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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden

Narrative Jubiläumsschau mit origineller Hängung

Von Hans-Bernd Heier

Vor hundert Jahren traf Alexej von Jawlensky (1864—1941) spontan die Entscheidung, sich in Wiesbaden niederzulassen. In der Landeshauptstadt wohnte der herausragende Expressionist zwanzig Jahre und erlebte künstlerische wie auch menschliche Höhen und Tiefen. Was in den Jahren bis zu seinem Tod geschah, ist Thema der großen Jubiläumsausstellung „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“. In der Gesamtschau präsentiert das Landesmuseum erstmals den kompletten eigenen Sammlungsbestand.

Alexej von Jawlensky “Selbstbildnis“, Öl auf Karton, 1912; Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe der Landeshauptstadt Wiesbaden; Foto: Bernd Fickert

Die insgesamt 111 Arbeiten umfassen alle Schaffensphasen des Malers von den frühen expressiven Köpfen bis zu seinem späteren seriellen Werk. Wie die Wiesbadener Sammlung im Laufe der Jahre zu der heute weltweit bedeutendsten Jawlensky-Kollektion ausgebaut wurde, können Besucher*innen aufgrund der originellen Hängung der Kunstwerke nach dem zeitlichen Erwerb höchst anschaulich nachvollziehen.

1920/21 tourte eine große Jawlensky-Wanderausstellung durch Deutschland mit Stationen in Berlin, München, Hamburg, Hannover, Frankfurt a. M. und Wiesbaden. In keiner anderen Stadt war die Schau erfolgreicher als in der hessischen Landeshauptstadt. Hier verkaufte der Maler 20 Bilder, darunter 5 Werke an den Sammler Heinrich Kirchhoff. Seine Kunstagentin Galka Scheyer schrieb über die begeisterte Resonanz, die die Werke mit den glühenden Farben in der Kurstadt auslöste: „Alle haben einen „Jawlensky-Fimmel“.

Anfang Juni 1921 besuchte der Künstler Wiesbaden, wo er auch den großzügigen Mäzen Kirchhoff traf. Von der Kurstadt mit dem soeben erst eröffneten attraktiven Museumsneubau, der alteingesessenen russisch-orthodoxen Gemeinde und vor allem von der Avantgarde aufgeschlossenen Sammlerinnen und Sammlern war er so beeindruckt, dass er sehr spontan die Entscheidung traf, sich mit seiner Familie in Wiesbaden niederzulassen. In seinen „Lebenserinnerungen“ von 1937 schrieb er: „In Wiesbaden hatte ich damals großen Erfolg. Ich begegnete dort sehr netten Menschen und das bestimmte mich, meinen Wohnsitz in Wiesbaden zu nehmen. Ein Jahr später kam auch meine Familie hierher“.

Alexej von Jawlensky inmitten seiner Freunde, von links: Paula Cholin, Max Reuter, Toni Kirchhoff, Alexej von Jawlensky, Tiny Reuter, Fritz Reuter, Mieze Kirchhoff; Parkanlage Warmer Damm, 1924; Foto: Privatarchiv Kirchhoff / Nachlass Mieze

Eine Rolle bei seiner spontanen Entscheidung dürfte auch die Tatsache gespielt haben, dass der russische Maler im Schweizer Ascona in einer äußerst heiklen „ménage à trois“ in einem Haushalt lebte: mit seiner großen Förderin und Lebenspartnerin Marianne von Werefkin (1860-1938), mit der er sich überworfen hatte, und mit deren Haushälterin Helene Nesnakomoff (1885–1965) sowie dem 1902 geborenen gemeinsamen Sohn Andrej (Andreas). Der expressionistische Künstler plante, von Ascona wegzuziehen. Da der Nassauische Kunstverein, der in den 1920er Jahren die Kunstabteilung des Museums Wiesbaden leitete, ihm Hilfe bei der Wohnsuchungssuche anbot, zog dieser noch 1921 nach Wiesbaden. Helene Nesnakomoff folgte ein Jahr später mit Sohn Andreas. 1922 heiratete Jawlensky Helene, nachdem endlich die dafür erforderlichen Papiere vorlagen. Bis zu seinem Tode im Jahre 1941 sollte er in Wiesbaden leben, wo er und seine Frau auf dem russischen Friedhof begraben sind.

