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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Marseille 1940: ein Exil auf Zeit. Zufluchtsstätte und Falle zugleich

Tückische Passage für Schriftsteller und Künstler

Von Petra Kammann

Von Marseille aus wurde immer schon Geschichte geschrieben. Marseille, die älteste französische Großstadt, einst von griechischen Seefahrern wegen ihrer strategischen Lage am Mittelmeer als Massilia gegründet, empfängt heute die Reisenden mit interessanten Geschichten und Geheimnissen aus zweieinhalbtausend Jahren. Selbst die französische Nationalhymne, die „Marseillaise“, hat ihren Ursprung in dieser Stadt, weil nach der Französischen Revolution, als Soldaten aus Marseille 1792 in Paris die Tuilerien stürmten und dieses kämpferische Lied schmetterten. Heute sorgen kulturelle Highlights, Ausstellungen, Festivals oder wie in diesem Jahr die Olympiade mit Wassersportevents für Aufmerksamkeit. Ganz anders sah die Situation im Jahr 1940 aus, als die mediterrane Hafenstadt zu einem Ort der Zuflucht wurde, verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Lebens jenseits des Ozeans oder jenseits der Pyrenäen. In die aufwühlende Geschichte von „Marseille 1940“ (C.H.Beck), nahm uns der Autor Uwe Wittstock mit, der sein Buch in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt präsentierte.

Marseille am Alten Hafen: heute eher friedlich der Blick auf  Notre-Dame de la Garde, Foto: Petra Kammann

Bereits in seinem Buch „Februar 33. Der Winter der Literatur“ (Verlag C.H.Beck) hatte der Autor Uwe Wittstock ein spannendes Puzzle der bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers ,Machtergreifung‘ entworfen, welches auch schon auf die katastrophale Wirkung auf die Literaten und Künstler in Deutschland aufmerksam machte. Nun richtete er seinen Blick auf das Exilland Frankreich, das mit seiner freiheitsbewussten Avantgarde-Metropole Paris schon nach 1933 der Zufluchtsort für etliche Deutsche geworden war, die vor den Nazis fliehen mussten. Als im Juni 1940 Hitlers Wehrmacht Frankreich fest im Griff hatte, fahndete die Gestapo nach Intellektuellen wie Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, nach Anna Seghers, Franz Werfel und unzähligen anderen, die damals in Frankreich Asyl gefunden hatten, sei es in der französischen Metropole, sei es an der Mittelmeerküste. Sie alle mussten nun fliehen, sich verstecken oder so schnell wie möglich in die „Zone libre“, die „freie Zone“, nach Marseille gelangen, um von dort aus einen Weg in die Freiheit jenseits des Atlantik zu finden.

Autor Uwe Wittstock bei der Präsentation seines Buches in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, Foto: Petra Kammann

Natürlich waren Orte wie Sanary-sur-mer an der Côte d’Azur für deutsche Schriftsteller und Philosophen wie Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Franz und Helen Hessel-Grund, Alfred Kerr, Annette Kolb, die Familie Mann mit Heinrich,Thomas, Katia, Klaus, Erika und Golo Mann, außerdem Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Ernst Toller, Franz Werfel, Arnold und Stefan Zweig nach 1933 auf der Flucht vor nationalsozialistischer Verfolgung oder Gleichschaltung begehrte Zufluchtsorte geworden. Zunächst waren die Intellektuellen auch vom Zauber der mediterranen Landschaft wie auch vom Reiz des milden Mittelmeerklimas angetan, das auf das Klima bezogen, die Winter leichter erträglich machte. „Über den Pinienwald des Vorgebirges… glitt das große gelbe Licht und entwarf auf dem stillen Wasser eine seiner unvergesslichen Malereien. … Der winzige Hafen, eingerahmt von einer niedrigen Mole, war gefüllt mit leise schauernden Fischerbarken, die Masten taumelten sanft und schlaftrunken. …In solchen Stunden war’s, dass ich Deutschland selig vergaß“, pries Ludwig Marcuse die Vorzüge dieses paradiesischen Südens in seinen Erinnerungen. Es sollte jedoch ein flüchtiges „Paradies unter Palmen“ werden, was schon der Schriftsteller und Übersetzer Manfred Flügge in seinen Büchern eingehend beschrieben hat. Schon bald aber sollte mit dem mittelmeerischen Charme Schluss sein.

