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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Anne Webers Heldinnen im Leben und in der Sprache

Ein Gespräch mit Anne Weber

Eigentlich hätte Anne Weber, die in Paris lebende Trägerin des Deutschen Buchpreises 2020, in diesen Tagen eine Lesereise durch Deutschland und die Schweiz gemacht. Stattdessen finden Zoom-Lesungen ohne reales Publikum an verschiedenen Orten statt. Bei ihrem kurzen Frankfurt-Besuch traf Petra Kammann sie zum Interview.

Anne Weber bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises in Frankfurt; Alle Fotos: Petra Kammann

Petra Kammann: Ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“, das im vergangenen Herbst den Deutschen Buchpreis gewann, war bereits im vergangenen Frühjahr erschienen. Nun präsentieren Sie ein Jahr später im publikumsleeren Frankfurter Literaturhaus in der Veranstaltungsreihe „ZWEITERFRUEHLING. Bücher währen länger!“ ihr Buch in einem Gespräch mit der Moderatorin Beate Tröger. Wie erleben Sie die merkwürdige Zeit der Pandemie und des zweiten Lockdowns?

Anne Weber: Natürlich haben wir alle genug von der Pandemie und vom Maskentragen, vom Sich-nicht-richtig-verstehen und Sich-nicht-umarmen-können. Mir geht es aber vergleichsweise gut. Meine Stimmung ist gemildert dadurch, dass ich in dieser großen Freude, im Herbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden zu sein, immer noch so ein bisschen schwebe. Es beglückt mich weiterhin. Und das macht mir den Rest viel erträglicher.

Nun ist Schreiben eine einsame Angelegenheit. Insofern dürfte Homeoffice für Sie eigentlich kein Problem sein…

Ja, ich arbeite schon seit vielen Jahre zuhause, gleich ob ich übersetze oder schreibe. Worunter ich aber natürlich genauso leide wie andere auch, ist, dass man keine Freunde sehen kann. So ist in Frankreich, wo ich lebe, das gemeinsame Essen ja gerade eine große gemeinsame Angelegenheit. Und das findet nun einfach nicht mehr statt.

Wie lebt es sich denn unter solchen Bedingungen in einer Stadt wie in Paris?

Paris ohne Cafés, ohne Freunde und ohne ins Kino gehen zu können, ist im Moment wirklich nicht so anziehend. Da bin ich tatsächlich lieber auf dem Land oder am Meer, wo ich an die Luft und ans Meer gehen und atmen kann. Schon seit März sind mein Mann und ich hauptsächlich in der Normandie. Ich gehöre zu den Privilegierten, die eine solche Möglichkeit haben.

Verbindet Sie das Gefühl vom Freien-Atmen-Können mit der Heldin Ihres Buches Anne Beaumanoir?

Auch das verbindet mich mit ihr, die Liebe zur Bretagne, die Liebe zum Meer. Annette stammt ja aus St. Cast-le-Guildo in der Nähe von Saint-Malo. Der Ort, an dem wir in der Normandie sind, grenzt an die Bretagne und liegt nur 70 km Luftlinie entfernt.

Film mit Anne Beaumanoir und Anne Weber während der Preisverleihung im Römer

Vermissen Sie die Metropole, in der Sie fast 40 Jahre lang gelebt haben, nicht doch auch?

Als junge Frau hatte ich das starke und unbedingte Bestreben, im Zentrum des Geschehens sein zu müssen. Dieses Gefühl habe ich nach Jahrzehnten des Lebens in schlechter Luft und im Zusammenleben mit einer Menge von Menschen in der Enge der dicht bevölkerten Stadt Paris jetzt sehr viel weniger. Jetzt habe ich tatsächlich häufig das Bedürfnis, niemanden um mich herum zu haben, frei atmen zu können, nur den weiten Horizont vor mir zu erleben.

Ist die tiefsitzende Erfahrung des weiten Horizonts eine Erfahrung, die Sie für die Persönlichkeit Anne Beaumanoirs, die als Bretonin diesen weiten Horizont verkörpert, begeistert hat?

