurde. Das ist selbstredend repräsentativer als das eingangs erwähnte Frankfurter Siedlungsbeispiel, handwerklich beeindruckend mit der am Originalbestand orientierten Ziegelverblendung, individuell reizvoll durch die skulpturalen, mit Blech verkleideten Dachausprägungen. Klar ist, dass diese hohe Einzelqualität ihren Preis hat. Doch gleichzeitig ist dieser Bau ein Beleg dafür, dass sich in den Städten durch Aufstockung und Nachverdichtung einiges an zusätzlichem Wohnraum schaffen lässt.
Holzmodell des Hamburger Wohnblocks mit aufgestocktem Dachgeschoss von Trutz von Stuckrad Penner Architekten, Foto: Petra Kammann
Beim Rundgang durch die Ausstellung kritisiert DAM-Direktor Schmal deshalb nachdrücklich die zögerliche bis blockierende Haltung der Planungsämter und Baubehörden. So wie er auch jüngst in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk angesichts des Mangels an bezahlbaren Wohnungen forderte, Nachverdichtung zu fördern. Dies gehöre angesichts des Mangels zu den probaten Gegenmitteln, scheitere aber nicht nur an obrigkeitsgelenkten Vorgaben, sondern auch am fast schon obligatorischen (egoistischen) Widerstand der Nachbarn. Was er in diesem Zusammenhang ebenso forderte: gezieltes sozialverträgliches Bauen durch die öffentliche Hand, auch im großen Siedlungsmaßstab. Es brauche eine „Neue Heimat 2.0“ (natürlich ohne die innere Korruption).
Beispiele mit solchen Anforderungsprofilen sind beim jetzigen Architekturpreis nicht zu finden. Es gibt schöne Einzelprojekte in genossenschaftlichen Modellen oder auch von Mehrgenerationenanlagen wie beim Ensemble der Andreasgärten in Erfurt (Dorschner Kahl Heine aus Leipzig), aber kein Beispiel dafür, wie im eigentlich erforderlichen größeren Maßstab mit hoher Qualität und individuellen Konfigurationen seriell gebaut werden könnte.
Digitale Präsentation des Siegerbaus von Max Hacke und Gustav Düsing, Foto; Uwe Kammann
Was hingegen auffällt, gerade am Siegerprojekt: die gekonnte Hinwendung zum Leichten, zum Grazilen, zum Schwebenden. Wobei verblüfft, dass die jungen Architekten Gustav Düsing und Max Hacke mit dem Studierendenhaus für die Technische Universität Braunschweig zu ganz ähnlichen Wirkungen kommen wie im letzten Jahr die Mitarbeiter des ‚klassischen’ Büros Auer Weber Architekten mit dem Landratsamt in Starnberg. Auch ein Nominierten-Seitenblick lohnt unter diesem Gesichtspunkt unbedingt, nämlich auf die vorbildliche Renovierung des Wohnhauses des Meisters der leichten Anmutung, Egon Eiermann.
Die Gewinner des DAM-Preises 2024 Gustav Düsing und Max Hacke für das Studierendenhaus der TU Braunschweig, Foto: Petra Kammann
Die beiden jetzigen Preisträger sind im Vergleich mit der Landratsamts-Erweiterung noch viel radikaler mit ihrem leichten zweistöckigen Bau. Er löst mit seinem ingeniösen Stahltragewerk, den eingeschobenen inneren Terrassen und der vollkommen transparenten Fassade tatsächlich das Versprechen ein, den Studenten vielfältige Arbeits- und Begegnungsmöglichkeiten zu bieten – als Basis für ein Arbeiten, das Individualität mit Austausch und sozialer Interaktivität verbindet.
A und O der Sieger-Konstruktion; das Stahlrohrtrageelement, Foto: Petra Kammann
Die begleitenden Wertungen durch die Jurymitglieder sind eine einzige Lobeshymmne, wobei die beiden Architekten (welche noch als wissenschaftliche Mitarbeiter einen internen Wettbewerb der Universität gewonnen hatten) sich über weitere hohe Anerkennung (so mit dem Deutschen Architekturpreis und einem niedersächsischen Pendant) freuen dürfen. Das freie soziale Organisationsprinzip ihres Baus verkörpern sie auch in der eigenen Arbeitsweise. Sie führen jeweils eigene Büros, bei denen Mitarbeiter jeweils projektabhängig andocken. Statt großer Einheiten also größtmögliche Flexibilät („es soll niemand durchgefüttert werden“).