Juni 1940, Einmarsch der deutschen Truppen in Paris, Foto: Petra Kammann

Als Frankreich 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte, die Regierung aber aus Paris geflohen war, als im Juni 1940 deutsche Panzer über die Grenze in Richtung Paris rollten, die Deutschen am 14. Juni 1940 dann die französische Metropole vereinnahmten, war es mit der Sicherheit der aus Deutschland kommenden Emigranten endgültig vorbei, sie wurden in Lagern für feindliche oder unerwünschte Ausländer interniert und das, obwohl sie doch schon sieben Jahre zuvor ganz legal im freiheitlich orientierten Frankreich Asyl gefunden hatten. Von Stund an wurden aber unterschiedslos alle Deutschen, die sich in Frankreich aufhielten, zu feindlichen Ausländern erklärt, gleich, aus welchem Grund sie hierher gekommen waren. Die neue politische Gesamtlage betraf aber ebenso die widerständigen französischen Regimekritiker und andere Einwohner von Paris. Auch sie verließen ihre Stadt fluchtartig, so dass sich die Einwohnerzahl der Metropole nahezu halbiert hatte. In diesem Schicksalsjahr waren 1940 zwischen 8 und 10 Millionen Menschen unterwegs, um in den zu dieser Zeit noch nicht besetzten Süden des Landes zu entkommen. Für etliche wurde die Flucht zu einem Wettlauf mit der Zeit. Die Truppen folgten ihnen auf den Fersen.

Nach der Besatzung von Paris setzte eine Massenflucht in Richtung Süden ein, Foto: Petra Kammann

In einem Strang der Erzählung widmet Wittstock sich der Geschichte der damals durchaus erfolgreichen Schriftstellerin, der Kleist-Preisträgerin Anna Seghers, die mit ihrem ungarischen Ehemann László Radványi seit 1933 im Exil in der Nähe von Paris lebte und nun mit ihren beiden Kindern von Meudon aus über die ländlichen Nebenstraßen häufig 25 km pro Tag zu Fuß bis zur völligen Erschöpfung flüchtete, um unbemerkt zu bleiben, während ihr Ehemann bereits im Internierungslager Vernet eingesperrt war. Die Lage für sie als Frau allein mit den beiden Kindern war schon allein deshalb ausgesprochen gefährlich, da Personen wie sie damit rechnen musste, einerseits von den Franzosen als „Deutsche“ eingestuft zu werden und andrerseits von den deutschen Besatzern als Gegner des Nationalsozialismus behandelt zu werden. Hinzukam, dass die Juden unter den Flüchtlingen darüber hinaus auch noch mit Verfolgung rechnen mussten, ihnen drohten die Deportation und am Ende die Ermordung.

Glücklicherweise konnte ihr Sohn Pierre die Landkarte lesen und führte sie bis nach Marseille zum letzten „freien“ Überseehafen. Dennoch erlebte sie, wie auf dem Weg bei Polizeirazzien und auch durch Verrat viele Juden verhaftet wurden, Tage, die, unter den Schriftstellern von Angst und Selbsttäuschung, von Passivität bei den einen, und Entschlossenheit bei den anderen gezeichnet war. Das verarbeitete sie später in ihrem Roman „Transit“. Im März 1941 gelang es Anna Seghers, mit ihrer Familie von Marseille aus über Martinique, New York, Veracruz nach Mexiko-Stadt auszuwandern, bevor sie in die USA übersiedelten.

