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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Hannah Ryggens „Gewebte Manifeste“ in der Schirn

Faszinierende, politisch kompromisslose Tapisserien – eine echte Entdeckung

Von Hans-Bernd Heier

Anlässlich des norwegischen Ehrengastauftritts beabsichtigte die Schirn Kunsthalle Frankfurt ursprünglich, aktuelle norwegische Kunst zu zeigen. Doch als Schirn-Direktor Dr. Philipp Demandt und Kuratorin Esther Schlicht die monumentalen Bildteppiche von Hannah Ryggen sahen, fiel ihnen die Entscheidung nicht schwer, dieser – außerhalb Skandinaviens – kaum bekannten Textilkünstlerin eine große monografische Schau zu widmen. Bis zum 12. Januar 2020 bietet die Frankfurter Kunsthalle erstmals in Deutschland einem breiten Publikum einen umfassenden Einblick in ihr Œuvre.

Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle, 2019; Foto: Norbert Miguletz

„Hannah Ryggens monumentale Bildteppiche können wir als gewebte Manifeste ihrer künstlerischen und politischen Überzeugungen lesen, für die sie ihr Leben lang eintrat. Mit ihrem Werk zeigte die Künstlerin Haltung und positionierte sich in ihrem Selbstverständnis als Weltbürgerin immer wieder zu hochbrisanten politischen Ereignissen. Es ist ihre humanistische Einstellung und es sind ihre Themen, warum uns Hannah Ryggens Kunst heute wieder besonders aktuell und relevant erscheint“, betont Dr. Philipp Demandt.

In den rund 25 gezeigten Tapisserien greift Ryggen grundlegende Themen des Menschseins und des Lebens in der Gesellschaft auf: die Abhängigkeit von der Natur und die Verbindungen zu Familie und Mitmenschen, die Stellung der Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft, die Rolle der Kunst, aber auch die fürchterlichen Gräueltaten des Krieges und Machtmissbrauch. Viele ihrer Werke befassen sich mit den Ereignissen und politischen Auseinandersetzungen im Europa der 1930er- und 1940er-Jahre und spiegeln zugleich die sozialistische Überzeugung der Künstlerin.

„Die großformatigen Arbeiten stellen die Künstlerin als Vertreterin einer anderen Art von Moderne vor – einer Moderne, in der sich Elemente aus Volkskunst und Mythologie mit politischen Anliegen und Themen des alltäglichen Lebens mischen. Dabei erkundete Ryggen ein ganz neues Spektrum von Motiven und verwendete ein traditionelles Medium für ein neuartiges Ziel: der Öffentlichkeit mit Wandteppichen ihre starken politischen Botschaften mitzuteilen“, erläutert Kuratorin Esther Schlicht. In der heutigen Zeit, die von zunehmender Ungleichheit, Nationalismus und Populismus geprägt ist, erscheint ihr kompromissloses Werk von erschütternder Aktualität.

Hannah Ryggen am Webstuhl, um 1964, Trondheim; Foto: Schirn

Hannah Ryggen, die zweifellos zu den bedeutendsten Künstlerinnen Skandinaviens zählt, wurde 1894 im schwedischen Malmö geboren. Sie lebte ab 1924 mit ihrem Mann nahezu autark auf einem kleinen Bauernhof in Ørlandet bei Trondheim an der Westküste Norwegens. Die gelernte Malerin bezeichnete sich selbst als schwedisch, ihre Kunst hingegen als norwegisch. Im Jahre 1923 gab sie die Malerei auf und wandte sich als Autodidaktin der Weberei zu. Alle Materialien für ihre Webarbeit gewann sie auf ihrem Hof und aus der sie umgebenden Natur, sie spann die Wolle selbst und färbte sie mit natürlichen, aus Pflanzen gewonnenen Farben. Ihre Bildteppiche webte sie generell in der traditionellen norwegischen Zick-Zack-Technik.