Ja, es war gut, dass ich sie nicht nur in Südfrankreich in Dieulefit mehrfach besucht habe, wo sie jetzt bis vor Kurzem noch einen Teil des Jahres gelebt hat, sondern auch in Saint-Cast-le-Guildo in der Bretagne, wo sie die Wintermonate verbrachte. Es war mir wichtig zu sehen, woher sie stammt, wie die Landschaft, aus der sie kommt, aussieht. Sie hat mir auch das schlichte Fischerhäuschen ihrer Großmutter gezeigt, in dem sie geboren ist. Diese Großmutter, diese Kindheit dort, das muss für sie ungeheuer prägend gewesen sein. Ich bin froh, dass ich es gesehen habe, um davon erzählen zu können. Für Annette ist es sehr bedeutungsvoll, dass sie nicht in der Bretagne intérieure, im Inneren der Bretagne, geboren ist, sondern nah am Meer. Das Innere war vor allem in den 20er/30erJahren, als sie aufwuchs, eine sehr abgeschlossene Gegend, während sich die Küste zum Meer hin natürlich öffnet. Da kamen immer Seeleute aus aller Welt an. Da hatte man es mit Fremden zu tun, weil man auch vom Fischfang lebte und die Fremden auch zum eigenen Leben gehörten. Dort wird man auf ganz andere Weise groß.

Was Annette vielleicht auch die Kraft zu diesem ungewöhnlichen Lebensweg gegeben hat. Sie ist außerdem in eine sehr unkonventionelle Familie hineingewachsen. So gerät sie schon früh an den Widerstand gegen die deutsche Besatzung und engagiert sich dort … Dabei macht sie aber schon bald auch die Feststellung, dass diese Résistance eigentlich gar nicht so tolerant ist, sondern eher sogar autoritär. Gehorsam ist das oberste Gebot, die eigenen Bedürfnisse muss man verleugnen. Menschliche Bindungen sind nicht erwünscht.

Das war nicht nur bloßer Autoritarismus, das hatte schon seine Berechtigung, aus ganz praktischem Grund. Denn wenn man festgenommen und gefoltert wurde, konnte man vielleicht Namen des Netzwerks preisgeben. Deswegen musste man diesen Regeln gehorchen und durfte auch niemanden aus dem eigenen Netzwerk mit dem richtigen Namen kennen. Das hat Annette eigentlich auch eingesehen. Man durfte auch kein Liebesverhältnis eingehen, um nicht erpressbar zu sein und andere nicht zu gefährden. Annette aber lässt sich davon nicht abhalten. Und wenn es darum geht, Menschen zu retten, von denen sie erfährt, dass sie sich verstecken, dann geht sie einfach hin, um sie zu retten, obwohl sie weiß, dass es gefährlich ist und sie das nicht darf. Das ist eben das Gegenteil von blindem Gehorsam. Und das ist es, was mir an ihr so gefällt.

Dokument im Film: Anne Beaumanoir engagierte sich schon als junges Mädchen im Widerstand

Das bringt sie in ihrem Leben auch immer wieder in neue Situationen und führt dazu, dass sie auch bestimmte Machtstrukturen erkennt wie bei den Kommunisten nach dem Krieg. Sie sieht, dass die Partei mit sehr viel Spitzeltum verbunden ist.

Annette erzählte mir, ihr Vater habe sie schon darauf aufmerksam gemacht, dass bei den Kommunisten immer die Hälfte der Mitglieder damit beschäftigt sei, die andere Hälfte zu überwachen oder zu bespitzeln. Das hat sich offenbar bewahrheitet. So erlebt sie nach dem Krieg auch die große Desillusionierung. Als kämpferisches Mitglied der kommunistischen Partei hatte sie sich die Verhältnisse ganz anders vorgestellt, nicht nur, dass gemeinsam gegen die deutschen Besatzer gekämpft wurde, sondern dass man auch gemeinsam für ein ganz anderes freieres Land mit gleichberechtigten Menschen kämpft. Doch das trifft nicht ein. Stattdessen muss sie sehen, dass zum Beispiel den Frauen lediglich subalterne Aufgaben zugewiesen werden.

Wurde es auch nicht anerkannt, dass sie in der schwierigen Zeit Menschen gerettet hat, zumal sie nach dem Krieg ehrenhaft als Ärztin und Neurophysiologin gearbeitet hat?

In der Nachkriegszeit und auch, als sie später wegen ihres Engagements für die Unabhängigkeit Algeriens festgenommen wurde, ist ihr das nicht angerechnet worden, nein. Die Ehrung von Yad Vashem muss von den Menschen, die gerettet wurden, selbst beantragt werden. Das ist auch geschehen, aber erst viel später, in den 90er Jahren. Da wurde sie als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt. Von offizieller französischer Seite hat sich da – soweit ich weiß – nie jemand bei ihr dafür bedankt oder ihr irgendeine Ehre erwiesen.