Uwe Wittkopf verfolgt u.a. die Route der Fluchtwege von Marta und Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Heinrich und Nelly Mann, Foto: Petra Kammann

Die meisten der Flüchtenden zog es allein schon wegen der dort vielerorts ansässigen Konsulate in die Hafenstadt Marseille, die zu garantieren schienen, dass man von hier aus Europa schnellstmöglich in Richtung Übersee verlassen konnte, wobei eigentlich Lissabon der einzige Hafen war, von wo aus man unmittelbar aus dem von Nazis besetzten Europa nach Amerika gelangen konnte. Allerdings brauchte man noch Zusatzvisa für Spanien und Portugal, was eine zusätzliche Hürde darstellte.

Aber in Marseille – das hatte sich bald herumgesprochen – baute damals der amerikanische engagierte Journalist Varian Fry als Abgesandter des amerikanischen „Emergency Rescue Committee“ eine illegale Fluchthilfeorganisation auf, um die von den Nationalsozialisten verfolgten Künstler und Literaten zu unterstützen. Fry hatte zuvor bei seinem Aufenthalt in Berlin berichtet und erlebt, wie dort jüdische Geschäfte geplündert wurden und hatte daraufhin den Entschluss gefasst, so viele wie möglich von ihnen zu retten. Dabei verfügte der aufstrebende amerikanische Ostküstenintellektuelle gerade mal 3000 Dollar und trug eine Liste mit 200 Persönlichkeiten, Intellektuellen und Künstlern bei sich, die er kontaktieren und denen er helfen sollte, aus Frankreich herauszukommen.

Während die Internierten in dieser Phase noch die Möglichkeit hatten, sich in Marseille die für die Flucht in die USA oder nach Mexiko nötigen Dokumente zu besorgen, wurde eine groβe Zahl von Intellektuellen, darunter Feuchtwanger, Max Ernst, Golo Mann, von Varian Fry und dem amerikanischen Vizekonsul Hiram Bingham gerettet. Als das Vichy-Regime die Verwaltung der Lager in der sogenannten „Freien Zone“ dann übernahm, wurden die Internierten vor allem im Hinblick auf jüdische Herkunft kategorisiert. Und für sie begann eine weitere, eine zweite Phase des Lagers, und eine weitere Zeit des Transits, wobei Marseille für viele Schutzsuchende sowohl Zufluchtsstätte als auch Falle zugleich wurde. Verfolgungs- und Überlebensangst, Langeweile, Hunger, Schlangestehen, Schwarzmarktgeschäfte und Fälschungen bestimmten deren Alltag und das dortige Klima, so dass es kaum noch ein Entrinnen gab.

Eine Art Lichtgestalt, der engagierte amerikanische Fluchthelfer Varian Fry, Foto: Petra Kammann

Ausgangspunkt für den Helfer Varian Fry war zunächst sein Zimmer im Hotel Splendide in Marseille in Nähe des Bahnhofs St. Charles, wo er sich eine Art Büro eingerichtet hatte. Von dort aus versuchte er, die Ausreise von gefährdeten und bedrohten Schriftstellern und Künstlern zu organisieren. Die Fluchtwege gingen vor allem über das Meer. Doch gab es meistens nicht genügend Schiffspassagen, in anderen Fällen fehlten die erforderlichen Papiere, dann blieben nur noch die versteckten, beschwerlichen Fußpfade auf dem alten Schmugglerweg über die Pyrenäen nach Spanien und von dort aus über Lissabon in die USA.

Bei dem Andrang der Bedürftigen erfuhr Fry daher schon bald die Begrenztheit seiner offiziellen Möglichkeiten, die im Gegensatz zur Dramatik, Dringlichkeit und dem immensen Bedarf an Hilfe stand, so dass er auch unkonventionelle, illegale Mittel nutzte wie etwa die Fälschung von Pässen. Das machte ihn auch offiziell angreifbar. Und seine Erkundungsmission, die zunächst auf 3 Wochen angelegt war, dehnte sich auf 13 Monate aus, an deren Ende er Frankreich nicht etwa freiwillig verließ. Er, der zunächst die inoffizielle Unterstützung der amerikanischen Regierung durch Eleonore Roosevelt sowie durch so prominente Emigranten wie Thomas Mann genoss, arbeitete nun auf eigene Faust. Sein Idealismus war grenzenlos.

