Eine Fülle von Facetten: Deutsche Radiogeschichte aus 100 Jahren
Am 29. Oktober 1923 ertönte die erste offizielle Sendung der „Funk-Stunde“ aus Berlin – Lohnenswerte Buch-Nachlese
Von Uwe Kammann
Welche Faszination strahlte es aus, Kinder bekamen in den 50er und 60er Jahren nie genug davon – wenn sich grün- und gelleuchtende Halbmonde unter einem markstückgroßen Glas verschoben, bis es eine Übereinstimmung gab. Dann öffnete das Magische Auge den Eintritt in eine andere Welt. Allerdings nicht in eine Welt des Sehens, sondern des Hörens. Radio, das war damals das mediale Universum schlechthin. Die Geräte trugen Namen wie Zauberklang im Westen oder Tosca im Osten Deutschlands. Die Begehrtesten glänzten in der Wirtschaftswunderzeit mit Nussbaum-Furnier, goldenen Zierleisten und genoppten Leinenbezügen, unter denen sich dunkler die Lautsprecheröffnungen abzeichneten.
In den 1950er Jahren wuchsen etliche mit einem solchen Radiogerät auf, Foto: privat
Später wollten alle jungen Leute mit tragbaren Transistorradios Eindruck machen und unabhängig werden vom Grundig-Prestigegerät oder der Blaupunkt-Musiktruhe im Elternhaus. In den Neunziger Jahren mussten es Ghettoblaster sein, lässig auf den Schultern getragen, in den besseren Wohnungen dominierten neben den Einzelgeräten immer stärker so genannte Hifi-Türme. Architekten zog es zu den puristischen Linien von Braun. Der Weltempfänger der Firma, der berühmte T1000, wurde zur Design-Ikone, bewundert im New Yorker Museum of Modern Art. Der Schöpfer, Dieter Rams, wurde zum inspirierendem Vorbild für Apple. Dessen Smartphone ist heute für viele auch der meistgenutzte Radioemfänger – die Klangwelt in einem Gerät, das spielend in die Tasche passt.
In den Ernst-May-Siedlungen im „Neuen Frankfurt“ spielte auch das Radio eine wichtige Rolle, Ausstellungsaufnahme im Museum Angewandte Kunst 2019 in der Ausstellung „Moderne am Main“, Foto: Petra Kammann
Wer hätte eine solche Zukunft geahnt, als am 29. Oktober 1923, also genau vor hundert Jahren, Friedrich Georg Knöpfke als Direktor der „Funk-Stunde“ in Berlin die erste offizielle Rundfunksendung in Deutschland ankündigte, mit einem doppelten „Achtung“, welches der „Mitteilung“ vorausging, dass mit dem Premierentag „der Unterhaltungsrundfunk mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos telefonischem Wege beginnt“. Versuche zur drahtlosen Übertragung hatte es schon vorher gegeben, mit Testsendungen in Deutschland und der Schweiz. So erklang am 22. Dezember 1920 über den Sender Königs Wusterhausen der Reichspost ein Weihnachtskonzert, als erste öffentliche Rundfunkübertragung.
Was heißt: Telefonie (aha: Apple, Smartphone) spielte als Technikbegriff (Töne über die Ferne) also schon eine Rolle. Aber das ganze technische und organisatorische Drumherum – beim Reichspostministerium geleitet vom für Telegrafen-, Fernsprech- und Funkwesen verantwortlichen Staatssekretär Hans Bredow – war aus Sicht des heutigen Massenmediums noch im winzigsten Entwicklungsstadium.
Weniger als 300 Menschen hatten damals die erforderliche staatliche Lizenz zum Radiohören. Heute gibt es allein in Deutschland rund 150 Millionen Geräte, inzwischen mit verschiedenen Techniken wie UKW, DAB und DAB+. Dazu kommt der Jederzeit- und Überall-Empfang via Internet. Weltempfänger als Geräte der Extraklasse (damals mit Kurwellenbändern) sind schlicht überflüssig geworden.
Radio, das ist ein mehrdeutiger Begriff. Im engeren Sinne steht es sowohl für die Empfangsgeräte als auch für ein ganzes Medium, das in Deutschland auch Hörfunk genannt wird. Als Audio wird oft der Kern des Ganzen, das Hörmaterial für die Inhalte, bezeichnet. Aber populär und auf seine Art allgemeinverständlich ist die Bezeichnung Radio.