Und dann setzt sie sich Ende der 50er Jahre für die Unabhängigkeit Algeriens ein, was in Frankreich nicht gerade auf Gegenliebe stieß. Was hat sie eigentlich Ihrer Meinung nach für diese Idee so empfänglich gemacht?

Nach allem, was sie mir erzählt hat und was ich auch im Buch versucht habe zu erzählen, war es ihre Entrüstung darüber, als sie erfuhr, dass die französische Armee in Algerien Methoden anwandte, die sie von der Gestapo kannte, nämlich Menschen zu foltern. Das war wohl für sie ausschlaggebend. Erfahren hatte sie davon aus dem Buch „La question“ von Henri Alleg, der wie Annette Kommunist war, für die algerische Unabhängigkeit kämpfte und festgenommen und gefoltert worden war. Anders als die Nachbarländer Tunesien und Marokko, die nur annektiert waren, gehörte Algerien zu Frankreich, zugleich hatte aber der allergrößte Teil der algerischen Bevölkerung nicht dieselben Bürgerrechte wie die Franzosen. So hat sich Annette dann nach und nach auf die Seite der Algerier geschlagen. Sie wollte Gerechtigkeit und Gleichberechtigung und eine gerechte Behandlung für die algerische Bevölkerung.

Und welche Rolle spielten die sogenannten „Pieds noirs“, die „Schwarzfüße“ in Algerien und in Frankreich?

Die in Algerien lebenden Franzosen stellten knapp eine Million der insgesamt 9 Millionen starken algerischen Bevölkerung, also eine große Minderheit dar, die ihrerseits als Français à part entières (vollwertige Mitglieder Frankreichs) mit allen Rechten ausgestattete Franzosen und somit auch meistens besser gestellt waren. Viele von ihnen mussten oder wollten 1961, als Algerien unabhängig wurde, nach Frankreich fliehen. Es war gefährlich geworden für sie. Einige sind auch geblieben. Auf ihrer Seite gab es aber auch viel Leid, denn sie sind nicht nur in dem Land geboren, viele Familien haben schon seit Generationen dort gelebt und das Land sehr geliebt, wie zum Beispiel Camus.

Die Autorin verbindet das Schicksal Annettes mit Camus‘ Mythos von Sisyphos

Albert Camus spielt in der Geschichte ja eine ähnlich große Rolle wie auch André Malraux mit seinem Roman „Condition humaine“, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Haben Sie beim Schreiben Camus für sich adaptiert oder haben Sie ihn Annette zugeordnet, weil er sie besonders beeindruckt hat?

Annette hat zwar eine große Hochachtung für den Menschen Camus und auch für seine Schriften, aber in der Sache war sie nicht auf seiner Seite, da war sie auf der Seite des FLN (Front de Libération Nationale) und der Unabhängigkeitsbewegung, während Camus in Algerien geboren war und eine tiefe Liebe zu dem Land hatte, zugleich aber schon in den 30er Jahren über die schlimmen Zustände in der Kabylei geschrieben hat. Er wäre dafür gewesen, dass sich die Zustände ändern und es gerechter zugeht, aber er hätte sicher gewollt, dass Algerien französisch bleibt.

Haben Sie ihn auch ins Spiel gebracht, um anhand des „Mythos von Sisyphos“ das Leben von Annette zu erklären? War das in Ihrem Romanepos ein wichtiges Scharnier?

Man kann es so sehen. Am Ende von Camus‘ Buch steht der rätselhafte und schwer zu verstehende Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“. Wenn ich diese Parabel auf Annette übertrage, dann erschließt mir der Satz ganz gut, denn ihre Art, sich immer aufs Neue zu engagieren, sich nicht entmutigen zu lassen, daran zu glauben, dass es besser werden wird, kann auch Glücksgefühle aufkommen lassen.

So haben Sie sie also schon so erlebt, als Sie in Dieulefit auf dem Podium saßen, um über einen Film von Malte Ludin „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß“ zu sprechen, in dem es 60 Jahre nach Kriegsende um einen Nazitäter geht, als Annette sich aus dem Publikum meldet und ihre Stimme erhebt?