Die Villa Air-Bel zwischen Pinien und Platanen

Ofiziell galt das Marseiller Büro des Emergency Rescue Committee zwar als wohltätiger Verein, der mit amerikanischen Geldern versuchte, die Notlage der Flüchtlinge zu lindern, doch waren die Behörden misstrauisch und drohten Fry immer wieder mit Verhaftung und Ausweisung. Im Osten der Stadt gelang es ihm, dank des Verhandlungsgeschicks seines Stellvertreters Daniel Bénédite eine typisch provenzalische Bastide zu einem günstigen Preis zu mieten. Umrahmt von 2 riesigen Platanen bot die Villa mit Südfassade auf 3 Ebenen und 5 Aus-und Eingängen und ganzen 18 Zimmern Platz für die bedrängten Künstler und Literaten. Und ein Hof trennte das Haus von einem großen Gewächshaus. Für die Exilanten wie auch für Varian Fry selbst wurde die Villa Air-Bel zu einem Ruhepol, wo er sich von seiner aufreibenden gefährlichen Arbeit erholen konnte. Die Bewohner hatten die landsitzähnliche Villa als „Château Espère Visa“ umbenannt, als „Schloss der Hoffnung auf ein Visum“. Künstler wie Marc Chagall, Max Ernst and Marcel Duchamp organisierten dort spaßige Ausstellungen im Freien unter den Platanen. Der provokative Schriftsteller André Breton lebte zeitweise hier mit seiner Frau Jacqueline Lamba und ihrer Tochter Aube, außerdem Hannah Arendt und der Anthropologe Claude Lévi-StraussSchade nur, dass dieses besonders inspirierte Gebäude heute nicht mehr existiert. Es wurde 1982 abgerissen, um einem neuen verwechselbaren Wohnviertel Platz zu machen.

Stéphane Hessel (1917-2013) erkundete mit Varian Fry die provenzalische Umgebung, Foto: Petra Kammann

Erwähnenswert ist im Umfeld des Komitees eine zierlich-freundliche Person, damals ein blutjunger Mann. Im Alter von um die 90 Jahren landete der Autor vor mehr als zehn Jahren bei uns auf den Bestseller-Listen wegen eines besonderen, kleinen Pamphlets „Indignez-vous“/ „Empört Euch!“. Es handelte sich um den Buchenwald-Überlebenden und UNO-Botschafter Stéphane Hessel. Gemeinsam mit seinen Eltern, dem Berliner Schriftsteller Franz Hessel und der Reporterin Helen Hessel, war auch er als Résistancler nach Marseille gekommen, wo er sich mit dem Handverkauf von Zeitungen am Bahnhof über Wasser hielt. Mit dieser Geste des Zeitungsverkäufers begegnete er Varian Fry auf der riesigen Freitreppe vor dem Bahnhof St. Charles, strahlte ihn an und befreundete sich mit ihm. In ihrer knapp bemessenen Freizeit machten sie gemeinsam beschwingte Erkundungstouren in die Provence. Seine Mutter Helène (Helen) Hessel, geborene Grund, damals Korrespondentin der Frankfurter Zeitung, arbeitete ebenso wie Stéphane beim Flüchtlingskomitee von Varian Fry. Mutter Helène und er holten den Vater Franz Hessel, der sich zwischenzeitlich von der Familie getrennt hatte (dahinter liegt die Geschichte des französischen Filmklassikers von Truffaut „Jules et Jim“ nach dem gleichnamigen Roman von Henri-Pierre Roché ) aus dem Lager Les Milles, einer großen stillgelegten zugigen und eiskalten Ziegelei, 25 km nordwestlich von Marseille. Doch der Vater stirbt bald darauf. Der Wahlfranzose und Widerstandskämpfer Stéphane Hessel war übrigens auch einer einer der letzten, der mit dem verzweifelten Walter Benjamin sprach, bevor sich dieser zu seiner Reise ohne Wiederkehr an die französisch-spanischen Grenze aufmachte. Damit entsprach er dem Wunsch seines Vaters, der eng mit Walter Benjamin wie auch mit Gershom Scholem befreundet gewesen war.

