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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Ruhrfestspiele auf dem „grünen Hügel“

Das älteste deutsche Theaterfestival lebt

von Simone Hamm

Alle atmen auf. Denn die Ruhrfestspiele auf dem „grünen Hügel“ von Recklinghausen können in diesem Jahr wieder mit Präsenzaufführungen stattfinden. „Haltung und Hoffnung“ lautet das Motto. Die Ruhrfstespiele wollen sich nicht nur an Theatersüchtige wenden, sollen auch an all die, die kein Theaterabonnement haben, die nicht in experimentelle Tanzaufführungen gehen. Das ist der Geschichte geschuldet. Im kalten Winter 1946/7 hatten Kohlelieferungen aus Ruhrgebietszechen  den Hamburger Theatern geholfen, ihre Räume zu beheizen. Zum Dank kamen die Schauspieler ins Ruhrgebiet, um Theater zu speilen. Die Ruhrfestspiele, das älteste deutsche Theaterfestival, waren geboren. „Kunst für Kohle“ lautete das Motto.

William Kentridge in Aktion; Foto: Stella Olivier

Intendant Olaf Kröck hat ein ambitioniertes Programm zusammengestellt, das noch bis zum 12. Juni geht.

William Kentridge zeigt seine Interpretation der Geschichte der Wahrsagerin Sybil, Romeo Castellucci stellt zwanzig Männer in Uniform auf die Bühne, die zeigen, was wir zur Genüge aus der Tagesschau kennen: zu welchen Gräueltaten ein Krieg Menschen bringen kann.

Den Auftakt machte der südafrikanische Allroundkünstler William Kendrige. Was für ein Auftakt!

Nach einem herrlich selbstironischen Animationsfilm,, in dem wir Kendrige beim Malen zusehen können, bei seinen Selbstgesprächen, denn bisweilen treten zwei Kendriges auf, bei seinem Kummer, wenn er sieht, wie eine Frau auf einen leeren Teller starrt oder ein Mann in einem Erdloch hockt, bei seiner Freude, wenn er die Zeichnungen und Figuren betrachtet, die er geschaffen hat und auch das kleine Calder Mobile in seinem Regal – und seiner Trauer darüber, dass das alles zerbricht.

„Sibyl“ hat er zusammen mit der Chorleiterin und Tänzerin Nhlanhla Mahlangu und Kyle Shepherd, Pianist und Komponist aus Südafrika, entwickelt. Vor dem von Kendrige mit Kohle gezeichneten Hintergrund tanzt Sybil einen packenden Ritualtanz. Auch die Bilder hinter ihr bewegen sich. Ihr Schatten wird überlebensgroß an die Wand geworden. Scherenschnitte werden zu Sängern, Tänzern, Schauspielern. Sänger, Tänzer, Schauspieler werden zu Scherenschnitten. Sybil war eine kumäische Wahrsagerin, die im 6. Jahrhundert vor Christus lebte. Sie legte die Eichenblätter, auf denen die Weissagungen stehen, vor ihre Höhle. Da wurden sie vom Wind durcheinander gewirbelt. Und niemand wußte mehr, ob die Prophezeiung ihm oder einem anderen galt:

„Winter will end at 11.00 am. Der Winter wird um 11.00 vormittags enden“. „Let us be sensible. Lass uns einfühlsam sein.“ „Who will remember for me?. Wr wird sich für mich erinnern?“.

Die Geschichte der Wahrsagerin Sybil; Foto Stella Olivier

Kendrige spielt damit an auf die Algorithmen unserer Zeit, die ja auch vorhersagen, ob wir krank werden oder gesund bleiben, wie alt wie werden, ob wir kreditwürdig bleiben oder nicht – und die doch durch einen  Windstoß, einen Unfall, eine falsche Voraussage, durcheinander gebracht werden können wie Sybils Blätter. Wir wissen und wissen doch nicht.

Das kommt ganz leicht daher, Nhlanhla Mahlangu als Sybil, unterstützt von zwei weiteren Tänzerinnen, sechs Sängern und großartigen Musikern, die alles, was auf der Bühne zu sehen ist, rhythmisieren und ihm so einen ungeheurer drive geben, machen diesen Abend zu einem ganz besonderen.

Anne Weber „Ein Heldinnenepos“ von Lily Sykes (Hannover) bearbeitet; Foto: Kerstin Schaumburg

Lily Sykes (Schauspiel Hannover) hat Anne Webers Roman „Ein Heldinnenepos“ für die Bühne bearbeitet und erzählt auf ihre Weise die Geschichte der 98-jährigen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Phil Glass und Phelim McDermott meditieren zusammen in „Tao of Glass“. Und dann gibt es noch die Publikumsrenner aus Berlin, „Eurotrash“ mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff von der Schaubühne, vom Berliner Ensemble die „Dreigroschenoper“ und Matthias Brandts Soloabend „Mein Name sei Gantenbein“.

Dada Masilos „Sacrifrice“; Foto: John Hogg

Dada Masilo aus Soweto zeigt ihre Interpretation von Strawinskis „Le sacre du printemps“, Hofesh Shechter wird zu ohrenbetäubender Musik „Double Murder“ zeigen. Seine Kompanie ist ein Garant für gute Laune.

Viele Lesungen mit großen Schauspielern werde angeboten, Caroline Peters liest Annie Erneaux, Fritzi Haberlands Gustave Flaubert. Mit „Resonanzen“ gibt es eigenes schwarzes Literaturfestival, kuratiert von Sharon Dodua Otoo. Es gibt Musik – und Kabarettabende. Zirkuskompanien aus aller Welt zeigen kunstvolle Akrobatik. Nicht nur das ist für Kinder und Jugendliche gedacht. Etliche Theaterabende sind für sie konzipiert.

Das britische Künstlerkollektiv Quarantine aus Manchester hat sich vier Wochen in Recklinghausen aufgehalten und nimmt die Zuschauer auf Spaziergängen durch die Stadt mit zu den Menschen, die dort leben: etwa einem Boxer, einer Buchhändlerin, einem Würstchenverkäufer, einer Tätowiererin.

Man hat den Ruhrfestspielen oft vorgeworfen, ein Gemischtwarenladen zu sein. Doch nur so und nicht anders kann das Konzept, möglichst viele Menschen zu erreichen, umgesetzt werden.

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