Im Film ging es darum, wie ein Sohn, wie eine Familie damit fertig wird, dass der Vater ein hochrangiger Nazi, mitverantwortlich für den Mord an den slowakischen Juden und als Kriegsverbrecher hingerichtet worden ist. Als nach der Veranstaltung das Publikum auch das Wort ergreifen konnte, stand diese zierliche Frau auf, die selbst in der Résistance gewesen war. Bis dahin hatte ich noch nie jemanden aus der Résistance kennengelernt. Ich war sofort von ihr, von ihrer Erscheinung, von ihrem einnehmenden Auftreten angezogen. Sie machte überhaupt nicht den Eindruck eines niedergeschlagenen, entkräfteten und desillusionierten Menschen. Sie sprach so lebhaft, so munter, dass man wirklich das Gefühl hatte, sie würde gleich wieder aufspringen, um etwas Hilfreiches zu tun. Dabei war sie schon weit über 90 Jahre alt.

Dieulefit war für eine solche Diskussion zweifellos ein Symbolort, wo auch viele jüdische Emigranten und widerständige Künstler untergekommen waren.

Dieulefit, wo Annette lange gelebt hat, war dafür bekannt, dass sich hier viele widerständige Menschen, Künstler und Intellektuelle versteckt hielten, aber keiner von ihnen jemals verraten wurde. Dort waren sie einigermaßen in Sicherheit, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die Region längere Zeit nicht von Deutschen, sondern von Italienern besetzt war.

So schlicht wie raffiniert verwebt Anne Weber die Geschichte mit der Geschichte von Annette

Die komplexe Geschichte mit ins Schreiben einzubeziehen, ist nicht gerade leicht. Wie konnten Sie die Biographie der Anne Beaumanoir darstellen und dabei den historisch-politischen Hintergrund fast schlaglichtartig in ihre Erzählung einbetten? Da fügen Sie ganz nonchalant so historische Figuren wie den Général de Gaulle oder Bouteflika ein. Wie gelingt es Ihnen so scheinbar mühelos, die Geschichten zwischen dem Politischen und dem Persönlichen so lakonisch und leicht miteinander zu verflechten?

Wie das zustande kommen, kann ich gar nicht sagen. Da gibt es keine Methode. Das entsteht beim Schreiben selbst. Über den Algerienkrieg, über den ich wenig wusste, habe ich einiges gelesen. Aber ich habe nicht systematisch recherchiert, wie das ein Historiker macht. Ich muss nicht alles wissen. Ich muss ein Bild davon haben. Natürlich darf darin nichts falsch sein. Deshalb habe ich auch noch mal einen befreundeten Historiker gebeten, gegenzulesen, ob faktisch alles stimmt. Und irgendwie verwebt sich das in meinem Kopf dann nach und nach.

Stößt Ihre Sicht der algerischen Geschichte in Frankreich eigentlich auf Gegenliebe im Land? Darin steckt ja auch ein Stück Kritik an Frankreich.

Es kommt darauf an, auf welcher Seite jemand steht. Bis heute ist das Land in dieser Angelegenheit gespalten zwischen denen, die für die Unabhängigkeit waren, und denen, die für die Algérie française, das französische Algerien waren, und deren Nachfahren. Erstere waren nicht alle für die gewaltsamen Methoden, die der FLN angewendet hat. Annette glaubte an die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Und tatsächlich wollte Frankreich von Algerien auf keinen Fall loslassen. Aber Frankreich hat kaum Konzessionen gemacht, z.B. was das Wahlrecht angeht. Interessant fand ich schon, dass ich in Frankreich eine dreiseitige Besprechung für das Buch in der linken Zeitung „Libération“ bekam, und eine Seite in „Le Monde“. In der konservativen, sicherlich FLN-feindlichen Zeitung „Le Figaro“ wurde das Buch nicht besprochen.

Und solche wichtigen Figuren wie Ben Bella, Bouteflika, Boumedienne stammen aus Annettes Erzählungen, und aus ihrem Umkreis?

Ja, das Verrückte ist ja, dass diese Figuren, die Annette gekannt hat, damals in den 60er Jahren an die Macht kamen und teils immer noch dran sind. Bouteflika z. B., der seit Jahren im Rollstuhl saß und nur noch als Marionette regiert hat, während die eigentliche Machthaberin die Armee war und ist.

Annette hat fast drei Jahre in Algerien verbracht…

Als sie 1959 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, hatte sie zwei kleine Söhne, und sie war schwanger mit ihrer Tochter. Nach der Niederkunft gelang es ihr zu fliehen. Aber sie musste ihre drei Kinder zurücklassen, sogar das neugeborene Baby. Es gab keine Amnestie für sie. Als die Unabhängigkeit kam, gab es für etliche eine Amnestie, nicht aber für die „Kofferträger“, zu denen sie gehörte. Sie konnte 9 bis 10 Jahre lang ihre eigenen Kinder nicht mehr sehen – hin und wieder ist sie schon auch illegal und mit falschen Papieren eingereist, verbunden mit dem Risiko, verhaftet zu werden –, sie hat deren Kindheit verpasst. Die Kinder haben ihre Mutter verloren. Das kann man nicht wieder aufholen.