Während Walter Benjamin bald darauf stirbt, konnte der Surrealist André Breton rechtzeitig entkommen und überleben, Foto: Petra Kammann

Der Autor des faktenreichen Buches Uwe Wittstock stellt die komplexe Lage der parallel stattfindenden Ereignisse episodenhaft dar bzw. er stellt kurze Sequenzen nebeneinander. Das macht die Geschichte so lebendig und spannend, droht aber wegen des ständigen Hin- und Herswitchens zwischen den atemberaubenden Szenen der verschiedenen Personen den Faden zu verlieren. Insofern bildet die Hafenstadt Marseille, als Ort der Passage, einen Knotenpunkt, an dem die Fäden, die Schicksale der Menschen, auch aus anderen europäischen Ländern, quer durch Europa bis nach Amerika immer wieder zusammenlaufen. Erst am Ende des Buchs, wenn wir mit ihren Tragödien mitgezittert haben, können wir dann unter dem Kapitel: Was danach geschah die unterschiedlichen Lebensläufe und -verläufe der betroffenen Personen in Kurzbiographien noch einmal rekapitulieren. Und dann wird ein Ganzes daraus, wenn sich vielleicht auch noch in Zukunft weitere Forschungsfragen stellen werden.

Hier forschte Uwe Wittstock, um sich ein Bild von der Situation der damaligen Emigranten zu machen, Foto: Petra Kammann

Wittstock, der mehr als ein Jahr im Exil-Archiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt recherchiert hat, wertete für dieses Buch, das den Untertitel trägt:„Die Flucht der Literatur“, Briefe, Tagebücher, autobiographische Erinnerungen der damaligen Betroffenen als Grundlage für die Erzählung aus, um die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren so realitätsnah wie möglich darstellen zu können. Um sich selbst auch physisch von den Strapazen der damaligen Flüchtenden einen Begriff zu machen, bereiste er zudem die erwähnten Orte wie das Internierungslager Les Milles oder auch Gurs persönlich.

Hinweis auf Künstler und Literaten im Internierungslager Les Milles wie Walter Hasenvlever, Foto: Petra Kammann 

Seit 1994 ist das Lagergelände ebenso zu einer nationalen Gedenkstätte geworden, welche die Erinnerung an seine Geschichte und die dort Internierten und Häftlinge, an die Flüchtlinge, Widerstandskämpfer und deutschen Juden, an die Misshandelten und Ermordeten ebenso wachhalten möchte wie das Camp de Gurs nördlich der Pyrenäen, das zunächst zur Internierung politischer Flüchtlinge aus Spanien und ehemaliger Kämpfer des Spanischen Bürgerkrieges errichtet worden war. Die meisten dieser Häftlinge wurden, soweit sie unter den extremen, auch hygienischen Bedingungen, die zu einer hohen Mortalitätsrate führten, bis dahin überlebt hatten, ab August 1942 erneut deportiert und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von den Deutschen vergast, was den französischen Stellen und Kollaborateuren seinerzeit durchaus bewusst war.

Um sich einen Eindruck von der Strapaze zu verschaffen, ging Wittkopf mit seiner Frau – wenn auch unter ungleich einfacheren Bedingungen – einen Teil des beschwerlichen Weges in den Pyrenäen, der inzwischen als Wanderweg „Chemin Walter Benjamin“ ausgewiesen ist oder als F-Weg (auf Fittko bezugnehmend) bezeichnet wird, zu Fuß. Zehn Stunden hatten seinerzeit die Fluchthelferin Lisa Fittko und ihre Schützlinge bis zu dieser Stelle gebraucht. Auf diesem Weg hatte sie den damals nur 47 Jahre alten, schwer herzkranken Philosophen Walter Benjamin begleitet, der eine schwere Tasche mit für ihn so wichtigen Manuskripten und Dokumenten mitgeschleppt hatte, die u.a. auch einen Abschiedsbrief an den Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno enthielt. Restlos erschöpft hatte Benjamin sich verausgabt, bevor er in Port Bou nur einen Tag nach der gefährlichen und anstrengenden Pyrenäenüberquerung wegen der Grenzpatrouillen tot aufgefunden wurde. Ob es sich dabei um Erschöpfung oder Selbstmord handelt, weil ihm die Spanier den Grenzübertritt verweigert hatten, und er keinen Ausreisestempel der Franzosen vorweisen konnte, ist bis heute nicht eindeutig klar. Die Manuskripte gingen verloren.

Deutsche Nationalbibliothek: Sylvia Assmus, Leiterin der Exilabteilung, Uwe Wittstock, Schauspielerin Anuschka Tochtermann, Foto: Petra Kammann

Die beschriebene Fluchthilfe war ein äußerst riskantes Geschäft, das ungeheuer viel Courage erforderte. Viele der auch prominenten Geretteten erinnern nicht mehr an die mutigen Helfer in der neuen Welt. Auch etliche der angetroffenen Franzosen drückten hier und da ein Auge zu. Und Fry bekam erst recht keinen Heldenstatus. So erschien erst 1985, ausgelöst durch Gershom Scholem, der Walter Benjamins Spuren zu erforschen suchte und dabei auf die tatkräftige Fluchthelferin Lisa Fittko gestoßen war, deren Erinnerungsbuch „Mein Weg über die Pyrenäen“. Es hatte die Exilforschung zweifellos weiter angeregt.

Mit der Hilfe engagierter Mitarbeiter gelang es Varian Fry bis zum Herbst 1941, geschätzt 2000 Menschen die Flucht nach Amerika zu ermöglichen. Die Liste bekannter Persönlichkeiten ist lang, unter anderen Hannah Arendt, André Breton, Marc Chagall, Alfred Döblin, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Heinrich und Golo Mann, Walter Mehring, Otto Meyerhof, Alfred Polgar, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel.

Für den „Fluchtengel“ Varian Fry gibt es bislang keine Gedenkstätte, weder in den USA noch in Marseille. In der Rue Grignan in Marseille trägt nur ein Klingelschild seinen Namen, in Berlin eine Straße und in Yad Vashem wurde ihm 1994 der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Eine kleine späte Genugtuung für den Idealisten.

Literaturangaben:

Uwe Wittstock:
Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur.
C. H. Beck, 2024
351 Seiten,
26 Euro

 

 

 

 

In der ungekürzten Lesung des Schauspielers und Sprechers Julian Mehne mit seiner mehr als 10-jährigen Erfahrung fiebert man den dramatischen Geschichten entgegen, die von Lion Feuchtwangers knappem Überleben im Internierungslager ebenso handeln wie von Anna Seghers verzweifelter Flucht zu Fuß auf dem Landweg oder Varian Frys mutigen und bedrohlichen Bemühungen, die Verfolgten in Sicherheit zu bringen. Detailreich und nicht nachlassend zeichnet der alleinige Sprecher mit langem Atem knapp zwölfeinhalb Stunden lang die dunkelsten Zeiten, Verzweiflung und Furcht, in den manchmal ein Funken Hoffnung und Lebensfreude aufblitzt wie beim Zusammentreffen in der Villa Air-Bel. Leider ist das Booklet etwas schlicht gemacht. Gerne hätte man einen Überblick über die einzelnen Kapitel bekommen.

Hörprobe
der ungekürzten Lesung
von Julian Mehne
Der Audio Verlag GmbH

26,00, ISBN 978-3-7424-3205-6

1 mp3-CD · ca. 12 h 22 min

 

Und noch ein Hörhinweis. Eben wurde mir – gewissermaßen nach Redaktionsschluss – ein ganz wunderbarer Bücher-Podcast „Plan B“ von Anita Djafari geschickt, die gemeinsam mit Katja Fasshauer den Autor Uwe Wittstock umfassend zum Thema Krieg, Flucht und Literatur interviewt hat, den ich hier gerne noch einbaue.

Folge 23: Krieg, Flucht und Literatur

 

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