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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Natalia Romik. Architekturen des Überlebens. Geschichte – Kunst – Forensik“ – Eine ungewöhnliche Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt

Unbetretenes Land von hoher Aktualität

von Petra Kammann

Eine so erschreckend wie hoffnungsspendende Ausstellung im Jüdischen Museum zeigt – bestens multimedial aufbereitet – Verstecke, in denen sich Jüdinnen und Juden während der Schoa im heutigen östlichen Polen und in der westlichen Ukraine zeitweilig verborgen haben, um ihren Häschern zu entgehen. Sie dokumentiert die Erforschung von neun Verstecken und deren Konstruktion und schafft gleichzeitig in silbern schimmernden Skulpturen ein ausschnitthaftes Abbild der untersuchten beengten Un-Orte, in denen Menschen überlebten, darunter eine mehr als 600 Jahre alte Josefseiche, die zwei Brüdern Schutz geboten hat. …

Lichtvoller Schimmer der Hoffnung beim ersten Blick auf die neun ausgestellten silbernen Skulpturen, Foto: Petra Kammann

Betritt man den unteren abgedunkelten Ausstellungsraum im Jüdischen Museum, so empfängt einen eine geheimnisvolle Atmosphäre mit silbern schimmernden Skulpturen. Handelt es sich hier um die Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit abstrakten Skulpturen? Ja und nein. Geht man um diese Skulpturen herum, entdeckt man jeweils eine spröde dunkle Rückseite, die auf den Ursprung und die Materialität der entnommenen Skulptur aufmerksam macht.

Teil der vergrößerten Struktur eines verlegten Parkettbodens, Foto: Petra Kammann

So die mittig platzierte zackige Skulptur, die auf den Eingang eines gut getarnten Schachts im Parkett eines Zimmers in einem nicht unterkellerten Hauses verweist, der heimlich in den Boden gegraben wurde und in dem zwischen 1942 und 1944 bis zu 18 Personen Unterschlupf fanden. Die polnische Architektin, Politikwissenschaftlerin und Künstlerin Natalia Romik hat die Skulptur anhand von Abgüssen vor Ort gefertigt, um die Struktur des Parketts festzuhalten, zu sehen auf der Rückseite und anhand der gezackten Form. Diesen Abguss hat sie dann mit einer hauchfeinen silbernen Haut überzogen, die einen Schimmer kostbarer Hoffnung in schwierigen Zeiten ausstrahlt.

Kuba Szrede, Kunsttheoretiker der Akademie der Bildenden Künste in Warschau, bei der Erläuterung der Vitrinen, Foto: Petra Kammann

Im weiteren Ausstellungsraum des Jüdischen Museums stoßen wir wegen der Besonderheit der wertvollen Dokumente auf sorgfältig gebaute Ausstellungsvitrinen aus kostbarem Holz, die Romik eigens dafür entwarf. In ihnen werden diese kostbaren Dokumente der Erinnerung – Gespräche, Gegenstände und Fotos zur Geschichte der Verstecke – ausgebreitet, während uns die projizierten Filme in beiden Ausstellungsräumen vor Augen führen, mit welchen audiovisuellen forensischen Methoden diese Orte von heutigen Forscherteams gründlich untersucht werden können und wurden.

Die Architektin, Künstlerin und Forscherin Natalia Romik verweist auf die im Schrank verborgenen eingeschriebenen Hinweise, Foto: Petra Kammann

Baumhöhlen in den Wäldern, Wandschränke in privaten Haushalten, Keller, Kanalisationsschächte, leere Gräber, Höhlen und andere prekäre Orte dienten den damals schutzsuchenden Menschen, die fürchteten, in eines der Konzentrationslager verschleppt zu werden, ad hoc als Zufluchtsort. Denkt man an die heutige Lage in der Ukraine, so sind solche Verstecke von erschreckender Aktualität.

Die engagierte Gestalterin Natalia Romik, die den Dingen auf den Grund gehen wollte, hat sich mit diesen fragilen Orten allerdings schon 2019 vor Ausbruch des Krieges beschäftigt. Systematisch hat sie diese vermessen, abgegossen, Zeitzeugen oder deren Nachfahren aufgesucht, befragt, und ist den entsprechenden Stätten mit interdisziplinären Teams zu Leibe gerückt. Dabei hat sie eine Menge Neues erfahren, was sich an den dazugehörigen Dokumenten, die derzeit im Jüdischen Museum ausgestellt sind, nachverfolgen lässt.

