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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Exquisite Jugendstilsammlung des Mäzens F. W. Neess in Wiesbaden

Ein Riesen-Glücksfall für die Stadt

Von Hans-Bernd Heier

Im Zuge einer äußerst großzügigen Schenkung erhielt das Landesmuseum Wiesbaden im März 2017 eine der bedeutendsten europäischen Privatsammlungen des Jugendstils und Symbolismus. Es ist die größte Schenkung, die das Haus je erhalten hat…

Ausstellungsansicht; Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Der Wert der ausgestellten Werke wird auf weit über 40 Millionen Euro taxiert. Die einzigartige Kollektion ist jetzt im umgebauten Südflügel des Museums in hervorragender Inszenierung zu bewundern. Die Dauerausstellung „Jugendstil. Schenkung F.W. Neess“ versammelt über 500 auf höchstem Niveau zusammengetragene Objekte, darunter Möbel, Glas, Gemälde, Lampen, Silber und Keramik, die sich als „Gesamtkunstwerk“ auf rund 800 qm Ausstellungsfläche vereint finden.

Für Wiesbaden ist die Schenkung dieses spektakulären Konvoluts ein Riesen-Glücksfall. Museumsdirektor Dr. Alexander Klar ganz begeistert: „Was wir hier einweihen, ist schon eines der sieben Weltwunder von Hessen“.

Auch Hessens Kunstministerin Angela Dorn spricht von einem Meilenstein in der Geschichte des Landesmuseums. „Es kann nun Kunst- und Kulturgeschichte von 1850 bis in die Gegenwart durchgängig in Spitzenwerken präsentieren. Besonders freut mich, dass der Jugendstil ab jetzt mit Wiesbaden einen neuen prominenten Ort auf der hessischen Landkarte bekommen hat, neben dem Landesmuseum und der Mathildenhöhe in Darmstadt und den Kuranlagen in Bad Nauheim“.

Bislang wird die Landeshauptstadt eher mit dem „Historismus“ in Verbindung gebracht und weniger mit der Kunstrichtung des Jugendstils – das dürfte sich jetzt ändern. Denn Wiesbaden feiert anlässlich dieser exquisiten Schenkung das „Jugendstiljahr 2019 /20“ mit einem reichhaltigen Veranstaltungsprogramm, das Einblicke in die vom Aufbruch geprägte Zeit des Fin de Siècle mit der enormen künstlerischen Vielfalt bietet (s. dazu www.jugendstiljahr.de).

Heinrich Vogeler „Heimkehr“ 1898, Öl auf Leinwand, 120 x 96 cm; Sammlung F. W. Neess; Foto: Markus Bollen

Der ehemalige Kunsthändler Ferdinand Wolfgang Neess, der vor 90 Jahren in Berlin geboren wurde, war ein Pionier bei der Wiederentdeckung des Jugendstils. „Er begann zu einem Zeitpunkt zu sammeln, als diese Kunstrichtung nicht hoch im Kurs stand. Wie kaum ein zweiter Sammler hat er sich in den Stil der Jugend eingefühlt, hat deren Credo der Einheit aus Kunst und Leben zu seinem eigenen gemacht.

Das Museum Wiesbaden greift jenen Gedanken des ‚Gesamtkunstwerks‘ auf und haucht ihm neues Leben ein. Im Zentrum der Präsentation steht die atmosphärische Wirkung dieses Stils: sehen und fühlen vermischen sich mit Hauptwerken des Fin de Siècle zu einem einzigartigen Kunsterlebnis und geben Einblicke in die Welt um 1900“, erläutert Peter Forster, Kustos Alte Meister und Jugendstil Sammlung.

Alphonse Mucha „La Nature (Die Natur)“ um 1900, Bronze vergoldet, versilbert, ziseliert, Lapislazuli, 70 x 26,5 x 22 cm; Dauerleihgabe, Sammlung F. W. Neess; Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Über 40 Jahre hat Neess die Idee der Untrennbarkeit von Kunst und Leben im Alltag – ganz im Geiste der Stilrichtung – miteinander verbunden. Beim Erwerb der Preziosen achtete er genauestens auf die kontextuelle Geschlossenheit der Sammlung. In seiner prächtigen Jugendstilvilla in Wiesbaden, dem sog. „Weissen Haus“, das der Sammler in den 1980er Jahren erwarb, lebte das Ehepaar umgeben von dieser Kunst, die laut Aussage von Danielle Neess jetzt „nur woanders dargestellt“ ist.

Bei der Pressekonferenz sind Museumsdirektor Dr. Alexander Klar, Hessens Kunstministerin Angela Dorn und Kurator Peter Forster (von links) voll des Lobes von dem Jugendstil-Juwel; Foto: Hans-Bernd Heier

Dass Ferdinand Wolfgang Neess und seine Ehefrau sich zu Lebzeiten von ihren Schätzen trennen, ist ziemlich außergewöhnlich. Denn „in der Regel bereiten im privaten Bereich die drei tragischen ‚Ds‘ einer Sammlung ihr natürliches Ende und erfreuen den Kunsthandel. Death, debt, divorce (Tod, Schulden Scheidung) führen dazu, dass mit einer Auktion Sammlungen innerhalb eines Tages in alle Winde verstreut werden“, wie Peter Forster im Vorwort des opulenten Katalogs „Radikal schön – Jugendstil und Symbolismus“ (608 Seiten) schreibt.