DAM-Chef Peter Cachola Schmal mit den Architektendes Kunstraums Kassel, Foto: Petra Kammann
Auch drei der vier übrigen Finalisten können überzeugen. So der Umbau einer in den 30er Jahren äußerst luxuriösen Autogarage (beheizte Einzelboxen!) an der Kantstraße in Berlin von Nalbach + Nalbach zu einem Ausstellungshaus. Lange Zeit war fraglich, ob dieser nach außen großzügig verglaste Pionierbau mit den raffinierten inneren Rampen erhalten bleiben könnte. Die Umnutzung gelang vorbildlich, bei sorgfältiger Behandlung der alten Substanz – von der Betonummantelung über die Farbgebung bis zu den Drahtglasfenstern der Fassade.
Der von Innauer-Matt gestaltete Neubau „Kunstraum Kassel, Foto: Petra Kammann
Ein kompletter Neubau ist hingegen der ‚Kunstraum Kassel’, eine kubische Ausstellungshalle im Innenhof der Kunsthochschule, die mit ihrem rational-eleganten Äußeren (Anfang der 60er Jahre entworfen von Paul Friedrich Posenenske) einen vollkommenen Rahmen bildet für den aus schwarz lasiertem Holz eingefassten strengen Bau (Innauer-Matt Architekten), der nur durch helle Rahmentüren einen besonderen Akzent bekommt; der dazu raffiniert belichtet wird durch in die Wände eingelassene Glaslisenen, angebracht in einem engen symmetrischen Muster. Der ohne Stützen auskommende, mit hellem Holz ausgekleidete Innenraum ist ein funktionaler Alleskönner, einladend durch die lichte Größe, zugleich vielfältig zu nutzen – für heutige Großbilder ebenso wie für kleinteiligere Einzelaktivitäten. Peter Cachola Schmal schwärmt vom Gesamtensemble, nicht zuletzt wegen der unmittelbaren Nähe zum Auengelände der „documenta“ (wird es sie noch geben?).
Jurorin Christina Gräwe vor Dante II, Foto: Petra Kammann
Eine Besonderheit weist der weitere Finalist auf, das Projekt ‚Dante II’ (Florian Nagler Architekten): Der große Block, bestimmt für soziales Wohnen, wurde über einem vorhandenen Parkplatz errichtet. Und ist damit die Fortsetzung einer ebenfalls aufgeständerten Wohnbebauung am Dantebad in München aus dem Jahr 2016, die schon damals viel Aufsehen erregt und Anerkennung gefunden hatte. 144 Wohnungen konnten im neuen, licht wirkenden Haus mit seinen hellen Farben und sanften seitlichen Abrundungen untergebracht werden. Wegweisend außer der Wohn-Park-Kombination ist auch das Bauverfahren selbst, mit einer Hybridkonstruktion aus einem Beton-Tragewerk und aus Holz vorgefertigten Wand-, Decken- und Fassadenelementen. Die Bäder sind als Funktionsräume bereits vorinstalliert.
Das (sensationelle?) Gesamtergebnis dieser Methodenkombination: Die Montagezeit betrug gerade einmal ein Jahr. Ob auch dies ein Grund war, dass Bundesbauministerin Geywitz sowohl bei der Verleihung des DAM-Preis als auch des Deutschen Architekturpreises anwesend war? Schaden konnte es jedenfalls nicht, weil Anschauung und das direkte Gespräch mit den Akteuren der Branche den Agierenden an allen beteiligten Grünen Tischen doch die Augen öffnen könnten, was möglich ist, wenn nicht neben politischen Scheuklappen auch tausendfache Normen und ein überbordender Sicherheitsfetischismus den (verhindernden) Takt vorgeben.
