Das 29. BookForum Lviv – Eine Buchmesse in Zeiten des Krieges organisieren – wie geht das?
BookForum im Bunker und ohne Bücher
Beobachtungen vor Ort von Christian Weise
Christian Weise besuchte die Buchmesse in Lviv (Lemberg), Foto: Valentyn Kuzan
In der letzten Septemberwoche 2022 veranstalteten die älteste Buchmesse der Ukraine seit der Unabhängigkeit des Landes ihre neueste Auflage. Bücher wurden dieses Mal nicht verkauft, auch nicht in Kiosken in der Allee vor der Lemberger Oper. „Man könnte mit einem Schlag die gesamte Kultur auslöschen“, so formulierte Oksana Cheml’ovs’ka Anfang September in einem Gesprächsaustausch. Alternativ wählte die unglaubliche Sofia Cheliak mit ihrem Team den Ausweg, allein Diskussionsrunden zu veranstalten. Dieses Format ist vor allem in Kyjiwer Buch-Arsenal in den letzten Jahren großartig entwickelt worden. Unterstützt vom neu gegründeten „House of America – Lviv“, dem britischen Hay-Festival und ferner dem „Ukrainischen Institut, dem USAID, den Open Society Foundations, dem British Council, von UK/Ukraine Season, ZINC Network fanden so nun vom 7. bis 10. Oktober „Panels“ statt.
Peter Pomeranzev, Emma Winberg, Philippe Sands, Andrij Shapovalov, Bruno Maçães diskutieren über Propaganda, Foto: Christian Weise
Zum Auftakt las Oleksandr Mykhed, in der 2. Kriegswoche, ausgebombt im Kyjiwer Vorort Hostomel (vgl. seine Tagebuchnotizen, FAZ 17.7.2022: Mein Haus, die offene Wunde), abends paukenschlagartig sein Gedicht, das die ukrainischen Erfahrungen eindrücklich zusammenfasste. Inzwischen ist der Schriftsteller Mykhed mehr als nur 100 Tage im Kriegseinsatz.
In den folgenden drei Tagen diskutierten hochkarätige Teilnehmerinnen und Teilnehmer die verschiedenen Seiten des Krieges Russlands gegen die Ukraine und der Rolle der Kultur.
Die beeindruckenden und inspirierenden Panels fanden unter weitgehendem Ausschluss breiterer Öffentlichkeit statt – in bedrohlicher Situation in einem zugleich als potentieller Luftschutzbunker – Ukryttja – dienenden Vortragraum für rund 100 Zuhörer. Vor allem junge Studierende fanden sich unter der Zuhörerschaft ein.
Frauen und Krieg: Diana Berg, Lydia Cacho, Janine di Giovanni, Emma Graham-Harrison, Victoria Amelina, Foto: Christian Weise
Für den deutschen Zuhörer war das forcierte Engagement von britischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern auffällig, was sich aber auch in den Diskussionen erklärte. Immerhin kannte unsereiner schon die ukrainischen Übersetzungen von Analysen eines britischen Kriegsbeobachters, die der Interimsleiter des ukrainischen Buch-Instituts regelmäßig veröffentlicht.
Zur Verfahrensweise: Die Einheiten wurden oftmals durch einen Videobeitrag von Teilnehmern aus dem „Feld“ eingeleitet. Oft waren prominente Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus weiter Ferne zugeschaltet.
Hoffnung Menschlichkeit und Krieg: Yaroslav Hryzak, Serhij Plochij, Margaret MacMillan, Foto: Christian Weise
Jeder zählt – in apokalyptischen Zeiten von Krieg
Fast 50 Podiumsteilnehmer zählte das BookForum, jede Stimme zählte.