Noch übersichtlich und leicht bedienbar: das Tivoli-Radio, Foto: privat
Jeder versteht darunter natürlich etwas eigenes, ganz nach seinen Gewohnheiten und Vorlieben. Aber vieles gehorcht doch gemeinsamen Vorstellungen. Die regelmäßigen Nachrichten, die Musiksendungen, die Hörspiele, die ausgiebigen Interviews und Gesprächssendungen gehören zu den Klassikern. So wie inzwischen auch die Magazinsendungen, die verschiedene kleinere Beiträge mit Musikeinlagen verbinden, von Moderatoren möglichst markant getragen.
Was sich allerdings inzwischen völlig geändert hat, ist die Art des Hörens selbst. Während es früher lediglich die von den Sendern ‚komponierten’, also in einer zeitlichen Reihenfolge aus Einzelsendungen zusammengestellten Programme gab, sind die einzelnen Inhalte heute in der Regel völlig zeitunabhängig im Netz individuell verfügbar.
Die öffentlich-rechtlichen Sender speisen die Sendungen in ihre Mediatheken ein, verbunden wiederum in der ARD-Audiothek – ein inzwischen gigantisches Speicherangebot, welches die linearen Live-Sendungen (per Antenne, per Kabel oder ebenfalls im Netz) ergänzt.
Diese Vielzahl, diese Vielfalt konnte natürlich niemand ahnen, als in den 20er Jahren der Sendebetrieb begann und Ende 1924 immerhin schon eine halbe Millionen Radio-Teilnehmer registriert waren. Bedient wurden sie von schnell sich gründenden privaten Rundfunkgesellschaften, die zunächst in den Großstädten beheimatet waren, so in Berlin, Hamburg, Leipzig und auch in Frankfurt am Main.
Zehn Jahre später änderte sich das drastisch. Die Nationalsozialisten erkannten und nutzen das Potenzial der medialen Einbahnstraße, die mit der Radioausstrahlung verbunden war. Folgerichtig verwandelte sich das immer noch neue Medium in einen mächtigen, zentral gesteuerten Apparat der Propaganda, in eine Maschine zur Gleichschaltung des Sprechens und Denkens.
Braun-Gerät in der Ausstellung „Moderne am Main“ 2019 im Museum Angewandte Kunst, Foto: Petra Kammann
Materielles Hilfsmittel war der Volksempfänger, ein Radio für den Mittel- und Langwellenempfang, das mit seinem Bakelit-Gehäuse und dem großen runden Lautsprecher ein markantes Design aufwies. Der Volksmund fand eine passende Bezeichnung für die wahre Mission dieses Geräts: „Goebbels-Schnauze“.
Diese von den Nazis exzessiv betriebene Propaganda-Bestimmung des Radios war das genaue Gegenteil der Hoffnungen und Erwartungen, welche noch drei Jahre vor der NS-Machtergreifung Albert Einstein auf das neue Medium gesetzt hatte. Zur Eröffnung der Deutschen Funkausstellung in Berlin feierte er das Radio geradezu überschwänglich. Es sei ein medialer Grundstein für die „wahre Demokratie“, es mache die Hervorbringungen der „feinsten Denker und Künstler“ zugänglich, und zwar der „Gesamtheit“ der Bevölkerung, während bislang lediglich die „bevorzugten Klassen“ diese kulturellen Werke hätten genießen können.
Zwischen den Polen Propaganda, Demokratie und Kultur hat sich in der nun hundertjährigen Geschichte ein ganzes Kaleidoskop an Zielsetzungen, Funktionen und Zuschreibungen entwickelt. Die Formen des Radios sind so vielfältig wie nie, was in Deutschland vor allem mit zwei Faktoren zu tun hat: der Zulassung auch privater Radios ab den 80er Jahren und der rasanten technischen Entwicklung bei den Verbreitungswegen. Inzwischen gibt es knapp 300 private und rund 70 öffentlich-rechtliche Programme in Deutschland, eine Explosion gegenüber den Zahlen Ende des 20. Jahrhunderts.
Anfang der 1990er Jahre: ein Hifi-Turm als Spitze des Radio-Empfangs, Foto: Uwe Kammann
Kritiker sehen darin eine eher negative Haupttendenz, die weit hinausgeht über das, was populär seit langem als „Dudelfunk“ geschmäht wird. Eine Tendenz, welche ein anspruchsvolles Angebotsradio hinter sich lässt, die stattdessen verbunden ist mit Begriffen wie Formatierung, Spezialisierung, Individualisierung.