Toilettenanlage im Weimarer Park an der Ilm vom Büro Naumann/Wasserkampf, Foto: Petra Kammann
Die Jury konnte es sich übrigen nicht verkneifen, bei ‚Dante II’ auch die Perspektive auf eine Umnutzung der Parkplätze (die es nicht nur im Luftgeschoss unter dem Bau, sondern auch im Innenhof gibt) als positive Zukunftsaussicht zu unterstreichen. Das Auto als wesentlicher Bestandteil unserer Mobilität und unserer Lebenswirklichkeiten ist bei Zeitgeist-Stadtplanern und -denkern augenscheinlich komplett untendurch. Wie es zu ersetzen wäre, ohne Wirtschaft und Bewegungsmöglichkeiten vieler Menschen empfindlich zu treffen: das bleibt völlig offen. Beim Bauen selbst gibt es auch seit längerem eine Basisbewegung, die jedes neugegossene Fundament für Teufelszeug hält und statt auf notwendiges Erstellen von Wohn- und Nutzraum allein darauf setzt, CO2 zu vermeiden.
Auch beim DAM-Preis lohnt es sich deshalb sehr, neben den ausführlichen Beiträgen zur 24er-Kurzliste, welche im wie immer perfekt redigierten Jahrbuch versammelt sind, auch die Langliste sorgfältig zu studieren (was außer im Architekturführer auch online geht, per dam-preis.de).
Denn schnell wird deutlich, wie vielfältig die Bauaufgaben sind, dass es also nicht nur um Wohnungen und Büros geht. Vorbildliche Feuerwachen, Justizgebäude, Polizeiverwaltungen und städtische Betriebshöfe finden sich unter den 104 Bauten, auch reizvolle Sportanlagen wie ein neues Projekt (Dietrich/Unterfaller) im so einmaligen Münchner Olympiapark oder die neue Akademie des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt (kadawittfeldarchitektur). Kindertagesstätten und Schulen wirken noch auf uns Erwachsene einladend, wobei – schon traditionell – hier das Büro Behnisch Architekten eine besonders glückliche Hand hat, wie eine neue Grundschule in München zeigt.
Auch Bauten der Kirche überzeugen mit einer bewundernswert bewahrten Sorgfalt oder auch einer überwältigenden Eleganz und Schönheit (perfekt: die Neugestaltung des Diözesanmusums Freising durch das Büro Brückner & Brückner). Dass auch noch herausragende Neubauten entstehen können (obwohl ja die große Zeit der 60er und 70er Jahre auf diesem Gebiet vorüber ist), das beweist die Erlöserkirche in Köln-Weidenpesch. Das Büro Harris + Kurrle hat einen in seiner differenzierten Kubatur außergewöhnlichen Bau entworfen, der mit seinen teilornamentalen Ziegelfassaden und seiner innere Lichtführung eine intensive Sakralatmosphäre vermittelt. Dies gelingt auch, in erhabener Schlichtheit, der Waldnaabkapelle in Tirschenreuth, vom Büro Brückner & Brückner in einer Beton-Holz-Kombination entworfen. Reduzierter geht es eigentlich nicht – mit einer umwerfenden Wirkung.
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Kurios fast, wieviel Lob eine schlichte Toilettenanlage im zentralen Weimarer Park an der Ilm erntet. Natürlich liegen die Vorzüge der sorgfältigen Gestaltung (Naumann/Wasserkampf) in diesem überaus schönem Landschaftsgarten auf der Hand. Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob nicht gerade bei einem solchen Objekt serielle Überlegungen die Hauptrolle spielen sollten. Hier wird hingegen gerade die individuelle Entwurfspraktik auch bei der Innenausstattung hervorgehoben. Wer in Frankreich reist, ist in der Regel angetan von dort oft einheitlichen „WC public“. Dies gilt gerade auch an Autobahnen, wo diese Einrichtungen den deutschen Scheußlichkeiten (außen wie innen) weit überlegen sind.
