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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Frankreich entschlüsseln“: ein Standardwerk zum Verständnis

Die renommierte Publizistin Isabelle Bourgeois über das Nachbarland Frankreich unter vielfältigen Vorzeichen

Von Uwe Kammann

Vor kurzem berichtete die FAZ im Lokalteil – mit einiger Sorge oder mit nüchternem Tenor? –, dass der Finanzplatz Frankfurt in allen Belangen von Paris überholt worden sei, ganz anders als nach dem Brexit vorhergesagt. In französischen Zeitungen wie „Le Monde“ ist zuletzt – nicht ohne Genugtuung, Stolz oder gar Häme? – hervorgehoben worden, dass die französische Wirtschaft der globalen Krisensituation trotze, dass sie standhalte und sogar leicht wachse.

Blick auf das Centre Pompidou – Paris vereint Tradition und Moderne, Foto: Petra Kammann

Verbunden sind solche Feststellungen immer mit einem Seitenblick auf Deutschland. Und zum Stimmungsbild gehört, dass in wesentlichen Fragen sich die Meinungsverschiedenheiten vertieft hätten. Besonders steht dabei die deutsche Energiepolitik in der Kritik, lagerübergreifend. Das hiesige grüne Nein zur Kernenergie wird geradezu als feindlich betrachtet, als Schlag gegen eine europaverträgliche Wirtschaftspolitik.

Ein Rathaus in der französischen Provinz, Foto: Petra Kammann

Ist das alles nur ein Augenblicksbild? Christophe Braouet, Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft Frankfurt, hatte im Frühjahr unter dem Titel „Deutschland und Frankreich schaffen das“ (Verlag Nomos/Tectum) in einer ausführlichen, mit vielen Tabellen unterfütterten Betrachtung die möglichen und in seinen Augen notwendigen Perspektiven für eine neuformierte Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern vorgelegt – als positive, an der europäischen Integration ausgerichtete Wegskizzierung nach dem nun 60 Jahre bestehenden Elysée-Vertrag.

Christophe Braouet bei der Einführung von Prof. Dr. Xenia von Tippelskirch. Leiterin des Institut français Frankfurt / IFRA-SHS, Foto: Petra Kammann

Nur so sei die krisenhafte Gesamtlage (gekennzeichnet u a. durch nationalistische Bewegungen, eine gespaltene politische Bevölkerung und mangelndes ziviles Interesse an einer europäischen Gemeinschaft) zu überwinden.

Nun, die FAZ fand – so spitzt auch der „Perlentaucher“ die Rezension zu – den Befund Braouets, auch seine Einschätzungen und Perspektiven als wenig realistisch. Der FAZ-Kritiker empfahl stattdessen, gerade was die europäische Politik angeht, lieber in vielen kleinen statt in „wenigen großen Schritten“ zu denken.

Wer nun die heftigen Ausschreitungen in vielen Städten Frankreichs – ausgelöst durch den Tod eines 17-jährigen Maghrebiners nach einer Polizeikontrolle im Pariser Vorort Nanterre – vor Augen hat, der wird fragen: Wie ist das zu vergleichen mit den Verhältnissen in Deutschland, wieviel daran ist „spezifisch französisch“, zumal es ja nicht das erste Mal ist, dass es gerade in den Vorstädten – pauschal als Banlieues bezeichnet – viele gewalthaltige Ereignisse gegeben hat, welche die Szenerie in Deutschland (wie die G20-Krawalle in Hamburg oder bald regelmäßige linksradikale Ausschreitungen in Berlin oder Leipzig) bei weitem übertreffen.

Redaktionssitz von „Ouest-France“ in Rennes, Foto: Uwe Kammann

Ende Juli zog die auflagenstarke Regionalzeitung „Ouest France“ mit besorgtem Blick auf die kommenden Olympischen Spiele in Paris eine drastische Bilanz der fünf Gewalttage in über 500 Kommunen des Landes: 2500 in Brand gesetzte oder verwüstete Gebäude, darunter Schulen, Kindergärten, Rathäuser, Kultureinrichtungen; hunderte geplünderte Geschäfte, 5000 in Flammen aufgegangene Autos, 517 physisch angegriffene Politiker, 3500 Festnahmen von jungen Männern, meist zwischen 17 und 18 Jahren.

