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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen. Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt

Poesie als Asyl – Musik als Zukunft – Aber Hass – Nein

„Bei allem, was ich tue, handele ich auch aus Trotz.“

von Renate Feyerbacher

Corona hat die Ausstellung zum 100. Geburtstag des bedeutenden Literaturkenners, -kritikers und Autors Marcel Reich-Ranicki in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt vor zwei Jahren verhindert. Zu seinem 102.Geburtstag, am 2. Juni 2022 wurde sie nun nachgeholt. Kuratiert haben die Ausstellung Dr. Sylvia Asmus, die Leiterin des Deutschen Exilarchiv 1922-1945 in der DNB, und Dr. Uwe Wittstock, der in seinem Buch Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie (Piper Verlag 2020) neue Dokumente gesichtet hat, die nun auch in die Schau aufgenommen wurden. Zur Eröffnung waren seine Enkelin Carla Ranicki und seine Schwiegertochter Ida Thompson gekommen.

Die Kuratoren Sylvia Asmus und Uwe Wittstock mit Carla Ranicki in der Ausstellung, Foto: Renate Feyerbacher

In einer der Begleitveranstaltungen der DNB im Juni diskutierten Hubert Spiegel, Volker Weidermann, Uwe Wittstock, alle drei führende Literaturwissenschaftler, -kritiker, Autoren unseres Landes. Alle drei Herren schrieben unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), deren literarischer Chef 15 Jahre lang Marcel Reich-Ranicki war. Sie kannten ihn also und schrieben nach seinem Tod 2013 über ihn. Mit von der Partie war auch die Autorin und Kolumnistin Elke Heidenreich, die die Sendung-Lesen im ZDF betreut hatte und Reich-Ranicki gut kannte.

Literaturkritiker und Biograf Uwe Wittwock mit Reich-Ranickis Sohn Andrew Reich (2018 in Edinburgh verstorben) 2015 im Museum Angewandte Kunst 2015, Foto: Petra Kammann

Übereinstimmend hielten die Vier Reich-Ranickis Autobiographie Mein Leben für sein bestes Buch. Als es 1999 (Deutsche Verlagsanstalt) erschien, war es ein Renner. Wollten doch die interessierten Fernsehzuschauer des Literarischen Quartetts mehr über seinen quirligen Leiter erfahren.

Das Buch vor dem Besuch der Ausstellung gelesen zu haben, ist mehr als hilfreich. Es ist ein bedeutendes Zeitdokument. In Polen geboren, kam der Autor mit der Familie nach Berlin aufgrund der Insolvenz des väterlichen Betriebs. Er war damals neun Jahre alt, machte mit 18 Jahren Abitur in Berlin. Die Mutter Helene Reich, geborene Auerbach, prägte seine frühe Begeisterung für die deutsche Sprache und Literatur. In Polen hatte sie sich „wie in der Verbannung“ fremd gefühlt. Ein Foto gibt es von ihr, zusammen mit ihren Kindern Gerda, Herbert Alexander und Marcel aus dem Jahre 1927.

Foto vom Titel des Buches „Mein Leben“, : Renate Feyerbacher

Drei Deutschlehrer hatte Marcel Reich-Ranicki im Berliner Fichte-Gymnasium. Mit einem, dem Germanisten Dr. Carl Beck, war er eng verbunden und bekam für seine Aufsätze meist die Note ‚sehr gut‘. Im Abiturzeugnis, da hatte ein anderer Lehrer, der sich als Nazi vorstellte, die Deutsch-Stunden übernommen, gab es nur noch ein ‚gut‘. „Bei diesem Schüler (das sollte heißen: bei einem Juden) sei die Note ‚sehr gut‘ für Deutsch nicht angebracht.“ (Zitiert aus dem Kapitel „Mehrere Liebesgeschichten auf einmal“)

Im Kapitel „Die schönste Zuflucht: das Theater“ erzählt der Autor, wie er die Weltdramatik, die im Theater am Gendarmenmarkt auf die Bühne kam, buchstäblich aufgesogen hat. Viele Sätze widmet er Gustaf Gründgens, der das Haus groß gemacht hatte. Für Reich-Ranicki war dessen Hamlet-Interpretation 1936 in Berlin einmalig, mehr noch als seine berühmte Nachkriegs-Mephisto-Interpretation, die er auch nie vergessen würde. In gewisser Weise verteidigt er Gründgens, der dem Hitler-Staat zwar gedient habe: „Aber er hat zugleich (und das ist sicher) jenen gedient, die an der Herrschaft der Nationalsozialisten litten und mitten im ‚Dritten Reich‘ Trost und Hilfe suchten [..] Er hat das Leben von Menschen gerettet, die damals aufs höchste gefährdet waren.“ Ebenso begeistert war er auch von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg und Tristan und Isolde.

