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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Lyonel Feininger. Retrospektive in der Frankfurter Schirn (1)

Feininger revisited.

Sprünge, Rückgriffe und eine große Kontinuität zwischen deutscher Romantik, Bauhaus und Amerika

Von Petra Kammann

Eigentlich glaubten wir Lyonel Feininger längst zu kennen, gehört er doch mit seinen prismatisch aufgelösten Architekturdarstellungen zu den bekanntesten Vertretern der „Klassischen Moderne“ in Deutschland und zählte zu den Vorreitern des Bauhauses, während seine Werke schon bald als „entartet“ verfemt wurden. Nun werden 160 Werke aus verschiedenen Schaffensperioden dieses so vielseitig begabten Künstlers in der Schirn präsentiert, u.a. mit selten gesehenen Hauptwerken wie Die Radfahrer (Radrennen) (1912), das Selbstbildnis (1915), Zirchow VII (1918), Gelmeroda XIII (1936) oder Manhattan I (1940). Aber auch weniger bekannte Arbeiten wie die Karikaturen, die erst vor einigen Jahren wiederentdeckten Fotografien des Künstlers oder das Kinderspielzeug aus seiner Hand kann man nun in der faszinierenden Schirn-Schau entdecken.

Feininger-Enkel Conrad Feininger mit der Schirn-Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer vor dem Selbstporträt des Großvaters Lyonel, Foto: Petra Kammann

Conrad Feininger, Enkel des Bauhauskünstlers Lyonel Feininger (1871-1956) und jüngster Sohn des Fotografen T. Lux Feininger (1910-2011), war eigens in Begleitung seiner Frau Marie Luise nach Frankfurt zur Retrospektive seines berühmten Großvaters angereist. Der amerikanische Schauspieler war eigentlich schon 2020 aus den USA zu den Wurzeln seiner berühmten Feininger-Family zurückgekehrt. Und man höre und staune: im vergangenen Jahr wurde Conrad Feininger nicht nur als neuer Bürger in Dessau-Roßlau begrüßt, sondern er nahm dort sogar auch die deutsche Staatsbürgerschaft an. Und das, obwohl etliche Bauhauskünstler mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die USA emigrierten, weil ihre Werke als „entartete“ Kunst galten, von den Nazis entfernt oder gar zerstört wurden. So auch die der Feiningers.

Denn schließlich war auch Conrads Großvater Lyonel von 1919 bis 1932 Lehrer und „Meister“ am Bauhaus gewesen. Während Conrads Vater D. Lux, jüngster Sohn des Malers Lyonel Feiningeran der berühmten Architektur- und Kunstschule Kunst in Dessau studiert hatte, die dortige Fotowerkstätte betrieb und dazu gemeinsam mit Oskar Schlemmer in der Bauhaus-Kapelle Jazz, Banjo und Klarinette gespielt hatte. Der Fotograf T. Lux Feininger (1910-2011) wurde später als Bauhaus-Fotograf ebenfalls weltberühmt, obwohl seine eigentliche Leidenschaft der Malerei galt. Als Maler, Zeichner und Holzschneider ging allerdings vor allem Vater Lyonel in die Geschichte ein.

Ich traf den frischgebackenen Dessauer Conrad Feininger beim Betrachten der Bauhaus-Fotografien seines Großvaters, Foto: Petra Kammann

Dabei sind Lyonel Feiningers fotografische Arbeiten mindestens ebenso bemerkenswert. Um die 20.000 Foto-Objekte, Negative und Dias waren es,  die vor Kurzem auftauchten. Wer von den berühmten Bauhaus-Fotografen hatte sich schon wie er nachts in die Dunkelheit herausgegeben, um geradezu magische Aufnahmen von dem Bauhaus in Dessau selbst oder vom Inneren der Meisterhäuser zu machen, statt sie aufklärerisch im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ abzulichten. Er fotografierte des Nachts vor allem das geheimnisvolle Licht, das auf die Umgebung, auf nächtliche Straßenzüge fiel und dabei andere Strukturen herausarbeitete.