Das Biographische bzw. Autobiographische spielt in Ihren anderen Romanen, angefangen von „Luft und Liebe“, in „August“ und vor allem in „Ahnen“ ja eine nicht ganz unwesentliche Rolle. War das (Auto-)Biographische für Sie ein Impuls zum Schreiben? Und wenn ja, in welcher Form?

In gewisser Weise ist „Annette, ein Heldinnenepos“ das Pendant zu „Ahnen“. Beide Bücher sind Annäherungen an eine Person und deren Leben. In „Ahnen“ ist es eine Reise in die Vergangenheit zu meinem Urgroßvater.

Wenn Sie sich mit Ihrem Urgroßvater beschäftigen, so ist das doch auch Teil Ihrer Familiengeschichte.

Ja, schon, aber diese Bücher sind nicht autobiographisch, sie erzählen von fremden Leben. In „Ahnen“ geht es um die deutsche Vergangenheit, während „Annette“ sich der französischen Geschichte zuwendet. Nur eines meiner Bücher ist tatsächlich autobiographisch, nämlich „Luft und Liebe“.

Anne Weber auf Kurzbesuch in Frankfurt, Februar 2021

Wobei gerade dieser Titel auf etwas hinweist, auf die Leichtigkeit, die Sie vielleicht mit dem Französischen verbinden. Oft ist im Deutschen die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte tonnenschwer. War es für Sie ein Motiv, nach Frankreich zu gehen, weil Sie diese Leichtigkeit im Umgang mit schwierigen Themen auch geschätzt haben?

Ich weiß nicht, ob das eine typisch deutsche oder französische Angelegenheit ist. Das sind ja auch so Klischeevorstellungen, an denen allerdings möglicherweise etwas dran ist. Es gibt auch deutsche Autoren, die eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit ihren eigenen Erfahrungen aufbringen können. Und umgekehrt gibt es Franzosen, die nichts Leichtes an sich haben. Ich weiß nicht, woher das bei mir kommt. Jedenfalls: ich kann fast nicht anders.

Lieben Sie auch deshalb die Meeresspaziergänge, weil Sie die vorbeiziehenden Wolken in sich aufnehmen und dabei wieder ganz Bodenhaftung entwickeln? So, wie Sie oft sogar in einem Satz mal kurz die Ebenen wechseln, und ihre Weberschiffchen von deutschen und französischen Begriffen durch den Text jagen?

Gerade, wenn es um etwas geht, das einen sehr beschäftigt, was einen bedrückt, was einen krank gemacht hat, dann ist Leichtigkeit eigentlich der einzige Weg, davon zu erzählen, ohne dass es peinlich oder auf eine lächerliche Art pathetisch würde. Man muss dazu eine Distanz finden. Auch Ironie ist da hilfreich.

Wie kam es dazu, dass Sie anfangs auf Französisch geschrieben haben? Das setzt eine hohe Kompetenz, Anpassung und Souveränität voraus.

Ich habe immer in sehr französischen Verhältnissen gelebt und hatte es in Paris nie mit Deutschen zu tun. Ich weiß, dass ich als junge Frau in Paris auf keinen Fall als Deutsche erkannt werden wollte. Ich habe mir das damals nicht so bewusst gemacht, womit es womöglich zu tun gehabt haben kann.

Sie wollten sich nicht mit der jüngsten Geschichte der Deutschen identifizieren?

Das Bild der Deutschen ist ja nicht nur durch die deutsche Besatzung und durch den Nationalsozialismus geprägt. Insgesamt wird der Deutsche als so ein schwerfälliger, humorloser, ernster, tüchtiger Langweiler gesehen. Wer möchte sich schon damit gerne in Verbindung gebracht sehen? Ich wollte unbedingt den Akzent verlieren und habe lange daran gearbeitet. Das ist mir aber nicht ganz gelungen. Meine Intonation, meine Satzmelodie ist doch ein bisschen anders. Aber es kann mir keiner auf den Kopf zusagen, dass ich aus Deutschland komme oder woher ich komme. Da habe ich dann auch irgendwann aufgehört, mich weiter anzustrengen, weil ich gemerkt habe, weiter komme ich nicht. Es gibt einen Punkt, über den man nicht hinauskommen kann. Ich bin ja nicht zweisprachig aufgewachsen.