Gewiss vergab er ihm in seinem Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ nicht seine antisemitischen Attacken, erinnerte aber daran, dass es gerade jüdische Dirigenten seien und waren, die Wagners Musik schätzten.

Bewerbung um die Aufnahme als Student mit dem Vermerk „abgelehnt“, 1938. Humboldt-Universität zu Berlin, HU UA, Rektor und Senat.01, Nr. 1096, Bl. 81 DNB

Die Angst hatte Marcel Reich-Ranicki schon lange begleitet. Nie habe er an einer Universität studiert. Nach dem Abitur bewarb er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität, in deren Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg dann die Humboldt-Universität steht, hatte im Jahre 1938 dem Studenten Marceli Reich die Zulassung zum Studium verweigert. Er wurde als Jude abgelehnt. Endes ihres Wintersemesters 2006/2007 erhielt er sehr spät dann einen Ehrendoktor der Humboldt-Universität.

Im Oktober 1938 folgte die Deportierung des 18-jährigen Reich-Ranicki nach Warschau. Er nahm nur eine Aktentasche, einen Balzac-Roman und ein Reservetaschentuch mit. Trotz aller Unbillen hatte er aus dem Land, aus dem er vertrieben wurde „die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche.“ Sein Geburtsland wurde sein Exil.

Im zweiten Teil seiner Autobiografie erinnert er sich an die Jahre 1938 bis 1944. Ein wichtiges Datum war für ihn der 21. Januar 1940. Er habe den Satz seiner Mutter: „Kümmere dich um das Mädchen!“ nie vergessen. Das Mädchen, das war die neunzehnjährige Teofila Langnas, genannt Tosia, deren Vater ein angesehener und beliebter Kaufmann, sich erhängt hatte. Er kümmerte sich um das Mädchen. Tosia und Marcel heirateten und blieben ein Leben lang zusammen. Tosia, die 2011 starb, und Marcel 2013, haben jetzt ein gemeinsames Grab auf dem Frankfurter Friedhof.

Von Teofila Reich-Ranicki angelegtes Notizbuch über Publikationen ihres Mannes, 1950er – 1970er Jahre © Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Carla Ranicki, DNB, Fotos: Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt

Zuerst wurde Warschau als „Seuchensperrgebiet“ ausgegeben, dann folgte die Einrichtung des Ghettos. Aufgrund seiner exzellenten deutschen Sprache ernannte ihn der „Judenrat“ zum Leiter des Übersetzungs-und Korrespondenzbüros. Diese Tätigkeit hat ihn zu einem der wichtigsten Zeitzeugen der Nazi-Verbrechen im Warschauer Ghetto gemacht.

1942 sei die schlimmste Zeit gewesen, denn die Auflösung des Ghettos und der Transport seiner Bewohner nach Treblinka in die Gaskammern hatten begonnen. Seine Eltern und Teofilas Mutter werden ermordet.

Anfang 1943 gelingt dem Ehepaar Reich die Flucht aus dem Ghetto, dem Bruder Alexander Herbert allerdings nicht. Beim Ghetto -Aufstand im April 1943 war das Paar nicht mehr dabei. Mit Bestechung habe das Leben im Ghetto geendet, mit Bestechung habe es außerhalb des Ghettos begonnen.

Nach einer unglaublichen Flucht, Tosia hatte mittlerweile ‚arische‘ Personaldokumente und konnte als Dienstmädchen arbeiten, fanden sie Unterschlupf bei einer polnischen Familie. 16 Monate lang überlebten sie im Kellerverschlag im jämmerlichen Häuschen von Bolek und seiner Frau Genia, in dem es nur ein einziges Buch gab.

Im September 1944 waren die Russen da: „Nie habe ich Krach mehr genossen, nie hat mir Lärm mehr gefallen.“ Die Reichs schlossen sich den polnischen Einheiten der Roten Armee an.

In Polen der Nachkriegsjahre wurde Marcel Kommunist und arbeitete für den polnischen Geheimdienst. Ranicki hieß er nun. Als Konsul in London hatte er die Aktivitäten der polnischen nicht-kommunistischen Exilregierung zu überwachen. Erst 1994 äußerte er sich, gedrängt durch einen Fernsehbeitrag, über diese Zeit. Er war der Meinung, „dass er der deutschen Öffentlichkeit angesichts seiner Verfolgungserfahrung keine Rechenschaft über sein Leben in den ersten Nachkriegsjahren schuldig sei.“ (Zitat aus der Begleitbroschüre zur Wechselausstellung Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen. Hrsg. DNB)

Aufenthaltserlaubnis 1959 und Einbürgerungsurkunde 1959, Foto: Renate Feyerbacher

1958 kehrte er nach Deutschland zurück, wurde sofort als Kritiker anerkannt und schon bald gerühmt. Aber er musste immer wieder erleben, dass er trotz aller Erfolge nie „dazu“ gehörte. Er wurde als Fremder behandelt, durch hässliche Karikaturen verunglimpft. Er blieb ein Außenseiter ein Leben lang. Ehrendoktorwürden erhielt er von mehreren Universitäten, aber von keiner deutschen Akademie wurde er jemals als Mitglied berufen.