Begründet wird dies immer mit der als erfolgsversprechend gesehenen Strategie, klar eingegrenzte Zielgruppen zu erreichen, statt mit einem breiten und vielfältigen Angebot die Zuhörer auch zu überraschen und damit neue Horizonte zu eröffnen. Dies entfacht – nicht nur in Fachkreisen, im kulturellen Milieu, bei den Senderverantwortlichen (im kommerziellen und im öffentlich-rechtlichen Bereich) und bei den Medienpolitikern, sondern auch im engagierten Publikum – immer wieder intensive Debatten, in welche Richtung sich das Radio entwickeln soll. Bis zur Frage, ob es angesichts der millionenfachen Angebote im Netz überhaupt eine Zukunft hat. Oder ob es nicht vielmehr mittelfristig untergehen wird, zumindest in der rein linearen, also der ‚klassischen’ Form.
Wer dieser Diskussion nachgehen will, wer professionelle Antworten auf die Bestands- und Veränderungsformen dieses so ungeheuer populären Mediums sucht; und wer gleichzeitig auf eine hochspannende kulturelle, technische, gesellschaftliche und politische Zeitreise gehen möchte, welche mit der Radiogeschichte verbunden ist, dem sei ein bei der Bundeszentrale für Politische Bildung in der Reihe „Zeitbilder“ erschienenes Buch dringend empfohlen.
Es trägt den Titel „100 Jahre Radio in Deutschland“. Das Herausgebertrio – die Medienjournalistin Diemut Roether, der Autor und Rundfunkvirtuose Hans Sarkowicz sowie der Geschichts- und Politikwissenschaftler Clemens Zimmermann – haben 20 in jeder Hinsicht erfahrene und renommierte Autoren versammelt, welche diese vielfältige Geschichte und ihre gegenwärtigen Hauptfragestellungen in so versierter wie detailreicher Form behandeln. Dabei schreiben sie auch für ein solches Publikum verständlich, das nicht in den Fachdiskussionen steckt.
Zu einem in jedem Moment an- und auch aufregenden Vergnügen wird der großformatige, 280 Seiten starke Band auch wegen der vielfältigen, oft wegen der Rarität überraschenden Bebilderung. Viele Persönlichkeiten aus der Radio- und Kulturgeschichte sind in der Fülle der Dokumente zu entdecken. Und in vielen mit Einzelsendungen und ganzen Programmen verbundenen Fotos werden die Leser als Hörer Erinnerungen wiederaufleben lassen, werden sie eine persönliche Hör- und Lebensgeschichte entwickeln.
Und sie werden theoretisch sensibilisiert werden für Fragen, welche auch die Macher umtreiben: Wohin geht es, welche Programmstrategien sind zu wünschen, welche tragen zum eigenen Tod bei, welche führen nur zu vordergründigen Erfolgen, welche in eine Sackgasse? Welche sind zukunftsträchtig und versprechen Gewinne beim Hören, ziehen deshalb auch Publikum an? Und natürlich auch: welche Formen, welche redaktionellen Gefüge versprechen die größtmögliche Qualität, so im Sinne des Gemeinwohls und des Gesellschaftsdienlichen?
Anzeige auf dem Tablet: jederzeit, überall, auf jedem Gerät, direkt, als Konserve – Radio im Internet, Foto: Uwe Kammann
Natürlich sind auch die Erörterungen der politischen Entscheidungsgrundlagen und der begleitenden Erscheinungen von hohem Interesse, so mit den Stichworten Propaganda, Regulierung und Politisierung sowie „Schule der Demokratie“ (in der unmittelbaren Nachkriegsphase). In ihrer gemeinsamen Einleitung umreißen die Herausgeber elementare Bereiche, die sie mit den Stichworten Nachrichtenmedium, politisches Medium, Sound und Stimme, Publikum, Kulturmedium, Raum und Zukunft abstecken.