Dem Fotografen Lyonel Feininger, bislang eher unbekannt, widmet die Schirn eigens einen Raum, Foto: Petra Kammann

Das Medium Fotografie, dem er zunächst kritisch gegenüberstand, diente dem Maler schließlich als ein weiteres Experimentierfeld für Bildeffekte. Hell-Dunkel-Kontraste, Schatten und Formspiele sowie die atmospärischen Unschärfen nutzte er dann häufig als Grundlage für seine Gemälde, auch rhythmisierende Fensterelemente an Gebäuden. Geradezu erschreckend wirkt die Ansicht eines Berliner Mietshauses, an dessen charakteristisch rhythmisierten schnörkellosen Balkonen 1933 plötzlich durchgängig Flaggen mit Hakenkreuzen hingen.

Begeistert beim Rundgang durch die Ausstellung: Conrad Feininger und seine Ehefrau Marie-Luise, Foto: Petra Kammann

Eine verkehrte Welt, in die der Enkel Conrad Feininger zurückgekehrt ist oder ist es der versöhnliche Akt einer Spurensuche? Umgekehrt jedenfalls wie zwei Generationen zuvor das Hin- und Herpendeln seines in den USA geborenen Großvaters zwischen Amerika und Deutschland. In dessen Werk spiegeln sich unentwegt Spuren solcher Gegenläufigkeit.

Im Bauhaus arbeitete Conrads Großvater Lyonel als Leiter der druckgrafischen Werkstatt, in Dessau-Roßlau teilte er sich mit dem ungarischen Maler, Bildhauer, Zeichner, Bühnenbildner, Grafiker, Typograf, Fotograf und Architekten Laszlo Moholy-Nagy (1895-1946) ein Meisterhaus. Das internationale Bauhaus wurde aber schon bald unter der Naziherrschaft geschlossen und über 400 seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen wurden konfisziert. Der Künstler, der zwischenzeitlich als Staatenloser observiert worden war, wurde daraufhin wieder Amerikaner wie auch seine gesamte Familie. 1937 war es dann soweit. Lyonel floh mit seiner jüdischen Ehefrau Julia nach fast 50 Jahren Leben in Deutschland ins US-amerikanische Exil. Sein Sohn T.Lux hatte das Land bereits 1936 verlassen, um nach New York zu gehen. Er wiederum widmete sich ab den 1950er Jahren ausschließlich der Malerei.

Blick auf das fragile Spätwerk in der Schirn-Ausstellung, Foto: Petra Kammann

Aber wenngleich Lyonel sogar bis zu seinem 16. Lebensjahr in den USA aufgewachsen und ursprünglich nur wegen einer Musikausbildung nach Deutschland gekommen war, dort dann aber blieb, wurde er laut Aussage der kompetent recherchierenden Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer in den USA „als fremd gewordener Amerikaner“ nie mehr so richtig heimisch.

In New York, das sich in der Zwischenzeit enorm weiterentwickelt hatte, gelang Feininger erst nach fast zwei Jahren wieder die Rückkehr zur Malerei. Da er, wo er ging und stand, immer auch gezeichnet hatte, konnte er wenigstens auf seine früheren Skizzen zurückgreifen und die Mal- und Bilderinnerungen auf das neue ungewohnte Leben zwischen den Hochhäusern übertragen. Die Leere zwischen den Hochhäusern entspricht dabei der Leere, die er zwischen die mittelalterlichen Kirchen und Häuser setzte. Etliche Bilder der späten New Yorker Zeit  wirken allerdings sehr viel fragiler und verletzlicher, während seine in Deutschland entstandenen Arbeiten eine konzentriert-stabile Präsenz ausstrahlen – wie streng gebaute Bach’sche Fugen.

Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Auch sah sich der durch die Musik geprägte Maler – beide Eltern waren Musiker und er selbst spielte auch noch in hohem Alter noch Partiten auf der Geige – vor allem in der deutschen Romantik und in der Musik von Johann Sebastian Bach verwurzelt. „Ohne die Musik könnte ich mich überhaupt nicht als Maler sehen. Die Vielstimmigkeit, gepaart mit der Freude an der mechanischen Kontraktion, hat meine schöpferischen Neigungen in erheblichem Maße geprägt. Die Qualität des musikalischen Tons, von Melodie, Harmonie und Rhythmus, sowie jene der Farbe, ihrer Verteilung und harmonischen Zusammenstellung, sind Grundlage für die Anforderungen, die ich an jedes meiner Bilder stelle“, bekannte er 1944 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. So wird es jedenfalls vom Feininger-Experten und Galeristen  Achim Moeller, der dessen kompositorischen Ansatz in der Spannung zwischen Punkt und Kontrapunkt sieht, kolportiert bzw. zitiert.

Erläutert die europäische Rezeption des Künstlers – Feininger-Experte und Galerist Achim Moeller, Foto: Petra Kammann

Feiningers Blick auf die mittelalterlichen Kirchen im Thüringischen, das er teils mit dem Fahrrad erkundete, ist gefüllt vom besonderen Morgen- und Abendlicht eines Caspar David Friedrich, das er jedoch durch die das Leben bestimmende Technik des 20. Jahrhunderts  rhythmisiert und kontrapunktisch in klare Strukturen einbettet.

Blick in die Ausstellung, Foto: Petra Kammann

Wie die anderen Bauhauskünstler war auch er immer wieder fasziniert vom technischen Fortschritt, stand dem aber in vielen Fällen auch skeptisch gegenüber. Man denke nur an sein hochdynamisches Bild eines fast vorbeisausenden Fahrradfahrers, dessen Konturen sich im Tempo des Fahrens aufzulösen scheinen. Solche gegenläufige Tendenzen zwischen Technik und Magie ziehen sich durch die verschiedensten Facetten seines Lebenswerks, mal expressionistisch mal futuristisch-visionär wie im „Gelmeroda“- Zyklus.

Rund 40 Jahre lang hatte Feininger sich zwischen 1913 und 1955 immer wieder in den verschiedensten Ausprägungen an dem „Gelmeroda“-Zyklus abgearbeitet, sei es als Zeichnung, als Holzschnitt oder als Lithografie. 1906 hatte er die kleine Dorfkirche in einem Vorort von Weimar anlässlich eines Besuchs bei seiner späteren Frau Julia Berg entdeckt. In dem eher unscheinbaren Gebäude sah er etwas geradezu Magisches und „Mystisches“, dem er sich in verschiedenen Schaffensphasen auf unterschiedliche Weise annäherte.

Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Daran lässt sich Feiningers Begeisterung für historisch gewachsene romantische Architektur nachvollziehen, die er jedoch nicht romantisierend oder naturgetreu abbildend wiedergibt. Zweifellos beeinflusst durch den französischen Kubisten Robert Delaunay, den er bei seinem Paris-Aufenthalt zwischen 1907 und 1911 wahrnahm, verfremdet er vielmehr das Vorgegebene eines Gebäudes oder der Umgebung. Dabei geht sein Blick stärker in die Tiefe.

Anders als Delaunay, der Oberflächenreize ausspielt, wenn er den Eiffelturm als Symbol der Moderne kubistisch, ja fast dekorativ auflöst, verinnerlicht Feininger die Umrisse der Gebäude und abstrahiert diese auf ihre essenzielle Form. Sei es in kristallin-expressionistischer oder in bewegt majestätischer Manier. Immer ragen die steil nach oben strebenden Kirchturmspitzen heraus und schaffen einen atemberaubenden eigenen Freiraum um sich und vermitteln auf diese Weise etwas geradezu Visionäres.

