Vermeer im Amsterdamer Rijksmuseum
Die Schönheit und die Stille
von Simone Hamm
So etwas hat es in der Kunstwelt noch nie gegeben: Drei Tage nach Beginn des Vorverkaufs war keine einzige der 200.000 Eintrittskarten mehr zu haben. Das Amsterdamer Rijksmuseum stockte das Kontingent auf 450.000 Karten auf, verlängerte die Öffnungszeiten. Bis 23 Uhr bleibt die Ausstellung geöffnet, am letzten Ausstellungswochenende sogar bis 2.00 Uhr nachts. Auch diese Tickets waren sofort weg. Die letzten Optionen auf Kaufkarten sind dann verlost worden – unter Aufsicht eines Notars. Für alle die, die keine Karte ergattert haben, bietet das Rijksmuseum auf seiner Website eine digitale Museumstour an.
Johannesn Vermeer, Das berühmte Mädchen mit dem Perlohrring , 1664–67, Mauritshuis, Den Haag. Bequest of Arnoldus Andries des Tombe, Den Haag
Was gibt es zu sehen? 28 Gemälde. Jedes ein Meisterwerk. 28 von insgesamt 37 überlieferten Gemälden von Jan Vermeer. Sie kommen aus einer New Yorker Privatsammlung und aus 14 Museen in New York, Washington, Tokio, Florenz, Berlin, Dresden, Frankfurt, Dublin, Edinburgh, Den Haag. Nie zuvor waren so viele Vermeers in einem Museum zu sehen. Etliche wurden zum erstmal ausgeliehen. Sie werden in zehn großen Räumen gezeigt, auf kostbaren burgunderfarbenen, tiefgrünen oder nachtblauen Samtvorhängen, die jeden Laut verschlucken sollen und das hervorheben, was Vermeers Gemälde auszeichnet: Innigkeit und Stille.
Johannes Vermeer, 1658-59, Ansicht von Delft, Mauritshuis, Den Haag
Jeweils nur zwei oder drei Bilder hängen in einem Raum. Sie sind nicht chronologisch geordnet, sondern inhaltlich. So sind etwa zwei Stadtansichten von Delft in einem Raum zu sehen. Mit ihnen beginnt die Ausstellung: „Ansicht von Delft“, die Hafenfront seiner Heimatstadt Delft und deren Spiegelung im Wasser und „die kleine Straße“, in der seine Tante gelebt hat. Als Marcel Proust die „Ansicht von Delft“ in einer Ausstellung 1921 gesehen hat, war er so überwältigt, dass er ohnmächtig geworden sein soll. Für ihn war es das schönste Bild der Welt.
Meist hat Vermeer Personen in Innenräumen gemalt. Manche schauen durch halbgeöffnete Fenster nach draußen und sehen etwas, das wir nicht sehen. „Der Kartograph“ etwa. Was mag er erahnen?
Die Faszination dieser Bilder ist bis heute ungebrochen. Es geht ein Zauber von ihnen aus, den letztlich kein Kunsthistoriker, kein Wissenschaftler erklären kann. Vermeer Bilder sind meist klein – und das zu einer Zeit, als Rembrandt und Rubens riesige Gemälde schufen. Sie wirken fast magisch und sehr intim.
Johannes Vermeer, 1662-64, Frau in Blau , die einen Brief liest Rijksmuseum, Amsterdam. On loan from the City of Amsterdam (A. van der Hoop Bequest)
„Im 17. Jahrhundert vermochte niemand so überzeugend Intimität auf die Leinwand zu bringen wie Johannes Vermeer. Die Illusion ist so perfekt, dass es wirklich so wirkt, als würdest Du mitten in diesem Zimmer stehen – gemeinsam mit der Person, die gemalt wurde“, erklärte Tack Diabits, der Generaldirektor des Rijksmuseums.
Vermeer zeigt Menschen, meist Frauen bei der Arbeit. Konzentriert klöppelt die junge Frau, wiegt eine andere junge Frau das Gewicht ihres Schmucks, schenkt die Magd Milch in eine Schüssel. Die Betrachter halten den Atem an, so, als wollten sie die schönen jungen Frauen nicht stören. Die Spule der Klöpplerin soll nicht verrutschen, der Schmuck nicht von der Wage fallen und die Magd soll keinen Tropfen verschütten.
Vermeer macht aus den Handy-Fotografierenden andächtige, aufmerksame Zuseher, nachdenklich Betrachter.
Johannes Vermeer, 1662-64, Mädchen am Spinett, The National Gallery, London
Mehrmals hat Vermeer Musikerinnen gemalt, Mädchen am Spinett. Und immer wieder Briefschreiberinnen, Briefleserinnen. Sie alle umgibt ein Geheimnis. Wem schreiben sie? Ist es ein Liebesbrief, wie ein Cupido an der Wand vermuten lässt, ein Brief an den Mann in der Ferne, wie eine Landkarte im Hintergrund andeutet, oder eine kleine Note an einen heimlichen Geliebten, die die Magd überbringen soll?
Vermeers Spiel mit Licht und Schatten ist legendär: Niemand beherrscht es so gut wie er. Er verstand sich auf Lichteffekte. So hat er zwischen die blaue Jacke der schwangeren Briefleserin und der Wand eine kleine, erst auf den zweiten Blick sichtbare helle Linie gezeichnet. So wirkt es, als leuchte die Leserin aus sich heraus.
Gekonnt wählte er die Farben an: Die Spektroskopie ergaben, dass Vermeer – als einziger Maler seiner Zeit – das Pigment „Grüne Erde“ benutzte, als leichten Grünstich für die Partien der Schatten auf der Haut junger Frauen.
Johannes Vermeer, Der Kartograph, Städel Museum, Frankfurt
Alle Bilder sind nach neuesten Erkenntnissen untersucht worden. „Dienstmagd mit Milchkrug etwa“. Eine Infrarot-Spektroskopie zeigte, das Vermeer ursprünglich ein Wandregal sowie auf dem Küchenboden einen Feuerkorb gemalt hat. Er übermalte diese Gegenstände. Die Magd mit dem Milchkrug in der blauen Schürze steht vor einer weißen Wand. Nichts lenkt von ihrer Tätigkeit ab. Auch kein anderes Bild. Dieser Raum ist ganz allein ihr gewidmet.
Johannes Vermeer, Das Mädchen mit der Milchkanne , 1658-59, Rijksmuseum, Amsterdam. Purchased with the support of the Vereniging Rembrandt
Manchmal blicken Vermeers junge Frauen den Betrachter gerne gerade heraus an. „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“, „Das Mädchen mit dem roten Hut“, „Das Mädchen mit der Flöte“, das Mädchen aus der „Unterbrochenen Musikstunde“. Das gibt ihnen eine Unschuld und lässt die Betrachter sich so fühlen, als seien sie ungebetene Zuschauer, geradezuVoyeure.
Bei jedem seiner Bilder möchte man verweilen, jedes Detail des detailversessenen Vermeer aufsaugen: das Weinglas, die Struktur der Tischdecke, den Brotkrusten. Und immer wieder Geheimnisse entschlüsseln, die sich doch nicht entschlüsseln lassen.
Noch bis zum 4. Juni
und jederzeit auf der Website des Museums:
Trost für alle, die keine Karte ergattern konnten:
Ein ausführlicher Katalog „Vermeer“ ist im Belser Verlag erschienen.