Dazu gibt es noch das typische Pariser Französisch: In Ihrem Buch heißt es „Die Pariser Studenten verfügen über eine flinke Zunge und ein ebensolches Hirn, weshalb sie immer wirken, als hätte sie schon sehr viel mehr begriffen als zu lernen“ … „Annette versucht es erst gar nicht: irgendwer hat ihre Zunge in Blei gegossen“.

Ja, da gibt es große Unterschiede. Annette kommt ja aus der Bretagne. Und da spricht man langsamer.

Sie haben als Genre für das Buch das Epos gewählt. Ist das eigentlich ein Roman oder ist es wegen der gebundenen Sprache eher so etwas wie Dichtung?

Einen gewissen lockeren Rhythmus, akzentuiert durch Binnenreime, gibt es schon. Den habe ich auch beim Schreiben gespürt und den nimmt man beim Lesen vielleicht auch wahr. Natürlich spielt in Prosawerken Rhythmus und Musikalität ebenfalls eine Rolle. Hier aber kommt noch eine gewisse Verdichtung hinzu. Es ist die Erzählung des Lebens dieser Frau in rhythmisierter Prosa.

Was bedeutet es Ihnen denn heute, sprachlich in zwei verschiedenen Ländern zu leben?

Ein wenig fremd fühle ich mich in Frankreich immer noch. Das wird auch nicht mehr weggehen. Wenn man in einem Land nicht Kind gewesen, nicht in die Schule gegangen ist, und dort bestimmte Dinge, die Sozialisation durch Bücher, Filme oder Lieder erlebt hat, dann wird das nicht mehr. Inzwischen fühle ich mich aber auch in Deutschland fremd. Es gibt zwar noch so eine alte Vertrautheit von früher, aber eigentlich fühle ich mich nicht mehr so richtig zugehörig.

Worin drückt sich das aus?

Schon in den Umgangsformen, im täglichen Leben. Ich habe z.B. eine französische Freundin, die mir erzählte, sie sei in Deutschland um 8 Uhr abends eingeladen gewesen. Und als sie dahingegangen sei, hätte es gar nichts zum Essen gegeben. Es war zwar auch nicht von Essen die Rede gewesen, aber wenn man jemanden in Frankreich um 8 Uhr abends einlädt, dann ist das immer mit einem Essen verbunden. Das sind ja nur so oberflächliche Details. Aber es gibt ganz viel Kleines, das dann ein anderes Gewicht bekommt. Gerade was die Lebensgewohnheiten angeht.

Was erleben Sie denn in Frankreich anders?

Was ich als sehr wohltuend erlebe, das sind die geregelten Umgangsformen. Vieles ist dort ja viel förmlicher als in Deutschland. Wenn nicht gerade Corona herrscht: Entweder gibt man sich die Hand oder man drückt sich eine bise auf die Wange – man küsst sich rechts und links. Aber es gibt nicht dieses seltsame Umarmen, wo man sich dann gegenseitig auch noch auf den Rücken klopft, so Körper an Körper. Das wäre für Franzosen viel zu intim. Man berührt nur zart die Wange. Und darüber muss man nicht weiter nachdenken. Das ist eine klare Konvention. Sowas macht den Alltag oft einfacher.

Sie haben den Titel Ihres Buches „Ahnen“ auf Französisch mit „Vaterland“ übersetzt. Was sagen Ihnen die Begriffe Mutterland („mère-patrie“) und Vaterland?

Die Franzosen reden tatsächlich von „la mère-patrie“. Das Vaterland wird als Mutter angesehen. Vaterland ist aber kein Wort, das ich normalerweise gebrauche. Ich habe es für die französische Ausgabe von „Ahnen“ verwendet. Niemals hätte ich das als deutschen Titel genommen. Durch das andere Umfeld und die französische Aussprache ist es für mich wieder benutzbar geworden.

Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Übersetzen französischer Texte. Das ist etwas ganz anderes als Selberschreiben. Fangen Sie da gleich an zu übersetzen oder lesen Sie den Text erst einmal komplett durch, um sich einen ersten atmosphärischen Eindruck zu verschaffen und die Sachlage zu begreifen? Oder lassen Sie sich eher vom Rhythmus des Textes leiten?

Es gibt Übersetzer, die ein Buch gar nicht vorher ganz lesen. Ich lese erst mal den Text und dann arbeite ich mich langsam voran. Meine Freundin Cécile Wajsbrot hingegen, die auch übersetzt, schreibt zunächst eine Rohfassung, die sie dann überarbeitet, sie entwirft dann 3 bis 4 Fassungen. Sie macht das sowohl beim Schreiben als auch beim Übersetzen. Ich arbeite ganz anders.