Diesem Werkzyklus wurde in der Schirn-Schau eine Art Kabinett gewidmet, so dass beim Betrachter eine Art innerer Gelmeroda-Kosmos entsteht, dem man sich staunend schlicht nicht entziehen kann. Innerlich begleitet er einen beim Rundgang. Auch dabei spürt man förmlich, wie sehr sich die Gegenläufigkeit kontinuierlich durch Feiningers Werk zieht, das sich sogar bis in sein eher zerbrechlich wirkendes Spätwerk in den USA fortsetzt.

Blick in die Ausstellungs mit den Halle-Bildern, Foto: Petra Kammann

Auch in Halle hatte er sich zwischen 1929 und 1931 künstlerisch mit den mächtigen Sakralbauten und den sie umgebenden Altstadthäusern in den engen Gassen auseinandergesetzt. Aus dieser Werkgruppe sehen wir in der Schau die berühmte Marienkirche mit dem Pfeil (1930) und Der Dom in Halle (1931) sowie Kohlezeichnungen, Skizzen und Fotografien, die bei seinen Streifzügen durch die Stadt entstanden. Immer wieder bemerkenswert sind seine skizzenhaften Vorzeichnungen, mit denen er sich an die Motive herantastet, um das Wesentliche zu verinnerlichen, bis er es durch prismatische Überlagerung in eine malerische Komposition mit mehrfachen Farbschichten zusammenfügte und damit eine spezielle Lichtatmosphäre erzeugte.

Kuratorin Ingrid Pfeiffer, beglückt über die zahlreichen Leihgaben aus internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen: Foto: Petra Kammann

Die ausgesprochen kompetente Ausstellungskuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer gewinnt scheinbar bekannten und populären Ausstellungsthemen immer wieder neue Aspekte ab. Man denke nur an „ESPRIT MONTMARTRE. DIE BOHÈME IN PARIS UM 1900″, an die „Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin“ oder zuletzt an „Paula Modersohn-Becker“. Sie kommentiert das Oeuvre des Deutsch-Amerikaners Feininger so: „Lyonel Feiningers herausragendes Gesamtwerk repräsentiert geradezu exemplarisch zahlreiche Strömungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts; trotzdem ist es äußerst individuell. Seine künstlerische Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sie weist zahlreiche Sprünge und Rückgriffe auf, gleichzeitig werden Feiningers große Themen über alle Medien hinweg und bis ins Spätwerk sichtbar. Sein unabhängiges Denken ist frei von Hierarchien, auch Gegenteiliges und Andersartiges wird zugelassen. Auf den ersten Blick oft ernst, konstruiert und monumental, ist es zugleich ein Werk voller Überraschungen, tiefgründiger Melancholie und spielerischer Leichtigkeit.“ 

Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Menschenleer und transparent sind Lyonel Feiningers lichtvolle Seebilder, angefangen von den 1920er-Jahren bis ins Spätwerk in den USA, von denen etliche Exemplare in der Schirn zu sehen sind. Neben den kristallinen Architekturen stellen auch sie eine bekannte Werkgruppe in Feiningers Schaffen dar. Die Seestücke wurden für ihn ein ebenso wiederkehrendes Thema wie auch für das Werk seines Sohnes T. Lux Feininger

Hier sucht er abermals nach Bildern für seine inneren Erfahrungen, welche Referenzen zu Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1808-1810) oder zu William Turners Seebilder aufweisen. Sie erinnern mit den besonderen Lichtstimmungen oder der geheimnisvollen Leere und Einsamkeit und einer gewissen Sehnsucht an die deutsche Romantik. Erstaunlich diese Hommage eines Avantgarde-Künstlers. Auch hier greift Feininger auf früher gemachte Erfahrungen zurück.