Angefangen hatte das Ganze, als Romik den Dorfgeschichten über eine 650 Jahre alte Josefseiche im Park des Schlosses von Wiśniowa im Karpatenvorland lauschte. Das Innere des Baumes soll während des Zweiten Weltkriegs zwei Brüdern, Dawid und Paul Denholz, als Versteck gedient haben, die 1942 aus dem Konzentrationslager Plaszow in Krakau in die nahen Wälder fliehen konnten, hieß es.

Museumsdirektorin Mirjam Wenzel neben der „Jakobseiche“, Foto: Petra Kammann

Natalia Romik, die als Architektin mit der Rekonstruktion einer Synagoge betraut gewesen war und sich in diesem Zusammenhang mit dem Verschwinden der Architektur des Schtetls beschäftigt hatte, fühlte sich zu dieser verborgenen Architektur hingezogen. Also ließ sie die Sache nicht los. Sie wollte mehr darüber wissen. So befindet sich im oberen Teil des Fragments der Jakobseiche ein natürliches Loch, das sich wohl im Laufe der Zeit zunehmend zurückgebildet hat. Vermutlich war es in den 1940er Jahren noch mannshoch, so dass die Menschen dadurch ins Innere des Baumes gelangen konnten.

Was die Archive nicht hergaben, fand Romik auf bewunderswerte Weise durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschern und Forscherinnen heraus. Mithilfe eines Botanikers, einer Endoskopkamera und einer Hebebühne gelangte das Forschungsteam in das Innere, den Hohlraum des alten Baumes, um feststellen, dass dort mehrere Bretter als Stufen angebracht waren, die den Menschen wohl beim Rein- und Rausklettern geholfen haben müssen. Die beiden Brüder Dawid und Paul Denholz überlebten auf diese Weise und wanderten nach dem Krieg dann in die USA aus. Das ist verbürgt. Und Romik hat eine bewegende Begegnung mit den Töchtern der beiden Brüder. 

Dunkelbraun und harzig die Rückseite der sogenannten Josefseiche, links: Mirjam Wenzel, rechts: Ina Hartwig und Natalia Romik, Foto: Petra Kammann

Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig erinnerte an das Versteck von Valentin Senger in der Kaiserhofstraße 12, der dort mit der Hilfe von Polizisten überleben konnte. Was jedoch im östlichen Europa passierte, sei über einen langen Zeiträumen für uns eine „Terra incognita“ gewesen. Umso mehr freue sie sich, wenn die Verhandlungen, Lemberg (Lwiw) zur Partnerstadt Frankfurts zu machen, Früchte trügen. Die Direktorin des Jüdischen Museums Mirjam Wenzel hatte diese großartige Ausstellung erstmalig 2022 in Warschau in der Kunstgalerie Zacheta entdeckt, von wo aus sie im Winter 2022/33 in das Zentrum für zeitgenössische Kunst Trafo nach Stettin wanderte. Sie lud unmittelbar Natalia Romik mit dieser Schau nach Frankfurt ein, was der Sache ein noch stärkeres europäisches Gewicht gibt, zumal jetzt auch ein englisch-deutscher Katalog im Verlag Hatje Cantz erschienen ist.

Hochinteressant auch die Filme der Speläologen in der ukrainischen Gipshöhle Verteba, Foto: Petra Kammann

Gut, dass es auch ein intensives Begleitprogramm zur Ausstellung gibt. Denn ein Besuch der Ausstellung reicht nicht, um die Ausmaße dessen auf sich wirken zu lassen, welche Bedeutung diese versteckte Architektur hat.

Anm.d.Red.: Rund 90 Prozent der Jüdinnen und Juden in Polen wurden durch die Nazis ermordet. Etwa 50.000 überlebten in Verstecken.

Die neue Ausstellung

Natalia Romik „Architekturen des Überlebens. Geschichte – Kunst – Forensik“ 

vom 1. März  bis zum 1. Dezember 2024

Jüdisches Museum Frankfurt

Bertha-Pappenheim-Platz 1

60311 Frankfurt

Öffnungszeiten

dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr

www.juedischesmuseum.de

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