Reich-Ranicki bei der Film-Premiere in Köln mit Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler, Foto: Petra Kammann

Thomas-Mann-Preis, Bambi-Kulturpreis, Ludwig-Börne-Preis, Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, Großes Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland –  all diese Auszeichnungen wurden ihm zuteil. Und er hielt die Gedenkrede zum Holocaust im Bundestag. Den Fernsehpreis lehnte er ab, war aber von der Fernseh-Verfilmung seiner Autobiografie „Mein Leben“ mit Katharina Schüttler und Matthias Schweighöfer 2009 sehr angetan.

Bambi und andere Auszeichnungen, Foto: Renate Feyerbacher

Kein Wunder, wenn er 2001 im Gespräch mit Michel Friedmann sagte: „Ich bin kein Deutscher“. Seine Heimat sei die Literatur.
Immer wieder polarisierte er das Publikum.

Über das Literarische Quartett, das ab 1988 im ZDF gesendet wurde, schreibt er einiges. Er erwähnt den Besuch von zwei gebildeten Herren des ZDF ein Jahr zuvor: Dieter Schwarzenau und der Historiker und Publizist Johannes Willms, der zunächst im Hessischen Rundfunk arbeitete, dann zum ZDF wechselte in die Sendung „Aspekte“ und später Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung (SZ) wurde (gestorben im Juli 2022). Die „liebenswürdigen“ Herren ließen nicht locker und sich von seinen Bedingungen nicht irritieren auch, wenn er mehrfach ,Nein‘ sagte.

Der Historiker und Publizist Johannes Willms, der mit MRR das „Literarische Quartett“ aus der Taufe hob, Foto: Petra Kammann

Die Sendung wurde anfangs als Totgeburt kritisiert. Marcel Reich-Ranicki war sich durchaus bewusst, dass es Einwände gab: keine ordentlichen Analysen, unentwegt Vereinfachung, aber die Verkaufszahlen der besprochenen Bücher stiegen und „die breite öffentliche Wirkung auf das Publikum-, das hat mir das Fernsehen erst ermöglicht.“ Immerhin blieb es die von ihm geleitete Sendung bis Ende 2001. Die letzte wurde sogar auf Einladung von Bundespräsidenten Johannes Rau im Amtssitz Schloss Bellevue aufgezeichnet.

Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens auf Sylt, 1967 © Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Carla Ranicki. Fotos: Andrew Ranicki, DNB

Marcel Reich-Ranicki verkrachte sich immer wieder mit Schriftstellern, mit denen er befreundet war. Heinrich Böll, der von Marcel Reich-Ranicki früh und immer Hilfe erfahren hatte, war stinksauer, wie eigenmächtig der FAZ-Literaturchef seine Texte kürzte. „Arschloch“ flüsterte Böll ihm Jahre später ins Ohr. Es war als Versöhnung gedacht. Die langjährige Freundschaft mit Walter Jens zerbrach. Günter Grass, Peter Handke, Martin Walser, Elfriede Jelinek und und und…Sie alle bekamen ihr Fett ab. Schriftsteller wehrten sich gegen den Verriss ihrer Werke.

Familienfoto bei der Einweihung der Ehrenplakette vor MRRs Frankfurter Wohnung 2016 – Enkelin Carla Ranicki mit Nico Marcel, MRRs Sohn Andrew Ranicki und Ehefrau Ida Thompson, Foto: Petra Kammann

Zimperlich sind sie in Debatten, Briefen und Kritiken nicht miteinander umgegangen. Niveaulos, manchmal sogar beleidigend war der Umgang miteinander.

Die Ausstellung:

Die Ausstellung Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben viele Rollen. zeigt eine Vielzahl von Dokumenten, Fotos, vor allem Video- und Audiodokumente, in denen er zu Wort kommt, sind mittels eines Tablets zu sehen und zu hören. Die Wände sind beschriftet mit Angaben zu den Büchern seiner Anthologie und „Der Kanon“. Ständig werden Führungen und Veranstaltungen angeboten. Diese hochinteressante Ausstellung hat mir Marcel Reich-Ranicki, dessen polternde Art ich eigentlich nicht mochte, doch näher gebracht.

Noch bis zum 14. Januar 2023 ist der Besuch außer sonn- und feiertags täglich möglich.

www.dnb.de/mrr

Bücher der genannten Literaturkritiker:

Hg. Hubert Spiegel

Begegnungen mit Marcel Reich-Ranicki Insel Verlag 2005

Uwe Wittstock

Marcel Reich-Ranicki – Die Biografie 2020

Volker Weidermann

Das Duell – Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki  btb 2021

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