Das heißt: Sie meißeln Ihre Sätze gleich?

Ja, eigentlich schon, ich versuche, für jeden Satz etwas zu finden und zu schreiben, was so stehenbleiben kann. Manchmal stelle ich etwas in Klammern, wenn ich darauf noch einmal zurückkommen muss. Und wenn ich mich selbst übersetze, dann ist das natürlich etwas anderes. Damit kann ich dann viel freier umgehen. Da kann mir ja niemand fehlende Treue zum Original vorwerfen.

Wenn Sie ihre eigenen Texte schreiben und das in zwei Varianten, auf Deutsch und auf Französisch oder umgekehrt, gibt es dann zwei Originale?

Es kommt darauf an, wie man Original definiert. Ist es das, was zuerst entstanden ist, oder ein von einem Autor, einer Autorin verfasster Text. In diesem Fall gäbe es bei mir zwei Originale.

Börsenverein-Vorsteherin Karin Schmidt-Fridrichs überreicht Anne Weber den Deutschen Buchpreis im Frankfurter Römer

Wie haben Sie die Verleihung des Deutschen Buchpreises erlebt? Hatten Sie damit gerechnet?

Eigentlich hatte ich mit Thomas Hettche gerechnet, der wohl auch Favorit war. Ich dachte, mein Buch eignet sich nicht für den großen Publikumserfolg, der mit dem Preis verbunden sein sollte. Vor der Verleihung war ich noch sehr aufgeregt. Erstaunlicherweise kam nach der Verkündung plötzlich eine große Ruhe über mich. Ich bin keine große Rednerin. Ich war froh, dass ich überhaupt etwas rausgebracht habe. Angeblich habe ich sogar die längste Dankesrede gehalten. Kann sein, dass ich dabei nach Worten gesucht habe, aber ich fürchte, ich suche immer nach Worten.

Hat sich der Preis denn dann tatsächlich auf den Buchverkauf ausgewirkt? Sehen Sie da einen Unterschied zu den früher von Ihnen erschienenen Büchern?

Dieses Buch verkauft sich deutlich  mehr, als es sich sonst verkauft hätte. Bis Anfang Oktober hatten sich 8000 Exemplare verkauft, und jetzt sind es über 100 000. Es war viele Wochen auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste, steht jetzt an erster Stelle auf der Liste der Büchergilde. Das Buch ist inzwischen in der 9. Auflage und wird gerade in zwölf Sprachen übersetzt. Das ist schon eine große Veränderung.

Und ist es Ihr erstes Buch in dem relativ jungen und mittleren Verlag Matthes & Seitz?

Dort war ich vorher schon mit Übersetzungen präsent: mit zwei Büchern von Georges Perros, einem Wahlbretonen. Und im Moment übersetze ich André Dhôtel, einen französischen Schriftsteller, der vor 30 Jahren gestorben ist und viele Romane bei Gallimard herausgebracht hat. Einer davon kommt im Herbst auf Deutsch.

Und hat die französische Version Ihres ausgezeichneten Buches „Annette, une épopée“ (Seuil) in Frankreich vom Buchpreis profitiert?

Wenig. Der Deutsche Buchpreis hat in Frankreich nicht die gleiche Bedeutung. Und da die französische Version bereits im vergangenen Frühjahr erschienen ist, war mein Buch dort ja schon ein halbes Jahr alt, als ich den Preis bekam. Und jetzt sind wir noch einmal ein halbes Jahr weiter. Da tut sich nicht mehr viel.

Vielleicht zählt in Frankreich dann wohl eher auch der Prix Goncourt?

Der ist wiederum in Deutschland nicht so bekannt. Der wird zwar erwähnt, mal auch auf das Buch geschrieben. Da ein damit ausgezeichnetes Buch erst auf Französisch erscheint und erst dann übersetzt wird, kommt es ein halbes oder ganzes Jahr später erst in Deutschland heraus, während in meinem Fall die beiden Fassungen immer gleichzeitig erscheinen.

Antrittslesung von Anne Weber als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim

Sie haben ja noch eine weitere Auszeichnung in diesem komplizierten Jahr. Sie wurden Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Konnten Sie da wegen des Lockdown überhaupt etwas machen?