Von den weit entfernten ausländischen Online-Teilnehmern sind Margaret Atwood, Elif Shaked, Neil Gaiman, Abdulrazak Gurnah, Yuval Harari, Serhij Plochij, zu nennen. Nichtukrainische anwesende Gesprächspartnerinnern und Gesprächspartner waren die Reporter und Buchautoren Catherina Belton, Lydia Cacho, Janine di Giovanni, Emma Graham-Harrison, John Lee Anderson, Misha Glenny, die Palliativ-Medizinerin Rachel Clarke, der Neurologe Henry Marsh, ferner Charlotte Higgins, Margaret MacMillan, Emma Winberg, Oliver Bullough, Michael Katakis, Bruno Maçães, Ihor Pomeranzev, Peter Pomeranzev und die bekannten Autoren Philippe Sands und Jonathan Littell. Sands „Rückkehr nach Lemberg“ war bereits vor mehreren Jahren, noch vor der deutschen Ausgabe auf Ukrainisch erschienen, Littells „Wohlgesinnte“ erscheinen in Kürze in Kyjiw bei Babyn Yar.
Emma Graham-Harrison, Oleksandr Mykhed, Victoria Amelina, Foto: Christian Weise
Außer dem bereits eingangs genannten Oleksandr Mykhed, der Ehrengast war, nahmen von ukrainischer Seite teil: Victoria Amelina, Diana Berg, Yaryna Chornohuz, Iryna Cybuch, Ljubov Cybulska, Natalia Humenjuk, Sevil Musajeva, Tetiana Ogarkova, Olena Stjaschkina Alim Alijev, Stanislav Assejev, Yaroslav Hryzak, Volodymyr Jermolenko, Vadym Karp’jak, Andrij Kulykov, Andrij Myzak, Masi Nayyem, Artem Poleschaka, Jurko Prochasko, Volodymyr Rafejenko, Andrij Shapovalov, Ostap Slyvynsky, Tentjana Teren.
Die bekanntesteten Autoren, Oksana Sabuschko, Andrij Kurkow, Serhij Zhadan, und viele andere ukrainische populäre Autoren fehlten deshalb, weil sie entweder unermüdlich auch im Ausland durch Auftritte und Artikel engagiert sind – Zhadan etwa absolvierte und absolviert gerade viele Auftritte in Deutschland, Kurkow als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs tourt durch ganz Europa und veröffentlicht regelmäßig Interview- und Textbeiträge in vielen Sprachen – andere sind durch ihren Beschaffungseinsatz von Autos und anderem für Rettungseinsätze und anderen Transport, durch Teilnahme etwa am Literaturfestival in Batumi, durch Stipendien im Ausland oder schlicht durch das Leben im Exil aufgesogen. Einige aus dieser zweiten Gruppe wie beispielsweise Kateryna Kalytko, Andrij Ljubka hatten vor einem Monat in der einzigen in diesem Jahr life organisierten Literaturveranstaltung teilgenommen, am XIII. Meridian Czernowitz.
Kinderbücher und Bücher: A-Ba-Ba-Ha-La-Ma-Ha-Autor Sascha Dermanskij, Foto: Christian Weise
Eindrucksvoll waren die frühmorgens am Samstag und Sonntag vor kleiner Kinderschar lebhaft vorgetragenen Geschichten des A-Ba-Ba-Ha-La-Ma-Ha-Autors Saschko Dermanskyj. Kinderbücher stellen doch ein bedeutendes Segment der ukrainischen Verlage dar, das darüber hinaus eine wichtige Eintrittskarte für die ukrainische Erwachsenenliteratur auf dem Weltmarkt ist.
Verlage und Druckereien im Krieg
Dass die ukrainischen Verlage ihre Neuerscheinungen und gesamte Buchproduktion nicht wie gewohnt dem Lesepublikum anbieten und verkaufen konnten, ist ein weiterer schwerer Schlag für sie. Kritisch ist die Lage schon deshalb, weil die Druckereien in Charkiv, die einen Großteil der ukrainischen Produktion herstellen, durch die Bombardierungen kaum noch arbeiten, und weil der Preis des Druckpapiers gestiegen ist. Als Beispiel: Der neueste Band der zwölfbändigen Literaturgeschichte der Ukraine bei Naukova Dumka im Kyjiwer Stadtzentrum wird, vierfach teurer, damit für viele Ukrainer unerschwinglich.