Ein besonders lesenswertes Kapitel hat die Kulturjournalistin Eva Maria Lenz beigesteuert. Es ist der Geschichte des genuinen Kunstgenres des Radios gewidmet, dem Hörspiel. Die Autorin hat dessen Geschichte auch als ständige Kritikerin und als Juymitglied (so des renommierten Hörspielpreises der Kriegsblinden) seit über fünf Jahrzehnten intensiv verfolgt. Hier gelingt es ihr, die Hauptlinien, die Wandlungen (auch die modischen) und die künstlerischen Höhepunkte in einer sehr genauen Argumentation nachvollziehbar zu machen.
Dieses Sonderlob soll die Qualität der anderen Beiträge aber nicht schmälern. Alle sind notwendig, alle sind geeignet, das Verständnis für das in sich reiche Medium Radio in vielerlei Hinsicht zu vertiefen. Nur ein Manko ist der Textauswahl anzukreiden. Es betrifft – bis auf vereinzelte spärliche Ausnahmen – die Verfassung, die Organisation, die Programme und die Akteure des Rundfunks in der DDR.
So erwähnt zwar der der Wirtschaft-und Geschichtswissenschaftler Wolfgang Mühl-Benninghaus in seinem wichtigen Politik-Kapital zur Radiogeschichte von der Besatzungszeit bis zur Gegenwart an einigen Stellen DDR-Sendungen, doch beschränkt sich dies weitgehend auf den Jugendsender DT64, der gerade in der Wendezeit eine wesentliche Rolle gespielt hat, nachdem er bereits vorher eine frischere Farbe in die festgefügte östliche Radiolandschaft bringen durfte. Aber insgesamt bestärkt diese sachlich höchst bedauerliche Aussparung den Eindruck: Hier dominiert wieder absolut der westliche Blick, werden die Spezifika im Osten Deutschlands entweder willentlich oder unbewusst weitgehend übersehen.
Doch diese Kritik schmälert den Wert des Buches nicht. Es stellt eine in sich gut gegliederte, thematisch vielfältige und in jeder Hinsicht detailreich darstellte Geschichte der Radioentwicklung dar. Und dies zu einem unschlagbaren Preis, nämlich 7 Euro – der Bundeszentrale für Politische Bildung sei Dank.
Es gibt übrigens am Ende des Buches unter der Überschrift „Vielfalt als Chance begreifen“ eine wahrscheinlich sehr realitätsnahe generelle Zukunftsbeschreibung des Radio-Reiches. Sie stammt von Nathalie Wappler, der stellvertretenden Generaldirektorin der Schweizerischen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft (SRG). Sie beschreibt darin das Modell einer „Radio Hall, gedacht als Audiozentrum der Zukunft“. Im Einzelnen sieht das so aus: „Dieses soll für die Entwicklung im Radio und für Audioformate ein geeignetes Umfeld schaffen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit begünstigen. Live-Radio, Radionachrichten, Entwicklung von digitalen Produkten, Social-Media-Content und Web-Inhalten – all das passiert künftig unter einem Dach. Diese strategische Investition in Audio und Radio ergäbe keinen Sinn, wenn das Schweizer Radio und Fernsehen nicht an die Zukunft des Mediums glauben würde.“
So sah es in der „Moderne am Main“ im Sender Frankfurt aus, Ausstellungsansicht: Petra Kammann
Leicht zu sehen und zu verstehen: Eine solche Zukunft hat mit dem einfachen Doppelsinn des Radios als Gerät und Medium nichts mehr gemein. Es ist eine Welt, in der vielfältige neue Techniken, Inhalte-Produktionen und Verbreitungsmöglichkeiten zusammenspielen. Gibt es vielleicht doch eine Verbindung zwischen dieser Vision und einer früheren?
„Hallo! Hier Welle Erdball!“, so lautete der Titel eines Hörspiels von Fritz Walter Bischoff, dem damaligen Intendanten der Schlesischen Funkstunde in Breslau. Es spielte im Jahr 1928, also noch ganz zum Anfang der Radiogeschichte. Welle Erdball, das ist heute ganz neu zu verstehen. Radio ist immer noch national reguliert, aber längst international verflochten und global zu empfangen. Radio-Raum ist zum Welt-Raum geworden. Diese Geschichte wird irgendwann geschrieben werden.
Der Deutschlandfunk hat die hundertjährige deutsche Radiogeschichte am 28./29. Oktober in seiner Reihe „Lange Nacht“ gewürdigt. Die dreistündige Sendung mit vielen Originaltönen aus den verschiedenen Epochen ist jederzeit nachzuhören unter dem Link: