Von Märkten und Graffiti, unheimlichen Prophezeiungen und feiner Küche
Eine Fahrradtour und ein Spaziergang durch London.
von Simone Hamm
Unendliche viele Autos quälen sich durch London. Dennoch hat Katie hat mich davon überzeugt, eine Fahrradtour durch London zu machen. Und dass, obwohl ich hier nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite fahren muss. Katie trägt einen flotten Strohhut statt eines Helms. ..
Katie zeigt, wie man in London bremst, Fotos: Simone Campbell
Sie sagt, sie kenne keine bessere Art, London zu entdecken, all die versteckten Gassen und Sträßchen. Etwa die sehr kurze Lord North Street in Central London mitten im Regierungsbezirk. Sie stammt aus dem Jahr 1722. An etlichen der kleinen, zweigeschossigen Reihenhäusern aus Backstein sind Plaketten angebracht.
Mitten im Regierungsbezirk: die kurze Lord North Street in Central London, Foto: Simone Hamm
Sie erinnern an Persönlichkeiten, die dort lebten, etwa an den Journalisten William Thomas Stead. 1849 geboren, zog er 1880 nach London, wurde berühmter Investigativjournalist. Er arbeitete under cover, wollte beweisen, wie leicht es war im viktorianischen England eine Kinderprostituierte zu treffen.
1885 kaufte er für 13 Pfund ein 13-jähriges Mädchen und veröffentlichte einen Artikel: „Maiden tribute of modern Babylon“. Er wurde angeklagt und kam ins Gefängnis.
Stead war Friedensaktivist. Und er war Spiritist. Es wurde ihm geweissagt, dass er ertrinken werde.
1912 wurde er als Sprecher zu einer internationalen Friedenskonferenz nach Amerika eingeladen und bestieg deshalb am 10. April die Titanic. Und die Prophezeiung wurde wahr. Er soll noch Kindern und Frauen geholfen haben, in die Rettungsboote zu steigen und sich dann ganz ruhig in einen Sessel gesetzt und eine Zigarre angezündet haben.
Buckingham Palace, Sitz des englischen Parlaments an der Themse, Foto: Simone Hamm
Weiter fahren wir zu einem Londoner Wahrzeichen, dem Westminster Palace, dem Sitz des englischen Parlaments. Der bekannteste Teil des Palastes ist der Uhrenturm mit der Glocke Big Ben. Als wir ankommen, schlägt sie.
Ich stehe gegenüber am anderen Ufer der Themse vor einer großen weißen Wand, auf die hunderte von roten Herzen gemalt sind: Erinnerung an die vielen Toten, die an Covid gestorben sind.
Gedenken an die Covid-Toten: Ein herzliches Gedenken, Foto: Simone Hamm
Wir fahren über die Brücke. Vorbei geht es an königlichen Palästen, etwa am Buckingham Palast, der über siebenhundert Zimmer hat. Aber niemand wohnt dort. Weiter geht es durch den dichten Verkehr zum Trafalgar Square. Auch dazu weiß Katie natürlich eine Geschichte zu erzählen.
Admiral Nelson starb bei einer Seeschlacht von Trafalgar, bei der die Briten Napoleons Flotte besiegt hatten und Großbritannien fortan zur beherrschenden Seemacht der Welt wurde.
Man wollte den Admiral nicht – wie üblich bei Toten auf See – im Meer bestatten, sondern zurück nach London bringen. Die Leiche sollte konserviert werden, sie wurde in ein Fass mit Brandy gesteckt. Der Legende nach war nur noch wenig Brandy im Fass, als es in London ankam. Es soll etliche verdächtige kleine Löcher im Fass gegeben haben. Die Matrosen wollten offenbar mit Brandy feiern, den sie abzapften.
Street Artists haben den Tunnel bemalt, Foto: Simone Hamm
Und dann fahren wir zum Abschluss ins Dunkle. In einen Tunnel unterhalb des Bahnhofs Waterloo, die Lear Street Archer. Die Wände sind über und über mit Graffiti besprüht. 2008 hatte Banksy 600 Street Artists aufgefordert, den Tunnel gemeinsam bunt zu sprayen. Seitdem ist es einer der wenigen Orte, an dem Sprayen legal ist. Katie holt aus ihrem Fahrradkorb ein paar Flaschen mit Sprühfarbe. Ich wähle eine rote und eine pinkfarbene. Und los geht’s.
Fahrradfahren und Street Art machen hungrig.
In der Maiden Lane wehen die Gerüche Indiens über die Straße. Der Duft von Zimt, Ingwer, Kardamon. Cinnemon Bazaar heißt das indische Restaurant, dass Vivek Singh gegründet hat.
Vivek Singh, Gründer des Cinnemon Bazaars, Foto: Simone Hamm
In Großbritannien ist er eine Institution, wurde ausgezeichnet, hat mehrere Kochbücher geschrieben, eines ist auf Deutsch erschienen. Er leitet vier Restaurants in London. Er lebte zunächst in Bombay, dann in anderen indischen Metropolen. Und das hat sich auf seine Kochkunst ausgewirkt, Vivek Singh nennt es: panindische Küche. Er lässt Gerichte aus ganz Indien servieren.
Weil ich wissen möchte, wie die herrlichen Currys, das scharfe rote Kingfishcurry und das sanfte gelbe Okracurry und das fruchtige grüne Jackfruchtcurry gemacht werden, denn eins schmeckt leckerer als das andere, schleiche ich mich in die Küche. Wie ich schon vermutet habe, gibt es eine eigene kleine Curryabteilung.
Ein herrliches Angebot an Currys, Foto: Simone Hamm
Der Koch Srikan ist groß und könnte auch ein indischer Schauspieler sein. Er steht im schwarzen Kochanzug in der glühendheißen kleinen Küche. Da hilft auch die Kilmaanlage nicht. Es bleibt brütend heiß. Er erklärt mir, dass die Sauce zum Okracurry auf Yoghurt und ein wenig Maismehl basiert und dass Efeublätter das Hühnchencurry verfeinern.
Bislang war der Tag in London superökologisch. Und ebenso die Anfahrt am Tag zuvor. Von Köln bin ich mit dem Zug nach London gefahren, erst mit dem Thalys, dann dem Eurostar durch den Tunnel – über uns der Kanal. Bequem und schnell, ohne langes Anstehen. In London bin ich Fahrrad gefahren oder zu Fuß gelaufen oder habe die Tube genommen.
Aber einmal will ich doch in ein schwarzes Taxi steigen. Darin hätten bequem sechs Leute Platz. Der Fahrer erzählt mir, dass er eine dreijährige Ausbildung gemacht habe. Deshalb kennen die Fahrer der typischen Londoner Taxis jeden Stein und fast jeden Grashalm in London. Und mein Hotel kennt er natürlich auch.
Die „überdachte“ Gasse, Foto: Simone Hamm
Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Chris MacNeil, einem Kanadier, der seit über zwanzig Jahren in London lebt. Treffpunkt ist Neils Yarden. Wieder in Covent Garden.
Mit Graffiti hatte die Sightsighing Tour am Vortag geendet und mit Graffiti wird diese beginnen. Wir stehen in einer winzigen überdachten Gasse. Und wir schauen auf ein Werk des Sprayern Bambi. Es ist Mary Poppins, das magische Kindermädchen. Aber es ist nicht Mary Poppins Gesicht…
Und wir schauen auf Banksys Mary Poppins, das magische Kindermädchen. Aber es ist nicht Mary Poppins Gesicht, was er gesprüht hat, sondern das von Prinzessin Diana. Daneben steht: „Tu was immer Du willst, aber lass Dich nicht erwischen!“ Ich bin erstaunt, wie viele Leute an uns vorbeigehen, den Kopf gesenkt, ohne an die Wand zu schauen. In London dreht sich alles ums Anhalten, Schauen, Betrachten, Finden. Allzu leicht kann man etwas übersehen.
Banksys Mary Poppin, Foto: Simone Hamm,
Dann führt mich Chris zur Saint Pauls Church ganz in der Nähe. Diese Kirche bedeutet ihm viel. Hier begann seine Liebe zu London. Die Kirche mit den weißen Kolumnen war das Setting für den Film. „My fair Lady“.
Vor der Kirche verkauft Eliza Doolittle Blumen. Chris hat den Film in Kanada als Kind oft gesehen. Und vor 22 Jahren, als er in London ankam, war das der erste Ort, den er besuchte. Er sagt, er hätte ihn mit geschlossenen Augen gefunden.
Chris liebt Märkte und er möchte mir unbedingt den Camden Market zeigen auf der Camden High Street, dem Londoner Künstlerviertel. Eine gute Stunde lang laufen wir, vorbei am British Museum, kleinen Grünanlagen, vielen Cafés und Pubs. Es ist ein schöner Sonnentag. Und wer kann, sitzt im Freien.
Dann kommen wir an ein altes Backsteingebäude mit hohen Fenstern, das Herz des Camden Market. Darin, davor und dahinter kleine, verwinkelte Gässchen mit kleinen Läden: vergoldete Ohrringe, britische Babystrampler mit „I Love London“, Silberringe, Ökokerzen und -seifen, marokkanische Lampenschirme.
Solche Geschäfte gibt es mittlerweile in allen Großstädten und was es dort zu kaufen gibt, dürfte meist in China hergestellt sein – wie die kleinen, roten Miniatur – Doppeldecker – Busse. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Immerhin, es gibt noch den ein oder anderen Secondhand-Laden und manche Händler verkaufen Vinylplatten.
Nachdenklichkeit auf dem Amy Winehouse- Graffiti-Gemälde, Foto: Simone Hamm
Doch einst stand Camden doch für etwas Anderes, für Aufbruch, für neue Musikstile. Es gab unzählige Schallplattenläden. Nur wenige haben überlebt. Tom Jones, Elton John und David Bowie haben hier ihre Gitarren gekauft. The Who, die Red Hot Chili Peppers, Madonna und Oasis spielten hier. Reggae, Jazz, Techno und Ska waren zu hören. Und Jazz. Eine der größten Camden Ikonen ist Amy Winehouse gewesen.
Eine Woche vor Ihrem Tod ist sie im roundhouse von Camden Market aufgetreten. Ihr ist ein großes Graffitti gewidmet. Anders als Banksy, der unbedingt unerkannt bleiben will, hat der Künstler, der Amy Winehouse auf die Wand gesprüht hat, gleich seinen Barcode dazugeschrieben.
Wir setzten uns auf die Hocker vor einen der vielen foodstalls rund um Camden Market, essen Fish und Chips und trinken Bier. Das ist ein guter, bodenständiger Ausklang meiner Londonreise.