Christiana Protto: „Geronimo“ in der Weissfrauen Diakoniekirche
Der Tisch ist bereitet …
… es ist angerichtet
Frankfurt am Main.
Weissfrauen Diakoniekirche.
Christiana Protto.
Geronimo
Wer ist Geronimo?
Der legendäre Schamane und Indianerhäuptling Gokhlayeh oder Goyathlay, unter dem Einfluss des Spanischen genannt Geronimo, er lebte von 1829 bis 1909. Immer wieder aus seinem Reservat ausbrechend, gejagt von amerikanischen und mexikanischen Truppen und ihnen verbündeten Apachen- und Navajo-Scouts, ergab er sich 1886 den Verfolgern. In Gefangenschaft, Verbannung und schliesslich Internierung in einem Indianerterritorium wurde er sechs Jahre vor seinem Tod Christ und Methodist. Bestattet in Fort Sill, ranken sich um seine Gebeine Gerüchte und Spekulationen: Die Skull and Bones Society soll sein Grab ausgeraubt und seine Knochen in ihr Kultmuseum verbracht haben, was bis heute ungeklärt blieb.
Der Heilige, Theologe und Gelehrte (Sophronius Eusebius) Hieronymus, er lebte von 347 bis 420, mit Ambrosius, Augustinus und Gregor I. einer der vier abendländischen Kirchenväter, Verfasser der Vulgata, der berühmten Übersetzung des Alten Testaments in ein einfaches Latein, Bearbeiter des bereits vielfach in verschiedenen lateinischen Versionen vorliegenden Neuen Testaments. Weltbekannt sind die Darstellungen des Heiligen Hieronymus im Gehäus(e), unter anderem von Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä.
Wo ist Geronimo?
Hier und heute, an diesem Ort, in der Frankfurter Weissfrauen Diakoniekirche? Ist er hier, weilt er, unsichtbar und imaginär, unter uns, ist ihm vielleicht der Stuhl vorbehalten, in dem rechteckigen Ausschnitt der grossen, mit über 2000 Büchern und hunderterlei Gegenständen des Lebensalltags belegten Tafel?
Dürften wir uns etwa auf diesen besagten, im Zentrum des Installationsgeschehens befindlichen Stuhl setzen, auf ihm „Platz nehmen“? Oder ist dies der Platz allein der – wie Geronimo körperlich nicht anwesenden – Künstlerin?
Der Tisch, der Stuhl und der Altar. Sie stehen sich gegenüber, exakt zentriert in der Mittelachse des Kirchenschiffs, zwischen dem Orgelprospekt und dem grossen, schlichten Kreuz über dem Altar, das auf ein Abbild des Kruzifixus verzichtet.
Die vielen und das eine: die über 2000 auf und unter der Tafel ausgebreiteten Bücher und die Bibel, das älteste Buch hier, das „Buch der Bücher“, aufgeschlagen die Psalmen, die uralten Gesänge voll Lob und Preis, voll Klagen und Bitten.
2000 Bücher: Prosa, Lyrik, Gezeichnetes, Fotografiertes, Wissenschaftliches, Religiöses. 2000 Bücher zwischen Ratgeber und Selbsthilfe, Komik und Bitterkeit, Reflexion und Überheblichkeit, der Geschichte und dem Hier und Heute. Für die Ewigkeit zwar ein Hauch nur, für die irdischen Abläufe jenseits des flüchtigen Wortes jedoch ein gedruckter Bestand. „Denn was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ wusste schon Goethes Mephistopheles im „Faust“ zu sagen.
Ist das so? Gilt des Verführers Wort? Wie erinnern uns: vor dem zentralen Stuhl eine altmodische Schreibmaschine, das Blatt in ihr nicht zu Ende geschrieben, ein Liedtext von Adriano Celentano:
„… là dove c’era l’erba ora c’e una città
e quella casa in mezzo al verde ormai dove sarà …“
Dort, wo das Gras wuchs, ist jetzt eine Stadt.
Und dieses Haus mitten im Grünen, wo wird es sein?
„… qui sono nato e in questa strada ora lascio il mio cuore
ma come fai a non capire che e‘ una fortuna per voi
che restate a piedi nudi a giocare nei prati …“
Hier bin ich geboren.
In dieser Strasse lasse ich jetzt mein Herz.
Wieso verstehst du nicht?
Seid froh, hier bleiben zu dürfen, um barfuss auf den Wiesen zu spielen.
Zwischen all den Büchern treffen wir zahllose Gegenstände des häuslichen Gebrauchs an, auch einiges an Garderobe, manches Skurrile, wer nur mag all dieses gehortet haben? Aber was heisst das eigentlich: horten? Nicht nur sammeln und speichern, sondern auch verwahren, auf-bewahren. Alles hat hier auf und unter der grossen Tafel seinen Sinn, seinen wohlüberlegten Platz. Für wen aber wurde all dies gehortet, in Zeiten von Kriegen und globalen Wanderungsbewegungen, des Verlustes von Werten, wo nichts mehr gesichert scheint, wo alles im Umbruch, alles im Flusse ist? Befinden wir uns gleichsam auf einem grossen Totenschiff, umgeben von tausenden wohlgemeinter, ja fürsorglich und liebevoll zusammengestellter Grabbeigaben für die ganz grosse Reise? Oder hält uns die Künstlerin einen Zerrspiegel vor, in den uns erkennend zu blicken wir doch stets zu vermeiden suchen?
Was braucht ein Mensch? Auch dies fragen wir uns im Angesicht von „Geronimo“ der Künstlerin Christiana Protto. Der Tisch ist bereitet, es ist angerichtet. Gibt er eine Antwort auf unsere Frage? Unter der Kirche, unter dieser Installation, im Tagestreff Weser5 der Diakonie Frankfurt, die ein „offenes, niedrigschwelliges Angebot für wohnungslose Frauen und Männer“ unterbreitet, kann, wer will und wer sich noch einen Rest an Empfindsamkeit in der Ellenbogengesellschaft der Money Maker bewahrt hat, vielleicht die Antwort finden.
Weissfrauen Diakoniekirche, Geronimo: Wir sind auf Reisen. Wieder befinden wir uns im Wanderatelier der Künstlerin Christiana Protto. Sie hat es bereits über Frankfurt hinaus in Aschaffenburg und Bracciano, in Essen und im fernen chinesischen Hangzhou, in London und Mainz, in Kronberg, Rom und Wiesbaden aufgeschlagen, in Behörden und Villen, in Gewächshäusern, auf Friedhöfen und in Baumkronen. Der Mensch ist ein Wandernder in den ewig wechselnden Gezeiten des Universums. So auch die Künstlerin. Und doch manifestiert sich deren Ist und Sein hier auf dem winzig kleinen, im Kosmos kaum wahrnehmbaren Planeten namens Erde. Und wie singt Adriano Celentano: „Hier bin ich geboren. In dieser Strasse lasse ich jetzt mein Herz“? Kommt eine Zeit, da man des Wanderns müde ist?
Christiana Protto hat mit ihrem Wanderatelier eine eigene, subjektive und unverwechselbare künstlerische Sprache gefunden. Es ist eine Sprache, wie sie vergleichbar aus Zeichnungen und Gemälden, aus Skulpturen herkömmlicher Art und anderweitigen Installationen zu uns, den Betrachtern, spricht. Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Installationen fordern uns zum „Lesen“ heraus, zu einem bereiten wie intensiven Lesen der künstlerischen Sprache. So umschreiten wir „Geronimo“, richten uns auf, um deren Oberstes zu erblicken, bücken uns nieder, um unter die uns vertraute Ebene zu schauen, entdecken Zusammenhängendes und Widersprüchliches, Gereimtes und Ungereimtes. Wenn wir nur aufmerksam genug sind, erhalten wir, ein jeder in seiner Betrachtungsweise, gleichsam den Schlüssel, nicht nur zum konkreten Werk, sondern auch zum Verständnis unserer eigenen Existenz.
Wir haben, verehrte Leserinnen und Leser, diesen Beitrag in ungewöhnlicher Weise illustriert. Vielleicht hat Ihnen das Abrollen einer solch grossen Zahl an Fotografien einige Mühe bereitet. Bitte schauen Sie sich diese Details dennoch einmal in einer ruhigen Stunde erneut an. Und besonders empfehlen wir Ihnen den Besuch der Ausstellung. Es wird Sie, so sind wir überzeugt, keinesfalls reuen.
„Geronimo“, Weissfrauen Diakoniekirche Frankfurt am Main, bis 12. Oktober 2012
Installation „Geronimo“ © VG Bild-Kunst, Bonn; Textauszüge und Übersetzung aus dem Italienischen: magistrix.de; Fotos: FeuilletonFrankfurt