home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Kunstwelt zu Gast in Hessen: documenta fifteen öffnet

Den globalen Süden im Blick

Die weltweit bedeutende Rolle der documenta als Avantgarde-Ausstellung hat Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn bei der Eröffnungspressekonferenz der documenta fifteen im Auestadion in Kassel betont: „Ab dem Wochenende kann die Öffentlichkeit das Konzept, die Ausstellungen, die Kunsträume und die Veranstaltungen der documenta fifteen sehen und daran teilnehmen. Wir sind gespannt auf diese 15. Ausgabe der Weltkunstausstellung, die seit ihrem Beginn den Anspruch hat, die Ausstellung der Kunst von heute und damit für morgen zu sein. Glücklicherweise erlaubt es die Corona-Pandemie derzeit, die documenta nahezu normal durchzuführen – unsere documenta, auf die wir als Land Hessen sehr stolz sind und die wir gemeinsam mit der Stadt und dem Bund tragen. Die Welt der Kunst blickt nach Kassel!“

Wissenschaftsministerin Angela Dorn; © Hessische Staatskanzlei

„Die documenta stellt in Frage, wie wir die Welt sehen; sie hinterfragt immer wieder auch den Kunstbegriff als solchen“, erläuterte Ministerin Dorn. „An diese Tradition knüpft ruangrupa, das Kuratorenkollektiv der documenta fifteen, nahtlos an: Sie und die von ihnen eingeladenen Künstlerinnen und Künstler begreifen Kunst als Prozess von Teilhabe, gesellschaftlichem Diskurs und gemeinschaftlichem Austausch von Ideen, Wissen und Können. Es geht um das gemeinschaftliche Erarbeiten von Lebensformen, die Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Dieser künstlerische Ansatz gibt Impulse, unsere Gesellschaft anders zu denken und auch zu gestalten“, so die Ministerin. „Die eingeladenen Kollektive steuern ihren jeweils ganz eigenen Blick bei, den Blick insbesondere des Globalen Südens. Wir können viel lernen von Regionen der Welt, die seit langem etwa mit den Effekten des überhitzten Planeten umgehen, wir können uns ihre Lösungen und Ideen anschauen, ihre Visionen und Lebenskonzepte – wie eben das Bild von der gemeinschaftlich bewirtschafteten Reisscheune lumbung, das ruangrupa sich zum Vorbild für das Ausstellungskonzept gewählt hat. Es ist auch deshalb wichtig, den Globalen Süden in den Mittelpunkt zu stellen, weil er auf der documenta bislang zu wenig vertreten war; so war etwa aus dem viert-bevölkerungsreichsten Land der Welt, Indonesien, meines Wissens noch nie Kunst hier zu sehen.“

Plattform der Kollektive:

Das soziale Netzwerk lumbung.space ermöglicht Experimente zur Entwicklung unabhängiger, nachhaltiger Medienpraktiken und die ruruHaus-Website vernetzt das Kasseler Ekosistem. Da Viele der zur documenta fifteen eingeladenen Künstler*innen und Kollektive sowohl geografisch als auch in Bezug auf ihre jeweiligen Lebenswelten und Bedürfnisse weit voneinander entfernt sind. Zusätzlich erschwerten die Reisebeschränkungen in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie persönliche Treffen . Daher entstand mit lumbung.space ein experimentelles soziales Netzwerk und Publikationstool, gewissermaßen, damit sich auf dieser Online-Plattform die lumbung member und lumbung-Künstler*innen vernetzen, sich gegenseitig unterstützen und ihr Wissen zu teilen. So entsteht ein lebendiges Archiv und digitales Wohnzimmer.

Am 29. März 2021 ging bereits die erste Version der ruruHaus-Website online. Am 29. April folgte dann lumbung.space.Die ruruHaus-Website ermöglicht dem Kasseler Ekosistem Vernetzung sowie das Sammeln und Teilen von Ressourcen. Wie lumbung.space ist die ruruHaus-Website ein Experiment, das erprobt, wie sich ein geteiltes Wohnzimmer im digitalen Raum entwickeln kann. Das Ziel von lumbung.space besteht darin, eine digitale Infrastruktur zu schaffen, die das lumbung-Netzwerk unabhängig von extraktiven kommerziellen Angeboten selbst betreibt. Die Plattform ist daher ein aktuelles Experiment, das erprobt, wie ein von Künstler*innen geschaffener digitaler Raum aussehen kann.

Als Verfahren kreativen Dokumentierens ist das Sammeln von Harvests (der sogenannten „Ernte“ aus Diskussionen und Treffen) eines der wichtigsten Elemente des kollektiven lumbung-Prozesses. lumbung.space ermöglicht die Teilhabe daran. Die Plattform besteht aus mehreren Tools für die Veröffentlichung von Inhalten und zum Teilen von Wissen. Die Infrastruktur erlaubt private, halböffentliche und öffentliche Kommunikation über die Kanäle lumbung.tv, lumbung social, nongkrong.lumbung.space, lumbung pen, panduan.lumbung.space, books.lumbung.space, cloud.lumbung und lumbung shouts. Außerdem sind Erweiterungen zu lumbung Galleryund lumbung Kios geplant.