In ihren narrativen großformatigen Bildteppichen setzte sie sich mutig für die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus ein. Sie schuf ein eindrucksvolles, politisch inspiriertes Werk und lancierte bildliche Angriffe auf Hitler, Franco und Mussolini. „Ryggen verstand ihre Werke stets als freie Kunst. Indem sie aktuelle politische Ereignisse in ihren Motivkreis miteinbezog, gab sie dem Bildteppich als Medium eine gänzlich neue Rolle. Doch nicht allein dies macht ihr Werk so besonders. Die Künstlerin entwickelte ihre ganz eigene Bildsprache, die Fiktion, Wirklichkeit und Mythen kombiniert, und sie verband unterschiedliche Bildtraditionen mit ungewöhnlicher Leichtigkeit“,  so die Kuratorinnen Dr. Marit Paasche und Esther Schlicht.

Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle, 2019; Foto: Norbert Miguletz

Zu Ryggens Lebzeiten waren ihre Bildteppiche in wichtigen Kunstausstellungen in Europa und den USA zu sehen. Nach 1970 wurde ihr Werk aber mehr und mehr dem Kunsthandwerk zugeordnet und fand daher, nach Aussage der Kuratorinnen „nie wirklich Eingang in den kunsthistorischen Kanon. Erst jüngst erfährt das einzigartige Œuvre von Hannah Ryggen neue Beachtung im Kontext der zeitgenössischen Kunst“. So waren einige ihrer Arbeiten 2012 auf der Documenta (13) zu sehen.

Zu der Wiederentdeckung dieser bedeutenden Künstlerin dürfte die Präsentation in der Schirn maßgeblich beitragen. Die höchst beeindruckende Schau beleuchtet Ryggens künstlerische Entwicklung sowie die Impulse aus Kunst und Literatur, die sich in ihrem Werk spiegeln. Im Zentrum stehen Ryggens antifaschistische und pazifistische Werke. Sowohl die Anzahl als auch die großen Formate dieser Arbeiten zeugen von der immensen Schaffenskraft, mit der die belesene und gut informierte Künstlerin nationale und internationale politische Ereignisse darstellte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sie sich engagiert weltpolitischen Themen zu, wie dem umstrittenen NATO-Beitritt Norwegens und dem atomaren Aufrüstungs-Wahnsinn. der Weltmächte. Noch mit 72 Jahren webte sie aus Protest gegen den erbarmungslosen Vietnamkrieg „Blod i gresset“ (Blut im Gras, 1966) und benutzte für das blutrote Gittermuster zum ersten Mal künstliche Farbe.

Den Abschluss der großartigen Schau bildet Hannah Ryggens ikonisches Werk „Vi lever på en stjerne“ (Wir leben auf einem Stern, 1958), eine Auftragsarbeit für das Regierungshochhaus in Oslo. Ein halbes Jahr benötigte Ryggen, um die Wolle für das großformatige Werk zu färben, weitere 13 Monate webte sie daran. Thema des monumentalen Bildteppichs ist eine philosophische Betrachtung des menschlichen Daseins. Bis zum 22. Juli 2011 hing die Tapisserie im Eingangsbereich des Regierungshochhauses, dann wurde der Teppich bei dem Bombenanschlag des rechtsextremistischen Terroristen Anders Behring Breivik auf das Regierungsgebäude beschädigt. Wie eine Narbe erinnert noch heute der restaurierte Riss am unteren rechten Bildrand an diesen abscheulichen Angriff auf die Demokratie.

Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle, 2019, Foto: Norbert Miguletz

Die Schirn versammelt in der gut gehängten Präsentation u. a. Werke aus dem Nordenfjeldske Kunstindustrimuseum sowie dem Nationalen Museum für Kunsthandwerk und Design in Trondheim, das die wichtigste Sammlung von Ryggens Werken besitzt.  Die faszinierende Schau wird gefördert von NORLA – Norwegian Literature Abroad und der Sparebankstiftelsen DNB.

Begleitend zum Ausstellungsbesuch bietet die Schirn ein kostenfreies AUDIO FEATURE. In fünf Kapiteln laden ausführliche Hörbeiträge mit Hintergrundinformationen, Interviews und Zeitzeugnissen dazu ein, mehr über einzelne Werke Hannah Ryggens zu erfahren.„Hannah Ryggen. Gewebte Manifeste“ bis zum 12. Januar 2020 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt; weitere Informationen unter: www.schirn.de/magazin

 

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