Erinnerung an die Gewalttage; hier in Rennes, Foto: Uwe Kammann

Die französische Justiz urteilte schnell, auch das gehört zur Bilanz; es gab schon 700 Haftstrafen. Auch gegen 30 der insgesamt 45.000 eingesetzten Polizisten wird ermittelt – derjenige, der einen 17-jährigen Autofahrer (ohne Führerschein am Steuer eines ultraschnellen Mercedes) bei der Kontrolle erschossen hat (die Umstände sind noch nicht geklärt), sitzt in Untersuchungshaft.

Verbarrikadiert: Schaufenster in Rennes, Foto: Uwe Kammann

In deutschen Medien fand das alles Niederschlag, meist mit der Fragestellung: Ist das ein Vorgeschmack für uns, gerade mit Blick auf missglückende Integration von Migranten (sie beherrschten in Frankreich die Gewaltszenerie)? Aber wie oberflächlich das in den allermeisten Fällen beschrieben wurde, wie wenig vertiefende Kenntnis vermittelt wird, das zeigt schon nach wenigen Seiten ein neues Buch, erschienen im Halem-Verlag.

Isabelle Bourgeois

 

Frankreich entschlüsseln“ lautet der programmatische Titel, unter dem die Autorin, Isabelle Bourgeois, ein in dieser Form bislang noch nicht vorliegendes Bild des Nachbarlandes ausbreitet. Ein Bild mit vielen Einzelheiten, einer großen Fülle von Facetten, oft überraschend, nicht selten verblüffend, aber unter allen Perspektiven immer nüchtern. Dabei werden manche Betrachter zum Urteil kommen, dieses sehr ausführliche Bild sei zu schonungslos ausgefallen, wenn man den Maßstab vieler Sonntagsreden zum Thema deutsch-französische Verständigung zugrundelegt.

Aber gerade dieser sehr genaue Blick, durch eine Fülle von Quellen jederzeit belegt, macht den Wert dieses Buches aus. Erschienen ist es im Juni, noch vor den sehr gewalttätigen Ausschreitungen, besser zu bezeichnen als Krawalle. Es wäre tatsächlich äußerst hilfreich gewesen, diese Beschreibungen hätten schon vorgelegen, um sie als passgenauen Schlüssel zu benutzen; sprich, um die aktuelle Situation zu verstehen, um den Hintergrund begreifen zu können.

Für die herausragende Qualität dieser auch die Historie einbeziehenden Beschreibungen, der Analysen und der zusammenfassenden Diagnose bürgt eine Wissenschaftlerin und Publizistin, welche – mit deutsch-französischem Hintergrund und perfekt zweisprachig – seit langem in Frankreich lebt und dort viele Jahre am 1982 gegründeten CIRAC (Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporain) gearbeitet hat, das in Frankreich die Kenntnisse über Deutschland vertiefen (oder überhaupt erst schaffen) soll.

Imposante Historiengemälde von Alexis-Joseph Mazerolle, Évariste-Vital Luminais, Désiré-François Laugée, Victor Georges Clairin und Hippolyte Lucas, welche  die Vier Himmelsrichtungen und Kontinente darstellen in der ehemaligen Pariser Handelsbörse darstellen: Heute: Ort der zeitgenössischen Pinault Collection, Foto: Petra Kammann

Als Chefredakteurin eines dort erscheinenden Periodikums hat sie in äußerst vielfältiger Art wesentliche Erscheinungen und Strukturen gerade im deutsch-französischen Verhältnis beleuchtet, immer auch im Hinblick auf den Kern der jeweiligen Eigenheiten und der damit verbundenen Vergleichsmöglichkeiten. Auch als Referentin auf zahlreichen Kongressen sah sie diese Vermittlungsleistung als eine Kernaufgabe.