In der Kurstadt war der Ausnahmekünstler hoch geschätzt und fand schnell Freunde und Unterstützer. Er war, wie Kurator Zieglgänsberger betont, „Platzhirsch hier am Ort“. Besonders bei Frauen war der charmante Künstler sehr beliebt: So unterstützte seine Freundin und Förderin Hanna Bekker vom Rath ihn finanziell, indem sie 1929 – das Jahr, in dem als die Ärzte bei dem Maler „Arthritis deformans“ diagnostizierten – die „Vereinigung der Freunde der Kunst Alexej von Jawlenskys“ gründete. Toni Kirchhoff, Ehefrau des Mäzens Heinrich Kirchhoff, stellte beispielsweise furchtlos noch 1936 Arbeiten von dem Künstler aus, als dieer von den Nazi längst geächtet war. Als weitere „Nothelferin“ sei die Kunstgewerblerin Lisa Kümmel erwähnt: Ihr diktierte Jawlensky seine „Lebenserinnerungen“. Die uneigennützige Frau kümmerte sich um seine geschäftlichen und persönlichen Angelegenheiten und legte das erste Werkverzeichnis an.

Direktor Dr. Henning (links) und Dr. Gerd Eckelmann, Vorsitzender des Vereins der Freunde des Museums Wiesbaden, bei der Enthüllung des Spätwerks „Große Stillleben mit Blumenvase, Ölgemälde von 1937; Foto: Hans-Bernd Heier

Auch nach des Künstlers Tod setzten sich Wiesbadener für die Bewahrung seines Jahrhundert-Werks ein. Ein spektakuläres Beispiel dafür war der Wechsel des Wiesbadener Museums aus städtischer Trägerschaft in die des Landes. Heftig und kontrovers wurde in 1972/73 Jahren diskutiert, ob man das Spitzenbild “Selbstbildnis“ wirklich für damals 380.000 Mark kaufen oder das Geld stattdessen in Straßenlaternen investieren sollte, wie im „ Wiesbadener Kurier“ zu lesen war. Mit vereinten Kräften wurde es erworben – nicht zum Nachteil des Museums. Laut Dr. Roman Zieglgänsberger, Kurator der narrativen Schau, sei das weltbekannte Gemälde heute für neun Millionen Euro versichert. Es sei das „Aushängeschild schlechthin“.

Spannend zu sehen sind auch die sonst selten gezeigten Rückseiten der Bilder, die viel über den Arbeitsprozess verraten. Eine Besonderheit der großartigen Ausstellung ist ohnehin „das erzählerische Konzept, das als Grundstruktur durch alle 16 Räume führt. Die 111 Jawlensky-Werke werden umrahmt von 30 Jawlensky-Geschichten. Biografische Ereignisse und Einblicke in die Freundschaften des Malers in Wiesbaden reihen sich an die Aufarbeitung museumsgeschichtlicher Erfolge und Skandale der Nachkriegszeit“, erläutert Zieglgänsberger.

Die Arbeiten werden diesmal nicht wie sonst üblich nach den Lebensorten des Künstlers oder nach Gattungen (Köpfe, Landschaft, Stillleben) präsentiert, sondern strikt nach ihrem Erwerbungsdatum von 1922 bis heute 2021. „Mit jedem Werk, das ins Haus gekommen ist, war es im Folgenden möglich, weitere Jawlensky-Bezüge zur Kunstgeschichte, aber auch zur Biografie zu erforschen und vermitteln. Damit sieht jede Besucherin und jeder Besucher physisch beim Durchgehen durch die Ausstellung die Jawlensky-Sammlung über die Jahrzehnte hinweg wachsen, wodurch wir über den eigenen Tellerrand hinausblicken und ganz im Allgemeinen die Institution Museum mit seinen vier Kardinalaufgaben thematisieren: Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln.“

Cover des opulenten Bestandskatalogs; © Museum Wiesbaden, Hirmer Verlag

Der Werkkomplex von Alexej von Jawlensky und anderer Expressionisten bildet einen der großen Sammlungsschwerpunkte im Museum Wiesbaden. Dies ist keineswegs selbstverständlich, da eine erste zu Lebzeiten des Künstlers aufgebaute Jawlensky-Sammlung zwischen 1933 und 1937 aufgrund der Kulturpolitik der Nationalsozialisten völlig aufgelöst wurde. Alle Gemälde, die sich noch 1932 als Leihgabe oder als Eigenbesitz im Museum Wiesbaden befanden – immerhin mehr als 20 Gemälde -, wurden an die Besitzer*innen zurückgegeben bzw. 1937 beschlagnahmt und abtransportiert. Die heutige Wiesbadener Jawlensky-Sammlung, die neben der des Norton Simon Museums in Pasadena (USA/Kalifornien) die umfangreichste ist, konnte allerdings in den letzten 25 Jahren hinsichtlich Qualität und Werkauswahl – nicht zuletzt dank spendabler Schenkungen und finanzieller Hilfen – zur bedeutendsten Kollektion weltweit ausgebaut werden. Die jüngste Sammlungserweiterung stellt das „Große Stillleben mit Blumenvase“ dar, das mit großzügiger Unterstützung des Vereins der Freunde des Museums Wiesbaden erworben werden konnte.

Alexej von Jawlensky „Liegender Akt“, Kohle auf Papier, um 1912; Museum Wiesbaden, Foto: Bernd Fickert

Alle Entwicklungsstufen des Künstlers – seine frühe Münchener Phase, der Murnauer und Schwabinger Aufbruch, die Schweizer Exilzeit sowie die wichtige Wiesbadener Periode – sind mit Hauptwerken in der großartigen Präsentation vertreten. Dem exzellenten Jawlensky-Bestand werden 80 ausgewählte Werken der Klassischen Moderne aus der Museumssammlung gegenübergestellt – darunter Arbeiten von Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz und Maria Marc, Gabriele Münter oder Marianne von Werefkin bis hin zu Georg Meistermann oder Rupprecht Geiger. Die Ausstellung endet mit einem Raum zum Alexej von Jawlensky-Preis, der erstmals 1991 an Agnes Martin vergeben wurde und den Frank Stella für 2022 mit großer Freude angenommen hat.

 

Alexej von Jawlensky “Blaue Berge“, Öl auf Karton,1912; Museum Wiesbaden, Foto: Bernd Fickert

Anlässlich des Jubiläums ließen zahlreiche Schenkungen den Werkbestand Jawlenskys sowie die Sammlung für Klassische Moderne wachsen, darunter Werke seines Sohns Andreas und von Künstlern aus dem Umfeld, beispielsweise Gemälde von Oskar Moll, Louis Seel oder Pierre-Paul Girieud. Ebenso wurden 40 Briefe Jawlenskys an seine Freundin und Förderin Hanna Bekker vom Rath sowie die Originalunterlagen der Gründung der „Vereinigung zur Förderung der Kunst von Alexej von Jawlensky“ im Jahre 1929 dem Museum geschenkt.

„Dieses Jubiläum ist der schönste Anlass, erstmals in der 100-jährigen Jawlensky-Geschichte des Museums ein „Forschungsarchiv Alexej von Jawlensky“ im Museum Wiesbaden aufzubauen“, so Direktor Dr. Andreas Henning. „ Wir sind der Enkelin Angelica Jawlensky Bianconi sehr dankbar für diese großzügige und überaus vertrauensvolle Schenkung, die das Museum Wiesbaden zum Zentrum der Jawlensky-Forschung macht. Wie nicht zuletzt diese Ausstellung deutlich aufzeigt, sind Geschichte und Museumsarbeit unseres Hauses auf das Engste mit diesem Künstler verbunden. Daher ist das Museum Wiesbaden der richtige Ort für das neue Forschungsarchiv“. In dieses wird auch Jawlenskys Einbürgerungsurkunde von 1934 eingehen, die das Museum jetzt geschenkt bekam. Der Maler hatte bereits 1930 den Antrag auf Einbürgerung gestellt, den Bescheid über die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt er erst vier Jahre später; ein Jahr zuvor war er mit Ausstellungsverbot belegt worden.

Kurator Roman Zieglgänsberger erläutert auf dem Jawlensky Pfad die Station am Warmen Damm; Foto: Hans-Bernd Heier

An die überragende Bedeutung des Jahrhundert-Künstlers soll in der Öffentlichkeit der neue Jawlensky Pfad (www.jawlenskypfad.de) erinnern. An 27 Orten im Stadtgebiet – angefangen von Cafés, Einzelhandelsgeschäften, Kultureinrichtungen bis Parkanlagen – begrüßen Pappaufsteller des Künstlers in Lebensgröße oder Stationstexte die Passanten mit kurzweiligen Geschichten und informieren über sein Leben eines der „identitätsstiftenden Söhne“ der Stadt.

„Alles“ zeigt Werke im Bestand des Museums, die Jawlenskys gesamtes Schaffen von den expressiven Köpfen bis zum seriellen Werk umreißen; die originelle Schau, die steht unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier steht, ist bis zum 27. März 2022 zu sehen; weitere Informationen unter: www.museum-wiesbaden.de

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