Cinema Caravan, beim Zushi Beach Film Festival, Zushi, 2017, Foto: Rai Shizuno

lumbung.tv  wiederum ermöglicht das Teilen und Streamen von Videos. lumbung social ist ein internes soziales Netzwerk, in dem sich die lumbung member und lumbung-Künstler*innen austauschen oder Einblicke in ihr Privatleben und ihre Arbeit geben, auch einem breiteren Publikum.

nongkrong.lumbung.space bietet einen Chat-Raum, der auch für Online-Treffen zur Verfügung steht. Während lumbung pen der Veröffentlichung längerer Texte dient, ist panduan.lumbung.space ein Notizbuch zum gemeinsamen Bearbeiten von Dokumenten. In der digitalen Bibliothek books.lumbung.space können die Mitglieder des Netzwerks Publikationen lesen und sich austauschen. Zuletzt eröffnet cloud.lumbung.space die Möglichkeit, die entstandenen Daten in einer gemeinsamen Cloud zu speichern. Auch auf der Startseite von lumbung.space können Inhalte publiziert werden. Die Funktion lumbung shouts bündelt dabei Updates der eigenen Webseiten der lumbung member und lumbung-Künstler*innen.

lumbung.space wurde gemeinsam mit Roel Roscam Abbing, Künstler und Doktorand im Fach Interaktionsdesign an der Universität Malmö, und der Technologie-Kooperative Autonomic konzipiert und entwickelt. Ihre Arbeit für lumbung.space ist Teil der Initiative Co-op Cloud, die es anderen Kollektiven ermöglicht, ähnliche Infrastrukturen aufzubauen.

ruruHaus.de
Die ruruHaus-Websitewiederum  versammelt alle Aktivitäten und Veranstaltungen rund um das ruruHaus sowie künstlerische Beiträge der lumbung member und lumbung-Künstler*innen. Außerdem wird lumbung Radio dort gestreamt und Mitglieder des Kasseler Ekosistems können ihre Neuigkeiten veröffentlichen und sich miteinander vernetzen.

Den ergebnisoffenen Prozess hinter der ruruHaus-Website entwickelte das Studierendenkollektiv kmmn_practice, das seit 2020 im und mit dem ruruHaus arbeitet. kmmn_practice war eines der Gewinner*innenteams des von der documenta fifteen initiierten Studierendenwettbewerbs zur Entwicklung des Erscheinungsbilds. Mit der Website setzt das Kollektiv ihr Konzept einer partizipativen Plattform um. Aktuell betreiben Initiativen und Organisationen des Kasseler Ekosistems zusammen mit der Koordination des ruruHaus die Website. Nach der documenta fifteen sollen die Websites ruruHaus und lumbung.space dann voraussichtlich zusammengeführt werden.

 Austausch und hitzige Diskurse

„Die Documenta war immer auch ein Ort des Austauschs und auch der hitzigen Diskurse“, sagte Ministerin  Dorn auf der Eröffnungspressekonferenz, wobei sie auch Stellung zum Antisemitismus-Vorwurf bezieht.

„Die Debatten im Vorfeld der Ausstellung haben gezeigt, wie wichtig der Dialog ist, und ich hoffe sehr, dass er noch fruchtbar stattfinden kann. Denn Dialog bedeutet, zu differenzieren, nicht schwarz-weiß zu malen. Dialog setzt voraus, dass man einander zuhört – und auch, dass man versteht, wo Grenzen liegen. Antisemitische Ressentiments und Antisemitismus dürfen auf der documenta nicht zum Ausdruck kommen; das Existenzrecht und die Sicherheit Israels bleiben ein Teil deutscher Staatsräson. Auch rassistische Anfeindungen und gar Angriffe dürfen keinen Platz haben. Die Bilder bedrohlicher Schmierereien in der Ausstellungsfläche von ,The Question of Funding‘ haben mich sehr betroffen gemacht. Meine Solidarität gilt ausdrücklich auch den Kuratoren und Künstlerinnen und Künstlern, die im Zuge der Debatte rassistisch angegangen und angegriffen wurden.“

Aber sie verweist auch darauf, dass aber viele neue Orte zu entdecken sind: „Die documenta strömt aus in die Nachbarschaften Kassel, besonders in den weniger bürgerlichen Osten der Stadt, sie lässt historische und soziale Spuren sichtbar werden und setzt sie in neue Kontexte. Sie bespielt auch die Fulda als Lebensader der Stadt – mit dem Bootsverleih Ahoi oder dem Gewächshaus in der Karlsaue – und bettet das künstlerische Tun in das Ökosystem Natur. “

Man darf gespannt sein, was dieser neue kollektive Ansatz für die Ästhetik und die neue Sicht der Welt bringt.

Comments are closed.