Ihre besonderen Kenntnisse, die weit über den normalen Arbeitshorizont eines Auslandskorrespondenten hinausgehen, finden in allen Kapiteln des Buches reichen Niederschlag. Sei es, dass es um die völlig anders geartete, hochkonzentrierte Medienlandschaft geht (wer in Deutschland kann sich ein Monopol bei Groß- und Rüstungskonzernen vorstellen?), sei es, dass es um die auf staatliche Planwirtschaft ausgerichtete Industriepolitik geht, sei es, dass eine latente Bereitschaft zu auf Gewalt ausgerichteten gesellschaftlichen Bewegungen beschrieben wird: Immer werden die inneren und äußeren Linien und Konturen mit einer staunenswerten Vielzahl von Quellen belegt.

Familienleben wird in Frankreich immer noch großgeschrieben, Foto: Uwe Kammann

Ihr gehe es darum, so die Autorin, die vielfältigen Teilaspekte der Wirklichkeiten, so wie sie in den Wissenschaften zu finden seien, in einen übergeordneten Zusammenhang zu bringen und mit den publizistischen Erfahrungsberichten und der allgemeinen Medienberichterstattung zu verknüpfen, immer auch auf der Basis einer grundlegenden Kenntnis der Kultur und des Selbstverständnisses der beiden Länder: „Die komplexe Realität des jeweiligen Partners ist umso schwieriger zu verstehen, je gegensätzlicher die Systeme beider Länder angelegt sind und je unterschiedlicher die Funktionsweise ist.

Croissants und Baguettes gehören zu den liebsten Frankreich-Klischees, Foto: Uwe Kammann

Damit kann sie gerade in Deutschland viele Augen öffnen, die sonst eher auf die üblichen Frankreich-Klischees wie Baskenmütze, Baguette und Rotwein fixiert sind. Ein besonderes Verdienst ist dabei, die speziell in der Französischen Revolution zu findenden Wurzeln herauszuarbeiten, die wesentlich dazu beigetragen hätten, dass Frankreich – anders als die Bundesrepublik – „kaum eine politische ‚Mitte‘ kennt“, sondern stark von Extremismus, von links oder rechts, geprägt sei.

Unterschiedliche Erinnerungen an die Katastrophen des Jahrhunderts, Foto: Uwe Kammann

Entsprechende „Narrative“ unterfütterten dieses Selbstverständnis. Die Revolution von 1789 sei zwar die Geburtsstunde der Menschenrechtserklärung gewesen, doch die République sei durch Waffengewalt und Massenhinrichtungen ihrer Feinde geschaffen worden. Dieses Kapital der Terrorherrschaft werde im Land „gern unter den Teppich gekehrt“, die Revolution werde verklärt. Wer anderes ausspreche, wie der ehemalige Justizminister Robert Badinter (1981-1986), breche ein Tabu; die klassische Reaktion sei das Totschweigen.

Aus diesem Blickwinkel wird auch anhand zahlreicher Beispiele erklärt, warum in Frankreich viele Intellektuelle – mehrheitlich ideologisch auf der linken Seite zu finden – mit der Ausübung von Gewalt kokettierten, überhaupt einen weitgefassten Gewaltbegriff pflegten (der diesseits des Rheins teils bewundernd aufgegriffen werde). Für Isabelle Bourgeois ist dies auch ein Grund dafür, dass die Gewaltbewegungen aus bestimmten Milieus (nicht nur der Vorstädte) breitere Unterstützung fänden und Ereignisse wie die von Studenten begonnen Aufstände im Mai 1968 auch von nichtakademischen Kreisen geteilt worden seien. So wie die Bewegung der Gelbwesten landesweit Unterstützung gefunden haben, gerade auch auf dem Land, wo sich viele Menschen in ihrem Lebensalltag von der Regierung angegriffen fühlten.

Luxusangebote in der Kapitale, Foto: Petra Kammann

Wie überhaupt ein scharfer Gegensatz zwischen der ‚Normal‘-Bevölkerung und den sich aus einem engen Kreis rekrutierenden Eliten konstatiert wird – gefördert auch durch das immer noch die Praxis beherrschende Prinzip eines allumfassenden, auf Paris konzentrierten Zentralismus. Isabelle Bourgeois belegt die damit einhergehende tiefe Spaltung mit zahlreichen statistischen Daten (die sie sorgfältig einordnet und interpretiert). Und sie veranschaulicht den enormen Stadt-Land-Gegensatz mittels einer Grafik, welche eine Frankreich von Nord nach Süd durchziehende „Diagonale der Leere“ zeigt: Landschaften und Räume, welche zunehmend unbelebt sind, während die Ballungsräume sich weiter verdichten.