„Wenn jedoch eine Sammlung, die über Jahrzehnte mit viel Leidenschaft, Kennerschaft und hohem Geldeinsatz zusammengetragen wurde, diesen drei Ds trotzt, wandelt die Sammlung ihren Charakter“, falls diese in geschlossener Formation erhalten bleibt und öffentlich gezeigt wird. Erst dann beginne sie, ihre eigentliche Aura zu entfalten und könne zu einem wahren Tourismusmagnet werden. Von Qualität und Quantität hat die Jugendstilsammlung Neess zweifellos das Zeug dazu, denn das Landesmuseum Wiesbaden befindet sich mit einem Schlag auf einer Höhe mit den führenden Museen des Jugendstils in Europa.

Ausstellungsansicht; Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Die außergewöhnliche Präsentation im Museum zeigt einen qualitativ hohen Querschnitt durch alle Gattungen des Jugendstils. Diese damals revolutionäre Kunstrichtung war ein internationales Phänomen an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert und formte sich als Antwort auf die Industrialisierung und den Historismus in Europa.

Ausgehend von der britischen „Arts and Crafts“-Bewegung, in Frankreich und Belgien als Art Nouveau bekannt, in Wien als Secessionsstil und in Spanien als Modernismo, ist die Kunstrichtung als gesamteuropäische Bewegung zu verstehen. Künstlerinnen und Künstler suchten in ganz Europa und darüber hinaus nach einem Stil der Zeit mit eigenem Charakter und definierten die Erscheinungsformen alltäglicher Gegenstände neu.

Mit ihrer Kunst reagierten nicht nur Vertreter der bildenden Künste, sondern aller Disziplinen, auch in Tanz, Musik und Kunsthandwerk auf die gesellschaftlichen Umbrüche um 1900: Hoffnungen und Ängste wurden in utopischen und mythischen Motiven festgehalten.

Ausstellungsansicht; Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Viele der aufstrebenden Künstler und Kunsthandwerker, darunter Alphonse Mucha oder Émile Gallé, fanden Inspiration in der Natur und verbanden ihre Kunst mit geschwungenen Linien oder floralen Ornamenten „Geboren aus der Dynamik der Natur und der Kraft der Jugend, wurden dem Formenvokabular der Natur schwungvolle, elegante Linien entlehnt, die als „Coup de Fouet“ (Peitschenschlag) stilprägend wurden.

Neben der äußerlichen Erscheinung von Fauna und Flora studierten die Künstler intensiv naturwissenschaftliche Traktate ihrer Zeit, um die in der Natur wirkenden Gesetze von Wachstum und Verwandlung selbst zum Thema ihrer Werke zu machen“, erläutert der Kurator.

Die Kunst der Jahrhundertwende griff aber auch die Schattenseiten des Daseins in Form des Symbolismus mit einer abgründigen Ästhetik des Verfalls, des Mythischen und Rätselhaften auf. All diese Facetten kommen dank der hervorragenden Museumsarchitektur stimmungsvoll zur Geltung.

Oskar Zwintscher „Bildnis mit gelben Narzissen“, 1907, Öl auf Leinwand, 64,5 x 42 cm; Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess; Foto: Markus Bollen

Der Rundgang beginnt mit historischen Filmaufnahmen der Tänzerin Loïe Fuller (1862-1928), einer Amerikanerin, die sich das kurz zuvor erfundene elektrische Licht auf der Bühne zu eigen macht und mit ihrem Tanz auf der Pariser Weltausstellung 1900 die Kunstwelt inspirierte. Überhaupt waren die Weltausstellung und die Elektrizität von großer Bedeutung für den internationalen Durchbruch der neuen Stilrichtung.

Zahlreiche Objekte aus der Sammlung Neess waren beispielsweise in der Kunstausstellung in Paris ausgestellt, wie die originalen Film­ und Bildaufnahmen zeigen. Das elektrische Licht regte die Jugendstilkünstler beispielsweise zur Herstellung fantasievoller Tischlampen, Deckenleuchtern und floraler Glasfenster an. Mit dem Formenreichtum einer künstlich beleuchteten Welt aus Blumenblättern und Früchten auf transparentem Glas holten sie gewissermaßen die Natur ins Haus.

Émile Gallé „Lampe Les Coprins (Die Pilze)“, um 1902, Überfangglas mit Silbereinschlüssen, heiß geformt, geschnitten, Schmiedeeisenmontierung; 82 x 53 x 44 cm; Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess; Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Highlights der vielseitigen Schau sind die kompletten Möbelensembles von Hector Guimard, Louis Majorelle sowie Bernhard Pankok. Auch die 63 Pastelle, Aquarelle und Gemälde, darunter alleine 12 von Franz von Stuck, seien besonders erwähnt.

Franz von Stuck „Die Sünde“, um 1908; Öl auf Leinwand, 89,5 x 53 cm; Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess; Foto: Markus Bollen

Insgesamt bietet die einzigartige Präsentation, die dank der Schenkung von F.W. Neess jetzt und für immer im Landesmuseum zu bewundern ist, einen qualitativ wie auch quantitativ repräsentativen Einblick in die Kunstproduktion des Fin de Siècle zwischen Jugendstil und Symbolismus.

Die Sanierung des Südflügels des Museums und die äußerst aufwändige Präsentation, die auch der Stifter finanziell erheblich unterstützte, konnten nur mit Hilfe einer Vielzahl von Sponsoren realisiert werden: das Land Hessen, die Hessische Kulturstiftung, die Stadt Wiesbaden, die Alfred Weigle Stiftung Wiesbaden, das Hessische Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Freunde des Museums Wiesbaden e.V., die Aareal Bank, die Commerz Real Gruppe und die R+V Versicherung.

Dauerausstellung „Jugendstil. Schenkung F.W. Neess“ im Museum Wiesbaden; weitere Informationen unter: www.musuem-wiesbaden.de

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