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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

George Orwells „1984“ am Berliner Ensemble

Luc Percevals Inszenierung einer Zukunftsvision

von Simone Hamm

Die vier Schauspieler tragen graue Anzüge und große Hornbrillen. Sie haben kahl geschorene Köpfe und sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert verkörpern virtuos eine einzige Person: Winston.

 „1984“ von George Orwell, Regie: Luc Perceval , v.l.:  Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar, Veit Schubert, Paul Herwig, Foto © Jörg Brüggemann / Berliner Ensemble

Ein Winston hockt auf dem Boden, ein Winston liegt auf einem Lattenrost, ein Winston klettert daran hoch, ein Winston kauert sich zusammen. Das Quartett scheint einen Text vom Teleprompter abzulesen, einen einzigen langen inneren Monolog. Sie stehen vor zwei verspiegelten Wänden, die im spitzen Winkel zueinander stehen. Es sieht so aus, als stünden unendlich viel Winstons auf der Bühne.

So beginnt Luc Percevals Interpretation von George Orwells 1984. Orwell hat diesen Roman zwischen 1946 und 1948 geschrieben, die Erinnerung an die Naziherrschaft war noch ganz frisch. In der damaligen Sowjetunion herrschte der Diktator Stalin. Orwell beschreibt einen totalitären Überwachungsstaat. Der große Bruder beachtet alle Einwohner ununterbrochen.

Winston, Angestellter im Ministerium für Wahrheit, verliebt sich in Julia, die nicht wirklich politisch denkt. Sie will leben, lieben, sich kleine Freiheiten ertrotzen. In einer wunderbaren Szene verstecken sie sich hinter einer Stellwand, unsichtbar fürs Publikum. Langsam erkunden sie ihre Körper. Für einen Moment fühlen sie sich frei, Big Brother, die Partei, kann sie ebenso wenig sehen wie das Publikum.

 v.l.: Oliver Kraushaar, Pauline Knof, Paul Herwig, Veit Schubert, Foto: © Jörg Brüggemann Berliner Ensemble

Julia im beigen Trenchcoat (Pauline Knopf) hat ebenfalls drei Doppelgängerinnen, die aber nicht sprechen, sondern singen. Korsische Weisen mit traurig schönen Kopfstimmen. Das hat durchaus etwas Liturgisches.

Winston begehrt gegen das unmenschliche System auf, schließt sich einer Gruppe Dissidenten an. Er erkennt nicht, dass er betrogen wird, dass sein Mitverschwörer O’Brian der Partei angehört.

Winston und Julia werden verhaftet, gefoltert, verraten sich gegenseitig. Bisweilen kommen die Stimmen Winstons von überall, von vorn, von den Seiten, von hinten. Zuerst sind die Stimmen der Winstons klar und deutlich. Nach Winstons Verhaftung herrscht Chaos in seinem Kopf. Alle reden durcheinander, brüllen.

Bei George Orwell sterben Julia und Winston. Bei Luc Perceval leben sie weiter, treffen sich erneut. Bei ihm gibt es das Außen nicht mehr. Alles spielt sich im Kopf des Protagonisten Winston ab. Deshalb sprechen die Winstons auch den Text vom strammen Parteigänger O’Brian.

Gibt es also die Partei, Big Brother nur in ihrem Kopf?

Hätten sich Winston und Julia eine andere Wirklichkeit schaffen können? Wären sie also eigentlich frei gewesen?

Das ist eine sehr gewagte Interpretation von 1984. Als interessiere sich Luc Perceval nicht wirklich ernsthaft für die politischen Dimensionen der Überwachung, sondern um die Ängste davor, die in den Köpfen der Menschen stecken.

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