Fassadenrenovierung im mittelalterlichen Viertel der bretonischen Metropole, Foto: Uwe Kammann

All dies sind Faktoren, welche die Spaltung und die antagonistische Grundstimmung in der Gesellschaft in intensiver Weise bestimmen. Und die, weil es kaum die Neigung zur Sozialpartnerschaft gebe, zu jenen millionenfach geteilten heftigen Auseinandersetzungen führten, welche weitergehende Strukturreformen verhindern oder verwässern.

Königliche Pracht: Eine der Fassaden des Louvre, Foto: Petra Kammann

Dem steht eine seit Ludwig IV. mit Inbrunst gepflegte Inszenierung staatlicher und institutioneller Macht gegenüber, wie sie auch alle Präsidenten der jetzigen Republiken gepflegt haben und mit Macron in besonderem Maße; mit der paradoxen Wirkung, dass diese oft prachtvollen, ja pompösen Inszenierungen zwar als Traditionslinie hingenommen werden, die Repräsentanten aber als selbstverliebte Herrscher und Vertreter einer abgeschlossenen Elite-Kaste abgelehnt werden.

Die Autorin fasst die Gesamtlage so zusammen: „Frankreich ist ein in tiefen Widersprüchen gefangenes Land“. Hierin liege auch – begleitet vom Wunsch der Bevölkerung, anerkannt zu werden und sich beteiligen zu dürfen – die tiefere Bedeutung der ständigen Proteste: „Sie sind oft unbeholfen und auch gewalttätig, weil man sich“, so die einschätzende Beobachtung, „nur Gehör verschaffen kann, wenn man über die Stränge schlägt, und weil es kaum anerkannte Möglichkeiten gibt, sich gestaltend einzusetzen.“

Angesichts der von der Autorin diagnostizierten Unfähigkeit, die althergebrachten Strukturen zu ändern, lautet die ernüchternde Schlussfolgerung, dass Frankreich unter den derzeitigen Bedingungen – gekennzeichnet auch durch eine weit geringere Industriequote als in Deutschland – jene Rolle in Europa einnehmen werde, welche Deutschland vor zwei Jahrzehnten verkörpert habe: die des kranken Mannes.

Frankreich – der kranke Mann Europas?, Foto: Uwe Kammann

Ob sie jetzt, zwei Monate nach dem Erscheinen des Buches – und natürlich auch unter Berücksichtigung der vorherigen vielmonatigen Schreibperiode – auch Deutschland wieder unter dem Negativ-Bild einordnen würde? Dies könnte angesichts der aktuellen Entwicklung auf unserer Rheinseite durchaus sein. Das aber bedeutet nicht, einfach die Blickrichtung umzukehren und Frankreich von der kritischen Bewertung, die ja auf einer nüchternen Analyse vieler Faktoren und Facetten beruht, zu befreien. Im Gegenteil: Nichts ist angebrachter, als gerade diese beiden für Europa so wichtigen Länder einem ständigen und vor allem nüchternen Entschlüsselungsprozess zu unterziehen.

Dieses dank der überreichen Fakten und der komplexen Darstellung überaus wertvolle Buch leistet das in Bezug auf den Hauptgegenstand: eben Frankreich, in vorbildlicher und auf seine Art einzigartige Weise. Es löst ein, was im Untertitel als Anstoß-Grundierung angesprochen ist: nämlich „Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs“ aufzugreifen, zu benennen, zu analysieren und im vergleichenden Verständnis einzuordnen. Damit ist „Frankreich entschlüsseln“ ein Standardwerk geworden. Dem eine stetige Fortschreibung zu wünschen ist.

Weiterführende Literatur:

 

Isabelle Bourgeois 
Frankreich entschlüsseln.
Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs

Das Buch ist im Halem Verlag
erschienen
und kostet 23,00 Euro

 

 

 

 

 

 

 

Christophe Braouet
Deutschland und Frankreich schaffen das.
Für eine neue Zusammenarbeit
60 Jahre nach dem Élysée-Vertrag

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Frank Baasner
Tectum,  2023, 260 Seiten, 39,00 Euro

 

 

 

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