Kriegsverbrechen und Erinnerung, Moderator: Andrij Kurkov, Jonathan Littell, Natalia Humenjuk, Stanislav Assejev, Philippe Sands, Foto: Christian Weise
Zwei „Publishers in Exile“ lauschten in sich gekehrt neben Marjana Savka vom Verlag des Alten Löwen, die auch in mehreren Diskussionen mitwirkte, den Diskussionen, Oksana Sabuschkos Ehemann Rostyslav Luzhets’kyy, der den Kyjiver Verlag „Komora“ leitet, während sich die Schriftstellerin „auf der längsten Lesereise“ befindet. Oleksandr Krasvyc’kyj, der in seinem Verlag „Folio“ unter anderem auch Andrej Kurkow und Jurij Wynnytschuk verlegt, zuletzt nun aber die Ansprachen von Präsident Volodymyr Selenskij – auf Ukrainisch und Englisch, mit beigefügter Chronik, Tag für Tag, Band für Band, jeden Monat einer. Gedruckt nun statt in Charkiv in einer Druckerei Ternopil. Auch die anderen Verlage wie „Old Lion“ drucken nun öfter hier, und nicht mehr nur auf Arctic Paper.
Wen die ukrainische Verlagslandschaft interessiert, der findet im neuesten Heft der Zeitschrift „Osteuropa“ anregende ausführliche Informationen.
Die 18 Interviews und Diskussionsrunden des 29. BookForums Lviv lassen sich schwerlich rekapitulieren und auch nur mühsam fokussieren. Allesamt sind sie mit ihren Themenüberschriften über die Webseiten des Hay Festivals bzw. der BookForums nachzuschauen. (https://www.hayfestival.com/lviv-bookforum und https://www.facebook.com/lviv.bookforum)
Ein Versuch der akzentuierenden Zusammenfassung des 29. BookForums sei dennoch gewagt:
Gerechtigkeit, Subjektsein
Besonders pressierend während der drei Tage Panels von Diskussionen auf dem 29. BookForum Lviv war die Frage der Gerechtigkeit, zugespitzt auf die Forderung, den Krieg als Genozid zu brandmarken oder anzuerkennen. Victoria Amelina engagierte sich insbesondere in der Sache.
Natalja Humenjuk und Jonathan Littell, Foto: Christian Weise
Sehe ich es richtig, dass die beiden anwesenden Schriftsteller Jonathan Littell und Philippe Sands zwei Seiten der Gerechtigkeit in ihren Büchern beschreiben? Der eine, Littell, beschreibt in „Die Wohlgesinnten“ ausführlich die Ungerechtigkeit, der andere legt in „Rückkehr nach Lemberg“ den Akzent auf das Miterleben von Gerechtigkeit. Ob der ursprüngliche englische Titel „East-West-Street“ – womöglich das „Ex Oriente lux“ ergänzend – den fortschreitenden Weg von Gerechtigkeit im Sinn haben könnte?
Wenn Victoria die Anerkennung des Genozids von irgendeinem höchsten Weltgericht anmahnt oder einfordert, dann entspricht dies auch dem Wunsch derjenigen Russen, die als Kriminelle reich geworden Anerkennung in der aristokratischen Welt Londons, der Riviera und anderswo suchen.
Detaillierte Dokumentation: Victoria Amelina, Philippe Sands, Foto: Christian Weise
Andererseits dokumentieren Victoria Amelina, die englischsprachigen anwesenden Kriegsreporterinnen, auch Jonathan Littell in seiner Rolle als Reporter, Kriegsverbrechen. Die konkreten Verbrechen in aller Detailliertheit zu dokumentieren, sei die Hauptsache, ohne die kein Gerichtsprozess erfolgreich verlaufen und abgeschlossen werden könne, von der Intentionalität der Täter über die Taten bis zu den Opfern und Überlebenden, so verstehe ich die empathischen und emphatischen Reden Philippe Sands.
