Bernhard Jäger – Späte Hommage zum 75. Geburtstag
Bernhard Jägers Figuren – fantastisch, grotesk, seziert, analysiert, systematisiert
Späte Hommage zum 75. Geburtstag
Text und Fotografien: © Renate Feyerbacher
(1 Foto Ute Wittich)
Bernhard Jäger am 8. September 2010 in seinem Frankfurter Atelier
Aus Bernhard Jägers Dankesrede zur Verleihung des Preises der Heitland-Foundation Celle, am 16. Mai 1998:
„Ich danke meinem Vater, dass er mich gezeugt hat, aber nur dafür.
Ich danke meiner Mutter, die hochschwanger 1935 mit dem Flugzeug von Berlin nach München flog, um mich dort zur Welt zu bringen.
Ich danke Karl Valentin, dass er sich bereit erklärte, mein Patenonkel zu sein.
Ich danke den furchtbaren Erziehern, in den Kinderheimen und Internaten, die mich früh lehrten, die Rolle des Aussenseiters zu akzeptieren und mich dann die innere Welt entdecken liessen.
Ich danke den Lehrern der Schulen, die diesen Weg der Erziehung unbarmherzig weiterverfolgten.
Ich danke den Professoren der Frankfurter Universität, die mich dazu brachten, ein Biologiestudium rechtzeitig abzubrechen.
Ich danke den Dozenten der Offenbacher Werkkunstschule, die mich flüchten liessen vor Werbung, Design und rechtem Winkel …“
Aus der Mappe „Selbstbildnisse“, 1979, 40 x 50 cm
Humorvoll dankt Bernhard Jäger. Er sagt wenig, aber die Rede enthält alles, was privat von ihm zu wissen wichtig ist und was hilft, seine Kunst zu verstehen. Ein feiner Sarkasmus ist ihm auch heute noch zu eigen. Sein spitzbübisches Lächeln kann aber schnell in analytisch-kritischen Ernst umschlagen.
Zurück zu den Anfängen, die im Jahr 1959 liegen. Farblithografien sind zunächst seine künstlerische Sprache, die er ein Leben lang weiter pflegt.
Die jungen Frankfurter Künstler Bernhard Jäger, 1935 geboren, und Thomas Bayrle, Jahrgang 1937, gründen 1961 die Gulliver-Presse, die sie bis 1966 gemeinsam betreiben. Mit dem Namen beziehen sie sich auf Jonathan Swifts (1667 bis 1745) utopisch-satirisches Buch „Gullivers Reisen“, das 1726 erschien und bereits ein Jahr später auf Deutsch vorlag. Darin nimmt Swift die menschlichen Schwächen aufs Korn.
In den Sechzigern baut sich in den Köpfen der Jungen der gesellschaftliche Druck auf, der dann später zur Explosion kommt. Die beiden Künstler Bayrle und Jäger gehören zu den „Respektlosen“, die sich durch Satire, Aggression und Aufklärung Luft verschaffen, indem sie den Druck künstlerisch ablassen.
Sie schaffen1963, angeregt von Bazon Brock, der damals in Frankfurt studierte und später Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an führenden deutschsprachigen Universitäten wurde und dessen Kunst-Thesen damals in vielen jungen Köpfen spukten, die Bloom-Zeitung, eine fotomechanische Wiedergabe der Bild-Zeitung. Bloom ersetzt den Namen von Bild, von Personenangaben, von Ortsangaben, von Markenbezeichnungen. Jägers/Bayrles „Bloom“ wird Kult. Den Name entleihen sie von Leopold Bloom, dem Anzeigenwerber im „Ulysses“, dem berühmten Roman von James Joyce. „Schein-Bloom erwacht im Leichenhaus – Bloom will Kanzler bleiben … Bloom fürchtet abstrakte Kunst!“ Hans Magnus Enzensberger schreibt: „Die Zeitung ist das totale Kunstwerk, das alle Träume der Avantgarde-Bewegungen, von der Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Leben bis zur kollektiven Produktion, liquidiert, indem es sie erfüllt.“ Und der Frankfurter Schriftsteller, Galerist und Dozent Adam Seide (1929 bis 2004) charakterisiert die beiden Künstler 1964: „Der eine Kopf ist poetisch, fabulierend, erfindend (Thomas Bayrle). Der andere Kopf ist kritisch, analysierend, prüfend, erprobend, eine Synthese anstrebend (Bernhard Jäger).“
1968 produziert Jäger ein Dutschke-Plakat, das im Demonstrationszug gegen die Notstandgesetze 1968 in Bonn mitgeführt wird. Unter Dutschkes Foto steht: „Die Revolution stirbt nicht an Bleivergiftung“. Dutschke wurde am 11. April 1968 ermordet.
Arbeiten in Acryl, jeweils 160 x 40 cm, von links: Stadt-plan, 2008; Frankfurter Chaos, 2006; Frankfurt, 2006; Über der Stadt, 2006; Figuren über der Stadt, 2008
Bereits 1968 hat Bernhard Jäger eine Ausstellung bei der Frankfurter Marielies-Hess-Stiftung und im Offenbacher Klingspor-Museum. Drei Jahre stellt er im Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath aus. Die renommiertesten Galerien zeigen von da ab seine Werke.
In den 1970er Jahren kam mit dem Musical „Hair“ eine neue Bewegung auf. Drogentrip war angesagt. Bernhard Jäger verliert sich nicht in diesen psychodelischen Flower-Power-Zeiten. Sein gesellschaftliches Engagement bleibt.
Er durchleuchtet, häutet die einzelnen Wesen, das Individuum. Hier kommt der Beruf seines Vaters und Bernhard Jägers einjähriges Biologiestudium ins Spiel. Sein Vater war Professor und leitete an der Universität Frankfurt das Institut für Kolloid-Forschung. (Kolloid ist der Stoff, der sich in feinster, mikroskopisch nicht mehr erkennbarer Verteilung in einer Flüssigkeit oder in einem Glas befindet.)
Papierflieger, 1974, Pastell und Bleistift, 48 x 65 cm
Beim Künstler Jäger wird das Innere sichtbar, aber nicht im Sinne von psychischem „Krankheitsbild“, wohl aber im Sinne von psychischer Mutation. Er hat keine Scheu, den Menschen mehr als unvorteilhaft darzustellen. Im Laufe der Zeit werden die Arbeiten farbiger. Oft sind seine Köpfe Masken, Fratzen wie die „Kalte Beziehung“. Burleske Heiterkeit kennzeichnet manches Werk.
Kalte Beziehung, 1988, Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm
Bernhard Jäger äussert sich 1977, wie wichtig ihm sowohl die Lithografie als auch das Zeichnen, die Malerei, und der Holzschnitt sind: „Ich treibe immer in wechselnden Medien zu neuen Themen und Lösungen vor.“ Fast immer druckt er seine Grafiken selbst.
1983 ist er ein Jahr Gastdozent an der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste, der Städelschule. Dann folgen 1984 sechs Jahre als Leiter der Städel-Abendschule. Dazwischen hat er eine Gastprofessur an der Pentiment – der Internationalen Sommerakademie für Kunst und Gestaltung in Hamburg („Reuezüge“ – vom Künstler vorgenommene Abänderungen auf Gemälden etc.).
In seiner Dankesrede in Celle am 16. Mai 1998 bedankt sich Bernhard Jäger bei seinen Vorbildern:
„Ich danke meinen Lehrern Francisco de Goya, Grandville, Gustave Doré, dem Mexikaner Posada, James Ensor, den Herren der Cobra-Gruppe, Jean Dubuffet und Willem de Kooning, die mir den Weg wiesen.
Ich danke den unbekannten afrikanischen Schnitzern von Masken und Figuren, die mir die Tür zu neuen Welten öffneten.“
Tisch im Atelier
Bernhard Jäger hat eine beachtliche Sammlung afrikanischer Kunst. Ab 1995 wendet er sich ausschliesslich der menschlichen Figur zu. Die Schutz- und Zauberfiguren Afrikas inspirieren ihn zu seinen „Prototypen“.
Plakatvorlage zur Ausstellung „Drunter und Drüber“, Städtisches Kunstmuseum – Spendhaus – Reutlingen, 2005
Prototypen 1999 – 2001, Öl und Acryl auf Leinwand
Dann kommen Bernhard Jägers „wildbewegte, äusserst dicht ‚bevölkerte‘ Metropolen“. Noch sind die Bilder schwarz/weiss wie das „Frankfurt-Tryptichon“, das im Atelier des Künstlers hängt.
Frankfurt-Tryptichon, 1998, Öl auf Leinwand, je 100 x 100cm
„In diesen Menschenlandschaften kommen sich die Figuren ständig in die Quere. In den Ornamenten der Masse scheint die einzelne Gestalt unterzugehen“, schreibt Peter Joch, Direktor der Kunsthalle Darmstadt, anlässlich der Ausstellung „Signal und Figur“ in der Regionalgalerie im Regierungspräsidium Darmstadt 2008.
Es sind die dichten Kommunikationsnetze, die ständigen Informationen, die auf die Menschen einströmen, ja herabprasseln, und sie zu Schablonen machen. Sie stürzen uns gesellschaftlich in eine grosse Unübersichtlichkeit. Immer farbiger sind diese Menschenknäuel im Laufe der Zeit geworden.
Bernhard Jäger arbeitet nicht nur mit Pinsel und Farbe, mit Holz und Stein, sondern auch mit Stahl, Bronze, Acryl und Edelstahl. Grosse und kleine Skulpturen und Halbreliefs schmücken Plätze und Häuser. Seine vorletzte Skulpturengruppe „Stell-dich-ein“ schmückt den Vorplatz des Schulzentrums Nordanlage/Dammstrasse der Stadt Gießen, deren Wettbewerb Bernhard Jäger gewann.
Stell-dich-ein, 2010, Stahl, Lack, 350 x 140 cm; Foto: © Ute Wittich
Zwei Ausstellungen ehren den Künstler zurzeit: „Bernhard Jäger – Fünf Jahrzehnte Grafik, Malerei, Skulptur“ im Oberhessischen Museum Gießen, Altes Schloss, Brandplatz 2, das mit der „Roten Grossstadtfigur“ wirbt.
Rote Grossstadtfigur, 2008, Acryl, 80 x 60 cm
Diese Ausstellung vermittelt einen Überblick über das vielfältige Schaffen des Künstlers. In der geglückten Auswahl ist auch die Stahlskulptur „Tempo, Tempo“ zu sehen.
Tempo, Tempo, 2006, Stahl, Höhe 75 cm
Die Gießener Schau kann bis zum 14. November 2010 täglich (ausser montags) von 10 Uhr bis 16 Uhr besucht werden. Der Eintritt ist frei.
Die zweite Ausstellung „30 Bilder für Borges“ wird in der Kunstbibliothek – Städelbibliothek (Standort Bockenheim), Senckenberganlage 31, Frankfurt am Main präsentiert. Sie wird unter anderem von der Goethe-Universität und dem Argentinischen Generalkonsulat in Frankfurt veranstaltet. Die Buchmesse mit dem Schwerpunkt Argentinien gab den direkten Anlass.
Plakat „Panther“ (Buch Jorge Luis Borges „25. August 1983 und andere Erzählungen“)
Buchumschlag „Tausend und eine Nacht“ nach Antoine Galland
Ab 2006 schuf Bernhard Jäger seine Aquarelle zur dreissigbändigen Ausgabe „Die Bibliothek von Babel“ des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. In ihr hat er die Erzählungen seiner Lieblingsautoren gesammelt. Es ist fantastische Literatur aus drei Jahrhunderten – Weltliteratur. Die dreissigbändige Künstlerausgabe, die zwischen März 2007 und März 2008 in der edition Büchergilde erschien, ist seit langem vergriffen, aber soeben dort neu erschienen.
„Barbarisch-archaische Illustrationen“ nannte sie der ZEIT-Autor.
Peter Iden hatte 1968 zu Jägers Blättern von einer „eigenartigen Mischung von Brutalität und Komik, von Witz und Teufelei“ geschrieben. Das gilt auch für die Borges-Aquarelle.
Bernhard Jäger in der Ausstellung
Noch bis zum 12. November 2010 sind Aquarelle und Buchausgaben in der Kunstbibliothek – Städelbibliothek zu sehen, montags bis donnerstags von 10 bis 20 Uhr und freitags von 10 bis 17 Uhr. Auch hier ist der Eintritt frei.
Apropos Bücher: Bernhard Jäger hat noch mehr Bücher illustriert. Sie erhielten dreimal von der Stiftung Buchkunst den Preis „Die schönsten Bücher des Jahres“.
Gerne denkt Jäger an die Zusammenarbeit mit Ernst Jandl (1925-2000), die über 40 Jahre zurück liegt. 1966 erschien in der Gulliver-Presse Bad Homburg Jandls „Hosi-Anna!“ – gestaltet von Thomas Bayrle und Bernhard Jäger. In einem Brief bedankt sich der Sprachkünstler, der seine experimentelle Lyrik selbst vortrug, für die „herrliche Arbeit“. Und Adam Seide lobt die gelungene optische Umsetzung von Jandls Sprachenthüllungen.
Nun gibt es ein imposantes Buch, das Bernhard Jäger selbst ehrt:
Der schön gestaltete Foliant ist 2010 in der Edition Volker Huber, Offenbach, erschienen. Den Haupttext schrieb der Kunsthistoriker Friedhelm Häring, Leiter des Oberhessischen Museums Gießen. Es gefällt, dass der Autor alte Texte zu Bernhard Jäger und seinem Werk von namhaften Autoren, Ausstellungsmachern und Freunden ins Buch aufnahm. Der Preis beträgt 59 Euro. Es gibt auch eine Vorzugsausgabe mit einer Reliefskulptur und einer Originallithografie des Künstlers zum Preis von 290 Euro.
→ Bernhard Jäger zum 80. Geburtstag