Auch Großbauten finden sich unter den Nominierten, die zeigen, dass eigentlich banale Bauaufgaben wie Büros mit ungewöhnlichen Ideen zu ganz neuen Lösungen führen können. So schirmt das Büro Barkow Leibinger mit einem 300 Meter langen, in sich leicht geknickten Riegel ein Berliner Quartier vom Lärm einer S-Bahn-Linie ab. Ein weiteres besonderes Beispiel bietet das ‚Eiswerk’ in Berlin. Hier hat das Büro GRAFT, ausgehend von einem Industriebau, einer Eisfabrik, ein hoch attraktives Ensemble errichtet – durch Sanierung, Umbau und Neubau. Der Gesamtkomplex mit seiner Mischnutzung von Gewerbe und Gastronomie ist logischerweise keine Insel, sondern ein belebender Faktor für das gesamte innerstädtische Areal.
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Vieles ließe sich noch aufzählen und erwähnen. Seien es die Beispiele aus dem ländlichen Raum, bei denen traditionelle Elemente wie die wettergeprägten Dachformen neu interpretiert und kombiniert werden, naturgemäß in der Regel mit Holz instrumentiert. Völlig anderen Zielvorgaben folgt eine übergroße Stahlkonstruktion aus dem Mero-System, die als l’art-pour-l’art-Element (entworfen vom Büro modulorbeat) einem alten Vergnügungspark aus DDR-Zeiten einen neuen Mittelpunkt geben soll, mit vielfältigen Möglichkeiten der Begegnung – ein wenig erinnert das Konzept an das Studierendenhaus in Braunschweig. Ob allerdings eine überdimensionale Stahlskulptur ohne bedeutende Schutzmöglichkeiten vor Regen der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob die komplett grünverhangene Calwer Passage in Stuttgart (der Architekt Christoph Ingenhoven hat kürzlich auch mitten in Düsseldorf ein grünes Ausrufezeichen gesetzt) mehr sein kann als ein zeitkonformes Klimasignal.
Das deutlichste Signal des DAM-Architekturpreises 2024 ist allerdings ein regionales. Kurz gesagt: Die interessantesten architektonischen Partituren werden eindeutig in Berlin konzipiert, komponiert und auch gespielt, das Zahlenbild bei den 104 Nominierten ist eindeutig. Ob die übrigen Regionen in Deutschland aufschließen können, ob Bayern und Baden-Württemberg zu früherer Architekturstärke zurückfinden? Das bleibt offen, ebenso, ob Frankfurt einmal wieder ganz oben mitmischen kann. Eines ist sicher: Mit solchen Mätzchen wie den diagonalen Zierstreifen an den Türmen des hochverdichteten Rossmarkt-Ensembles „Four“ ist kein Staat zu machen. Und ob je Oper und Schauspiel mit einem neuen Kleid glänzen können, das ähnliche Loblieder erntet wie …?
Vorbild für die Umnutzung des jetzigen DAM-Gebäudes im Ostend: umgebautes Bahnhofsvewaltungsgebäude in Nürnberg?, Foto: Uwe Kammann
Oder ob auch hier Umbau und Sanierung statt Neubau das Rennen machen? Da lässt sich nur vorhersagen, dass bei beiden Modellen das Architekturmuseum schon wieder mindestens eineinhalb Jahrzehnte im (vielleicht schon wieder renovierungsreifen?) alten Haus am Schaumainkai seine Aktivitäten entfaltet. Ob die Villa mit dem quadratfixierten Ungers-Interieur im nächsten Jahr schon bezugsfähig ist? Man hat den Eindruck, dass DAM-Direktor Schmal im Ausweichquartier am Danziger Platz alles andere als unglücklich ist. Was daraus übrigens werden könnte, das zeigt ein Exponat in der Ausstellung: der Umbau einer ähnlichen Linie folgenden Bahnhofsverwaltung aus den 60er Jahren in Nürnberg (Andreas Ferstl Architekten).
Nun, es könnte sein, das aus den inzwischen vielfältig genutzten Räumen der jetzigen Heimat des DAM-Ostend an der Henschelstraße einmal Wohnungen werden. Das Ganze angrenzend an den Danziger Platz – und damit an ein städtebauliches Gesamtensemble, auf das nur eine Sadt wie Frankfurt stolz sein kann. Architekturpreise hin oder her.