Seine Vorliebe für maritime Sujets wiederum hat ihren Ursprung in seiner Kindheit. So habe ihn schon als Kind in New York in den 1880er Jahren die Szenerie auf dem Hudson River beeindruckt mit den ein- und auslaufenden Dampfern und Segelbooten. In Deutschland wiederum reiste die Familie, um ähnliche Eindrücke zu erleben, alljährlich an die Ostsee nach Treptow an der Rega-Mündung, wo sich sowohl Vater Lyonel als auch sein Sohn T. Lux für das Segeln begeisterten.

Auf den Bildern spiegelt sich die Erfahrung von Helligkeit und Licht, von der Transparenz der Segelplanen, der Weite des Meeres und Horizonts, der bisweilen nur von den scharfen Konturen der Segel durchschnitten wird. Frappierend sind die Ergebnisse.

Neben den fast abstrakten, oft menschenleeren Strandbildern, allenfalls mit wenigen schemenhaft kubistisch zerlegten Figuren und Flächen wie bei Badende (am Strand I) (1912) entstanden daneben auch so dramatisch überwältigende Gemälde wie Leviathan (Dampfer Odin I) – Wen wundert es? Es entstand im Kriegsjahr 1917.

Blick auf den Anfang der Ausstellung mit den Selbstporträts, Foto: Petra Kammann

Gewissermaßen als Auftakt zur großen Retrospektive stoßen wir unmittelbar auf das Frühwerk des Künstlers. Dabei fällt der erste Hingucker neben den Zeichnungen auf das sensationell ausdrucksstarke Selbstporträt Feiningers. Sein Selbstbildnis aus dem Jahre 1915 scheint einen aus verschiedenen Blickwinkeln anzuschauen. Geprägt ist dabei sein Blick von Skepsis und Nachdenklichkeit, aber auch von großem Selbstbewusstsein.

Nicht überraschend, dass es schon 1917 in seiner ersten Einzelausstellung in der legendären Galerie Der Sturm in Berlin zu sehen war. Entstanden war es, nachdem Feininger 1887 von New York nach Deutschland gekommen war, um in Leipzig Musik zu studieren, um sich schließlich – und nicht gerade zur Freude seiner Musiker-Eltern – für das Studium der Bildenden Künste in Berlin zu entscheiden.

Blick auf das Frühwerk – Ausstellungsansicht, Foto: Petra Kammann

Dabei war Feiningers frühes malerisches und zeichnerisches Werk in dieser Zeit der Orientierung zunächst einmal vor allem figürlich geprägt. Als Karikaturist zeichnete der für seinen Humor bekannte Illustrator für verschiedene Satirezeitschriften und Zeitungen wie Ulk, Lustige Blätter oder das Narrenschiff. Außerdem entwickelte er Comic-Serien für die Chicago Sunday Tribune  The Kin-der-Kids und Wee Willie Winkie’s World (1906).

Lyonel Feininger, St. Louis, 1904, Erschienen in ‚Lustige Blätter‘ XIX. 1904, Nr. 26, Cover, Farblithografie, Blatt: 30,8 x 22,6 cm, ©Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Museum Lyonel Feininger, VG Bild- Kunst, Bonn 2023

Während seines Aufenthalts zwischen 1907 und 1911 in der damaligen Kunsthauptstadt Paris, wo sich die Avantgarde des 20. Jahrhunderts entwickelte, entstanden seine sogenannten Karnevals- oder „Mummenschanzbilder“ mit dramatisch-träumerischen Szenen von typenhaften Einzelgängern, seien es Arbeiter, Geistliche, Kinder, Frauen oder Männer. Auffällig auf all diesen Bildern sind die überlangen Gliedmaßen der dargestellten Personen und deren extravagante, geradezu für diese Periode die, wie aus der Zeit gefallene, altmodische Kleidung. Und das nicht etwas wie bei den Expressionisten in den so beliebten Primärfarben, sondern in ungewöhnlichen Farbzusammenstellungen: in gedämpften Rosétönen, in giftigem Gelb, Nachtblau und Türkis-Grün. Schon hier begann der Künstler sich zu individualisieren, mit Verfremdungen zu experimentieren, um sich neue Bildräume zu erobern.

Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Auch in Kombination mit Feiningers Frühwerk wartet die Schau mit erstaunlichen Überraschungen auf. Nicht zuletzt gehören zum variationsreichen Oeuvre Feiningers auch Holzspielzeuge. Mit Die Stadt am Ende der Welt (1925–1955) kreierte der Künstler sogar eine Spielzeugstadt aus Holz, die sein Interesse für historische Häuser und Kirchen aufgreift und auf den phantastischen Roman seines Freundes Alfred Kubin Die andere Seite (1908) Bezug nimmt, der darin ein Traumreich beschwört, in dem die Sonne niemals scheint oder untergeht, und das durch einen Vorhang aus Wolken von der Außenwelt abgeschottet ist…

Ab 1913 hatte Feininger an Lokomotiven aus buntem Hartholz gearbeitet, die als Spielzeuge in Serie hätten produziert werden sollen, hätte ihm hier nicht der Erste Weltkrieg einen Strich durch die Rechnung gemacht wie später auch noch einmal der Zweite Weltkrieg. Nach dem Ende dieses einschneidenden Kriegs sollte er nicht wieder nach Deutschland, seinem künstlerischen Sehnsuchtsland, zurückkehren, wenn auch erstaunlicherweise schon in den frühen 1950er Jahren dort erste große Feininger-Ausstellungen in München, Hannover und Amsterdam stattfanden.

Diese Objekte wie auch eine Diaschau am Ende der Ausstellung runden das Bild eines Allround-Genies ab, der aus jeder Situation etwas Kreatives gestaltet. So bewahrheitet sich eine seiner Bemerkungen, die er nach einem Paris-Besuch äußerte: „Das Gesehene muss innerlich umgeformt und crystallisiert werden.“ 

Schirndirektor Sebastian Baden, Foto: Petra Kammann

Dr. Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, fasst es nochmal zusammen: „Lyonel Feininger gehört zu den bekanntesten Vertretern der klassischen Moderne in Deutschland und dennoch ist die Vielseitigkeit seiner Kunst einem großen Publikum erstaunlich unbekannt. Die große Retrospektive in der Schirn bietet nun eine spektakuläre Neubetrachtung seines gesamten Werkes aus 60 Jahren künstlerischem Schaffen mit bedeutenden und selten gezeigten Leihgaben aus Sammlungen in Europa und den USA. In der einmaligen Zusammenschau wird die Vielseitigkeit seines Gesamtwerks deutlich, das einige Entdeckungen bereithält.“ 

INFOS 

SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
Tel. +49 69 29 98 82-0
welcome@schirn.de
www.schirn.de

DAUER
27. Oktober 2023 – 18. Februar 2024

TICKETS
im Onlineshop unter schirn.de/shop und an der Schirn Kasse

EINTRITT
Wochenende 14 €, ermäßigt 12 €, wochentags 12 €, ermäßigt 10 €,
freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren

ÖFFNUNGSZEITEN
Di, Fr bis So 10-19 Uhr, Mi und Do 10-22 Uhr

INDIVDUELLE FÜHRUNGEN BUCHEN
Individuelle Führungen oder Gruppenbuchungen sind buchbar unter: fuehrungen@schirn.de

DER KATALOG

Lyonel Feininger Retrospektive
272 S. 230 Abbildungen in Farbe.
Hirmer Verlag, 49,90 Euro

Digitorial® zur Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023

Zur Ausstellung bietet die Schirn ein Digitorial® an, das mit wissenswerten Hintergründen, kunst- und kulturhistorischen Kontexten und wesentlichen Ausstellungsinhalten Einblicke in die künstlerische Welt von Lyonel Feininger gibt. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher sowie englischer Sprache abrufbar unter feininger.schirn.de.

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