Nichts von dem, was ich eigentlich vorhatte: Ich wollte mir von den Leuten dort Geschichten erzählen lassen. Immerhin konnte das im Herbst noch an zwei Tagen stattfinden. Da jetzt solche Treffen wieder unmöglich sind, denke ich inzwischen darüber nach, ob ich anbieten soll, dass mir Leute per Skype oder per Telefon ihre Geschichten erzählen können.

Wären Sie ohne Pandemie in Bergen-Enkheim vor Ort gewesen?

Unter anderen Umständen ganz sicher. Ohne Corona wäre ich sicher öfter mal dagewesen. Aber ich habe einen Mann in Frankreich, der dort seine beruflichen Verpflichtungen hat. Ihn kann ich nicht längere Zeit nach Bergen-Enkheim locken. Ich möchte auch nicht so lange getrennt von ihm leben. Es gibt ja auch keine Anwesenheitspflicht. Jetzt ist allein schon das An- und Abreisen schwierig. Es muss vorher getestet werden, dann kommt man in Quarantäne, dann wird man nochmal getestet. Und gerade hatte ich wieder einen Test, um zurückfahren zu können.

Ihr Mann ist Verleger von „Le bruit du temps“ (frei nach Ossip Mandelstam), ein Haus, in dem ein Stück Weltliteratur zu Hause ist. Arbeiten Sie da mit?

Nein. Das macht er. Wir reden über manche Sachen, ich lese auch mal was. So habe ich ihn zum Beispiel überredet, Patrick Roth zu verlegen. Er selbst ist Anglist und die Schwerpunkte seines Verlags sind eher die englische, russische und osteuropäische Literatur. Ansonsten macht er auch viele Neuübersetzungen und Gesamtausgaben, von Isaak Babel z.B.. Seine Bücher sind schön anzusehen und auf gutem Papier gedruckt.

Sein Vater Philippe Jacottet ist ja auch ein berühmter Schriftsteller. Hat Sie das nicht eingeschüchtert, als Sie in die Familie kamen?

Am Anfang schon. Als Dichter ist er sicher einschüchternd, aber als Mensch ist er so angenehm, bescheiden, offen und freundlich, dass ich mich da sehr schnell aufgenommen gefühlt habe.

Hätten Sie ihn auch gerne übersetzt?

Die Frage hat sich nie gestellt, er hat sehr gute deutsche Übersetzer. Als ich vor ca. 12 Jahren in die Familie kam, schrieb er kaum noch. Er hat ja schon in den 40er Jahren angefangen, bei Gallimard zu veröffentlichen. Vor etwa 10 Jahren hat er dann aufgehört zu schreiben. Demnächst kommt noch einmal etwas heraus, aber das ist vorher entstanden.

Ist er auch stolz auf Sie, zumal Sie den Deutschen Buchpreis gewonnen haben?

Er nimmt erstaunlich großen Anteil an meinem Schreiben. Er liest auch Deutsch, hat selbst Rilke und Musil übersetzt. Aber wir haben noch nie Deutsch miteinander gesprochen. Oft ist ja die Kenntnis der Sprache bei Übersetzern doch eine sehr literarische und kommt weniger vom Sprechen her.

Vater und Sohn Jacottet sind in Frankreich lebende Schweizer. Und Sie? Haben Sie inzwischen die französische Nationalität?

Die wollte ich immer mal beantragen, aber jetzt braucht man das als Europäer eigentlich nicht. Es sei denn, bei den Wahlen. Ich wähle bei der Europawahl und in Frankreich bei den Kommunalwahlen, jedoch nicht bei den Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen.

Hauke Huckstädt, Leiter des Frankfurter Literaturhauses, präsentiert die Aktion virtueller Lesungen „ZWEITERFRUEHLING“

Anne Weber las im Anschluss an das Gespräch im Literaturhaus Frankfurt im Rahmen der Reihe „ZWEITERFRUEHLING Bücher währen länger!“ Diese Kampagne ist ein Zusammenschluss von literaturhaus.net, dem Netzwerk der Literaturhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dem Literaturhaus Basel, dem Literaturhaus Frankfurt am Main, dem Literarischen Zentrum Göttingen, dem Literaturhaus Hamburg, dem Literaturhaus Köln, dem Literarischen Colloquium Berlin, dem Literaturhaus Rostock, dem Literaturhaus Leipzig, dem Literaturhaus Salzburg, dem Literaturhaus Stuttgart, dem Literaturhaus Wien, dem Literaturhaus Wiesbaden und dem Literaturhaus Zürich, um den Autoren eine zweite Chance für ihr Buch zu geben.

 

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