Subjekt zu sein wird auf allen Ebenen gegeben oder verloren. Auf den unterschiedlichen Gerichtsebenen ukrainischer oder überstaatlicher Gerichte wie in den einzelnen Begegnungen. Vorrang hat bei aller menschlichen Fähigkeit zu Abstraktionen (bis hin zu verqueren Verschwörungstheorien) die konkrete Begegnung, die konkrete Gewährung von Subjekt-Sein.
Bei den gerichtlichen „Korrekturen“ von Ungerechtigkeit werden auch die „wahn“-sinnigen Täter an ihr Subjekt-Sein erinnert und zur Verantwortung gezogen.
Der Essayist und Psychoanalytiker Jurko Prochasko, Foto: Christian Weise
Nicht nur, weil die Diskussionen auf dem BookForum stattfanden, oder weil ich, 1994 von der Theologie her kommend, wo es unter anderem ja auch in einem Aspekt um die „Gerechtigkeit Gottes“ geht, in die Ukraine kam, bin ich bei den Gedanken des Juristen und Schriftstellers Philippe Sands oder des Essayisten und Psychoanalytikers Jurko Prochasko oder der Palliativ-Medizinerin Rachel Clarke während des BookForums.
In konkreten und immer wieder neu erfolgenden Begegnungen werden Beziehungen, Subjekt-Sein und damit auch Gerechtigkeit und Menschlichkeit hergestellt und gefeiert. Eine oberste hohe Anerkennung ist nur ein Teil dieses Prozesses. Die Forderung nach Anerkennung der russischen Verbrechen als Genozid zielen nach meinem Verständnis letztendlich weniger auf einen Punkt der Konstatierung, sondern auf die Öffentlichkeit, also auf eine stellvertretende Begegnung.
Liebe und Verlust: Andrij Myzak, Rachel Clarke, Henry Marsh, Jurko Prochasko, Foto: Christian Weise
Diese Öffentlichkeit haben die Ukrainer infolge des Krieges auch anders erlangt, wie die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge, die Einladung von Ukrainern zu Lesungen, Berichten, Diskussionen in allen Formen bei uns zeigen. Und sie dauert an. Nötig sind mehr umgekehrte Besucher in der Ukraine.
So liegen wir einander gleichsam einander in Armen, beide aktiv wie passiv teilnehmend und teilend. Die Umarmung hatte die Palliativ-Medizinerin Clarke erwähnt.
Absolut konkrete Gerechtigkeitshandlungen und Begegnungen sind neben den Dokumentierungen die Aktionen etwa Volodymyr Jermolenkos und seiner Frau, die nicht nur jetzt ihr Programm „UkraineWorld“ machen, sondern Menschen aus gefährdeten Regionen Kyjiws herausgefahren und gerettet haben, Andrij Ljubkas, die Fahrzeuge für die ukrainische Armee beschaffen, von Menschen, die Hilfstransporte verschiedener Art in die Ukraine besorgen.
Psychologen hören doch zumeist zu, hatte mir neulich eine Frankfurter Freundin gesagt, die mich als Übersetzer für das Sigmund-Freund-Institut warb.
Glück
Hat dann Dag Hammarskjöld richtig formuliert? Schweigen ist der Raum um jede Tat und Gemeinschaft von Menschen. Freundschaft bedarf keiner Worte. Sie ist Einsamkeit, frei von der Angst der Einsamkeit? Oder ist das Glück nicht wichtiger, auch das Glück von Begegnungen?
Margarete Atwood lenkte gegen Ende des Gesprächs mit Jurko Prochasko am Abend des zweiten Tages des BookForums den Akzent darauf. Beim Überleben eines Flugzeugabsturzes bedürfe es vierer Momente:
Sachverstand
Material
Willensstärke
Glück
Bei Vorhandensein zweier Momente sei das Überleben gewährleistet. Die Ukraine habe die ersten drei, so Atwood. Aber das Glück, im umfassenden Sinne, ist – Paulus ergänzend – vielleicht doch das größte.
Die russische Armee indes begrüßte den Teil der BookForum-Teilnehmer, die sich Sonntagnacht mit dem Schlafwagen nach Kyjiw begaben, am nächsten Morgen mit Luftangriffen, mindestens drei Raketen trafen das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt…