Walter-Dirks-Preis 2023 an Christiane Florin
„Sagen, was ist“ und „Bleib wild und gefährlich!“
Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Am Tag der Königskrönung in London gab es im Frankfurter Bartholomäusdom, in dem einst die deutschen Kaiser gekrönt wurden, Ausgezeichnetes: Hier wurde Christiane Florin mit dem Walter-Dirks-Preis 2023 geehrt. Die Redakteurin für „Religion und Gesellschaft“ beim Deutschlandfunk, eine streitbare Christin und eine ebenso kreative wie investigative Journalistin, stellte auch hier mit viel Humor, Ironie und Herz die anstehenden Fragen der Zeit wie die Frauenrechte in der Kirche zur Diskussion, immer nach dem Motto, das über den engagierten Katholiken Walter Dirks auf den Punkt gebracht wurde: „Sagen, was ist.“
Große Freude im Bartholomäusdom bei der Überreichung des Walter-Dirks-Preis 2023 durch Haus-am-Dom-Chef Prof. Joachim Valentin und den Juryorsitzenden Dr. Heijo Manderscheid an die Preisträgerin Dr. Christiane Florin, Foto: Petra Kammann
Der Walter-Dirks-Preis
wird alle zwei Jahre von der Katholischen Akademie Rabanus Maurus und dem Verein Haus der Volksarbeit vergeben. Der im wahrsten Wortsinn schwergewichtige Preis, der traditionell die Gestalt eines irdenen Hahns hat, ist mit 2500 Euro dotiert. Die Preisverleihung ist jeweils eingebettet in das jährlich stattfindende Gedenken an den katholischen Publizisten, Schriftsteller und Journalisten Walter Dirks (*1901†1991), einen der prägendsten Intellektuellen der Bonner Republik.
Vor der Preisverleihung im Bartholomäusdom am Samstag, 6. Mai 2023, hatte in diesem Jahr vorab der Walter-Dirks-Tag zum Thema „Frauenrechte in der Kirche“ im Haus am Dom stattgefunden. Die Preisverleihung wurde eingeleitet durch ein musikalisches „Abendlob“ mit der Lektorin Marianne Brandt, die eine Passage aus der Apostelgeschichte 16,11-16,40 las und der Kantorin Ulrike Gerdiken und wurde musikalisch umrahmt von den Improvisationen des Saxophonisten Markus Lihocky und Kompositionen des Organisten Peter Reulein.
Die Jury-Begründung
Weil Christiane Florin wie Walter Dirks für Geschlechtergerechtigkeit und weltweite Gerechtigkeit, insbesondere in Fragen der sexuellen Gewalt in der Kirche, eintrete und wie er eine Identifikationsfigur kritischer Gruppierungen im deutschen Katholizismus sei, sei sie zur Preisträgerin 2023 ernannt worden.
v.l.n.r.: Die Jury-Mitglieder Prof. Joachim Valentin , Julia Wilke-Henrich Dr. Hejo Manderscheid bei der Preisverleihung an Dr. Christiane Florin im Bartholomäusdom, Foto: Petra Kammann
„Die Dirks-Jury ehrt somit eine Frau und Christin, die seit Jahrzehnten für die römisch-katholischen Machtverhältnisse und die Opfer dieser Machtverhältnisse sensibilisiert. Sie tut dies mit Spirit und Verve und einem gutem Journalismus. Sie tritt ein für eine befreiende, diakonische Kirche, in der die Geltung und Umsetzung aller Menschenrechte grundlegend ist“, heißt es in der Begründung der Jury.
Joachim Valentin (Haus am Dom) überreichte ihr den aus Ton gebrannten krähenden Hahn, der sie weiter begleiten möge. In Florins spitz formulierter und sprachspielerisch angelegter Dankesrede, die wir anfügen, unter dem Motto „Lassen Sie mich nicht lügen! Proletin und Prophetin“, kam auch ihre rheinische Herkunft, ihr Humor und die Bodenhaftung zum Ausdruck. Gleichwohl sagte sie in aller Klarheit: „Wirklichkeit ist konkret. Nicht zu sagen, was ist, fügt Menschen konkretes Leid zu.“ Dabei zitierte sie Julia Sander vom Betroffenenbeirat Freiburg, die in einem Interview erklärte: ,Ich weiß, was es bedeutet, zu wissen, wie etwas war. Das macht es nicht besser oder schlechter, aber dann kann ich es verarbeiten. Wenn eine Frage nicht aufgeklärt wird, dann kann ich es nicht verarbeiten.“ Da bleibt wohl noch eine Menge zu tun.
Krönung der Veranstaltung war neben Florins eigener Dankesrede mit autobiografischen Bezügen und einem starken Appell an die selbstbewusste Meinungsfreiheit auch die gekonnte metaphorische Laudatio der Erfurter Theologin Prof. Dr. Julia Knop, aus der wir unten Auszüge dokumentieren. Beim anschließenden Empfang im Haus am Dom hob Prof. Joachim Valentin noch einmal die mutige Entscheidung der unabhängigen Jury hervor.
Die Preisträgerin
Christiane Florin wurde 1968 in Troisdorf bei Köln geboren. Sie ist verheiratet, Mutter zweier erwachsene Kinder und lebt in Bonn.
Kritik, Esprit, gepaart mit einer guten Portion rheinischem Humor zeichnen die Publizistin Christiane Florin aus, Foto: Petra Kammann
Die promovierte Politikwissenschaftlerin arbeitete als Journalistin von 1996 an für die christlich ausgerichtete Wochenzeitung Rheinischer Merkur.
Ab 2007 leitete sie das Feuilleton dieser Zeitung, die im Dezember 2010 als Beilage Christ und Welt der Wochenzeitung Die Zeit fortgeführt wurde. Christiane Florin war bis Ende 2015 Redaktionsleiterin bei Christ und Welt.
Seit Januar 2016 gehört sie der Redaktion „Religion und Gesellschaft“ beim Deutschlandfunk an. Ferner ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Bonn im Fachbereich Medienpolitik und Medienkultur.
Im Mai 2017 veröffentlichte Christiane Florin die breit beachtete Streitschrift „Der Weiberaufstand. Warum Frauen in der Kirche mehr Macht brauchen“, in 2020 dann das aufrüttelnde Buch „Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“. Ihr Blog lautet: „Frauen! Sind! Wild! Und! Gefährlich! Ein Blog unter: www.weiberaufstand.com
2001 erhielt Christiane Florin den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik; 2019 den Maria-Grönefeld-Preis der Maria-Grönefeld-Stiftung; 2021 wurde sie mit dem zweiten Preis als Kulturjournalistin des Jahres ausgezeichnet.
Dankesrede Florin Lassen Sie mich nicht lügen
Mürbeteig und Sahne. Auszüge aus der Laudatio von Julia Knop
„Dass Christiane Florin, diese (wie es in der Begründung der Jury heißt) „streitbare Christin“, „mutige[.] Publizistin[.]“ und „kritische Aufklärerin“ kirchlicher Machtverhältnisse, heute den Walter-Dirks-Preis erhält, ist großartig. Es ist eine wohl verdiente Auszeichnung für Christiane Florin und ein starkes Signal für engagierten und sorgfältigen Journalismus im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft.
Laudatorin Prof. Dr. Julia Knop
Christiane Florin ist in der katholischen Welt wohlbekannt. Bekannt dafür, Klartext zu sprechen. Denn „das Bemühen um Gerechtigkeit zeigt sich unter anderem darin, dem Geschehenen sprachlich und gedanklich gerecht zu werden“ (Trotzdem, 2020, 74).
Für die Redakteurin im Ressort Religion und Gesellschaft beim Deutschlandfunkt ist die römisch-katholische Kirche eines ihrer Hauptsujets. Ihr Fokus: Macht. Dazu gibt es in der Kirche ja viel zu sagen. Christiane Florin hat das früher getan als die meisten anderen.
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Sie hat Rücktrite gefordert, lange bevor das Wort „Lernkurve“ in Mode kam, das sich jetzt als so ungeheuer nützlich erweist. Denn Rücktrite sind bei Lernkurven kontraproduktiv. Die Lernkurve betont Verantwortung und Zuständigkeit des Amtsinhabers – um den Preis allerdings, dass kirchliche Verbrechen Lernanlässe für kirchliche Führungskräfte werden.
Christiane Florin hat auch die katholische Verbindung von Idealisierung und Verachtung der Frauen „Diskriminierung“ genannt, lange bevor Katholikinnen und Theologinnen das überhaupt zu denken wagten. Den Frauen, besser gesagt: den Weibern, widmet sie „knallharte Recherchen“ (ebd., 138).
Da Interviews mit Kirchenmännern dazu wenig ergiebig sind, schreibt sie selbst darüber. Und liest, vor vollen Häusern. Über den obersten Hirten in Rom, der über den Genius der Frau sinniert, und den Seminaristen in Zaitzkofen, mit dem sie über die Frauenordination und er über Goldfische sprach.
Sie spricht Klartext in der schlimmsten aller Fragen: der „Frauenfrage“. Sie bezeichnet Kirchenmänner, die definieren, was Kirchenfrauen sind und dürfen, als „Platzanweiser im Schöpfungsplan“ (Weiberaufstand, 2020, 66), und spottet: „Wenn Frauen sich an der Basis breitmachen, dann bleibt Männern nur die Spitze. Hierarchie wird Therapie“ (ebd., 16).
Die Geschichte des römisch-katholischen Nein zur Frauenordination, das immer stärker bewehrt wird, fasst sie lapidar so zusammen: „Frauen waren zu erst zu dumm, dann zu schwach und schließlich zu fein für das Priesteramt. Jetzt sind sie zu gefährlich für die Weltkirche“. „Der Ausschluss hält die Weltkirche zusammen, … Exklusion ist ein Wesensmerkmal (ebd., 92). Das ist natürlich frech – aber ich kann nicht widersprechen.
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Christiane Florin greift die lästigen Themen auf, lästig v. a. für die Mächtigen in dieser Kirche, die amtierenden Bischöfe, die öffentlich viel lieber anders aussähen. Als gute Bischöfe, die im Unterschied zu ihren Vorgängern auf der richtigen Seite stehen. An der Seite der Opfer. Und für rückhaltlose Aufklärung. Die sich gerade jetzt, in der Krise, nicht aus der Verantwortung stehlen.
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Christiane Florin nervt trotzdem weiter. Das „Danke, Danke, Danke“ an die Frauenversteher in weiß, rot und violet kommt ihr, wenn sie journalistisch unterwegs ist, zwar nicht über die Lippen – publizistisch aber ganz locker-ironisch durch die Tastatur. Aus dem Weiberaufstand, viel gelesen, wenn auch kaum geprobt, ist ein fulminanter Blog erwachsen – ein wunderbares Therapeutikum für geschundene katholische Seelen, grimmig und gewaltig. Lesen hilft!
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Christiane Florins Job ist es, kritisch auf „Religion und Gesellschaft“, also auch auf die römisch-katholische Kirche in einer demokratischen Gesellschaft, zu schauen. Das ist nicht nur Profession, sondern auch Begabung, ihr Charisma, würde man auf katholisch sagen, Beruf also und Berufung. Klartext zu sprechen ist die Macht der Journalist:innen und Publizist:innen. In demokratischen Gesellschaften sind sie die vierte, in der Kirche – mangels Gewaltenteilung – die zweite Macht.
Kein Wunder, dass ihre Berichterstatung, ihre Recherchen, Interviews und Kommentare über die Kirche in der Kirche nicht von allen geschätzt, von manchen gefürchtet und diskreditiert werden. Sie arbeite sich ab, heißt es dann mitleidig-psychologisierend, oder: „Die hat eine Agenda!“ Sie arbeitet sich nicht ab, sie arbeitet, erwidert sie darauf. Denn das machen Journalist:innen so. Sie hat keine Agenda, aber sie ergreift Position. Wo es um Macht und Ohnmacht, Ermächtigung und Erniedrigung geht, steht investigativem Journalismus ein advokatorische Moment gut an.
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Christiane Florin ist Politologin und Journalistin – und katholische Muttersprachlerin. Ein perfektes Topping: Professionell kritisch und fachlich versiert, das ist wie Mürbeteig und Sahne. Und obenauf, gleichsam eine Erdbeere, die Katholizität des Weibes. Sie kennt den Laden von innen. Sie weiß, wovon sie redet. Und mit wem.
Ihre Fragen sind gut, scharfkantig und präzise, zielgenau und immer bestens vorbereitet. Das kann man von den Antworten nicht immer sagen. Der verdutzte Einsilber, den sie am 24.9.2018 von Kardinal Marx bekam, ist legendär. Sie erinnern sich: Das war die Pressekonferenz nach der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, in der die MHG-Studie präsentiert worden war.
Christiane Florin wollte vom damaligen Vorsitzenden wissen, ob denn angesichts dieser Ergebnisse keiner der knapp 70 Kollegen, teils Jahrzehnte lang im Dienst, über Rücktrit nachgedacht habe. In der wirklichen Welt ist das eine überaus naheliegende Frage – doch sie hat die Herren kalt erwischt. Der Kardinal, eigentlich einer von der unerschrockenen, verblüffungsresistenten Sorte, brachte nur ein überraschtes „Nein“ heraus (mit hörbarem Fragezeichen: Wieso um Himmels Willen Rücktrit?) – und dann war die Pressekonferenz zuende. Die Antworten lassen also bisweilen zu wünschen übrig. Aber ihre Fragen haben es in sich.
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Christiane Florin spricht Klartext. Gegenüber Bischöfen – und gegenüber den so genannten „Laien“. Sogar gegenüber den Laiinnen, den Mitweibern. Das macht sie doppelt unbequem. Es ist eine Zumutung. Allerdings eine heilsame und eine, die bestens verständlich daherkommt. Sie kann nämlich nicht nur nüchterne Analyse und scharfsinnige, präzise Kommentare. Sie kann auch den „Erklärbär-Tonfall des Kinderfernsehens“ (ebd., 8). In diesem Tonfall erklärt sie uns die Sonderwelt römisch-katholische Kirche. Ihre, unsere Welt. Elementarisierung hilft dabei.
Denn eigentlich ist es ganz simpel, nämlich so: In der katholischen Kirche gibt es zwei Spezies, Hirten und Schafe. Normalerweise bleiben Schafe Schafe. Einige wenige, männliche, berufene, mutieren zu Hirten. Sie waren mal Teil der Herde, stehen ihr aber jetzt gegenüber. Die Wandlung vom Schaf zum Ex-Schaf geschieht in dem Moment, in dem „ein hoher Hirte einem werdenden Hirten die Hand auflegt“ (ebd., 7).
Danach ist alles anders. Dieser Unterschied zwischen Schafen und Ex-Schafen ist wesentlich, sagen die Hirten. Der Wechsel in die Führungsebene ist kein bloßer Rollenwechsel, Hirten sind keine Leithammel. Sie haben einen regelrechten Gattungssprung hinter sich. Sie haben den Zaun übersprungen, hinter dem sie früher nästen. Aus Vierbeinern wurden Zweibeiner, aus Herdentieren Führungskräfte. Wem das ontologische Upgrade vom Schaf zum Hirten theoretisch nur schwer zugänglich ist (und das ist dogmatisch ja wirklich ambitioniert), dem stellt es die Weihe eindrücklich vor Augen: „Der ist keiner mehr von euch, der passt jetzt auf euch auf“ (ebd., 7f).
„Hirten wissen durch die Weihe immer, was gut ist für die Herde“ (ebd., 8). Authentische Interpretation nennt man das dogmatisch, wobei authentisch nicht glaubwürdig oder wahrhaftig bedeutet, sondern richtig, wahr und gut. Hirten interpretieren authentisch Bibel und Tradition, Liturgie und Gesetz, Schöpfungs- und Erlösungsordnung. Und sich selbst. Schafe tun das nicht. Die römisch-katholische Kirche ist die einzige, die ihre Deutungsmacht und Leitungsgewalt dogmatisiert hat, also Widerspruch und Reform strukturell ausgeschlossen hat. Das war am 18.7.1870, als die Oberhirten, übrigens per Mehrheitsbeschluss, den Primat des obersten Hirten in Lehre und Leitung zum Glaubensgut erhoben haben. Eine solche Definition schließt Diskurs ab, nicht auf. Noch eine Spule Draht mehr im Zaun, bildlich gesagt. „Manche Schafe denken trotzdem, sie wüssten es selbst besser [als die Hirten] und blöken. Das stört die Hirten. Manche nicken milde [lass sie spielen], manche lassen den Hund von der Leine“ (ebd., 8).
Das Wort „Hirtensorge“ macht gut klar, was in der Realität mindestens ambivalent ist. Das Machtgefälle zwischen Hirt und Herde wird zur Obhut, pastorale Leitung wird zur Care-Arbeit. Dass kein Hirte, sondern ein Mietling oder Räuber an der Spitze der Herde stehen könnte, ist nicht vorgesehen. Dass vielleicht das Bild als Ganzes schief ist, auch nicht.
Der bitter-süße Erklärbär-Tonfall von Christiane Florin ist bestechend klar. Als Lach- und Sachgeschichte klingt das natürlich nicht so heilig wie gewohnt, aber es trifft die soziale Realität kirchlicher Machtverhältnisse sehr genau. Es ist auch keine Persiflage, sondern konsequente Aufnahme und Weiterführung des Hirtensprechs. Ohne metaphorische Brechung, die in der Bibel die Regel, in Kirche aber auch die Ausnahme ist. Christiane Florin sagt nicht: Mit der Kirche ist es wie …, sondern: In der Kirche ist es so!
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Von Hirten ist in der Kirche häufig die Rede. Von Schafen kaum. Erst recht nicht ohne metaphorische Brechung. Vermutlich, weil dann wirklich jede:r merkt, wie schräg die pastorale Szenerie in urbanen säkularen Welten ist. Und weil die Identifikationsmöglichkeiten so ungleich verteilt sind. Hirt zu sein ist atraktiv. „Guter Hirt“ erst recht. Das klingt so biblisch. Und so sehr nach Jesus.
Aber ein Schaf? Das will doch kein Mensch. Und welches Schaf überhaupt? Eines mit links- oder mit rechtsgebürstetem Fell? Ein zickiges oder ein bockiges? Ein fettes oder ein mageres? Kein Mensch will ein dummes und treudoofes Schaf sein, nicht einmal beim Krippenspiel. Keines, dem das Fell über die Ohren gezogen wird. Auch kein verlorenes oder schwarzes Schaf, nicht einmal dann, wenn es am Ende des Stücks vom guten Hirten wiedergefunden wird. Dickfellig sind ohnehin nicht mehr viele.
Und manche katholische Schafe, die ihr Leben lang tapfer gemeckert haben, sind still geworden. Oder durch den Zaun gebrochen. „Ständiges Dagegenblöken macht heiser – und einsam“ (ebd., 71). Die Haut ist dünner geworden, das Fell auch. Der Stall ist eng und muffig geworden. Und die Herde wärmt nicht mehr. Der Makraméefaden reißt.
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Christiane Florin hat ein Herz für katholische Schafe. Nicht aus maternalistischer Hirtinnensorge heraus, eher als Mitschaf. Denn katholisch sozialisiert, besser und in ihren Worten gesagt: katholisch konditioniert ist sie auch. Sie kennt die vielen Möglichkeiten, wie Katholik:innen sich ihre Kirche schönreden. Die kennen wir alle. Die heilen Welten und wohligen Nischen in der Jugend- und Verbandsarbeit, die nüchterne Resignation und den Pragmatismus erwachsener Katholik:innen, die innere Emigration der Hauptamtlichen. Sie kennt das tapfere Aber-die-Kirche-tut-doch-auch-viel-Gutes und das eigen-sinnige Verändern-kann-ich-nur-von-innen. Sie kennt diese störrische Anhänglichkeit an die heilige Mutter Kirche, die das Fass des Erträglichen einfach nicht überlaufen lassen kann. Sie kennt den Hoffnungstrotz um jeden Preis, der hilft, die rote Linie immer weiter zu verschieben, um sie nicht überschreiten zu müssen. Letztes Jahr hat sie sie doch überschritten. Dafür gebührt ihr Respekt.
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Christiane Florin hat ein Herz für Schafe, aber sie streichelt sie nicht. Es ist auch ihr Verdienst, wenn Katholik:innen als einzelne und in Verbänden endlich anfangen, Versagen, Verbrechen und Verant- wortung nicht mehr nach oben wegzudelegieren. Zwischen Tätern und Betroffenen, Vertuschern und Bystandern stehen eine ganze Menge frommer Leut‘. Da ist keine:r außen vor.
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Christianes Texte sind in der Tat oft eine Zumutung. Aber sie schimpft nicht von der Seitenlinie. Sie übt „Anklage und Selbstanklage“ (Trotzdem, 2020, 17), Aufklärung und Selbstaufklärung, erstere in ihrer Rolle als Politologin und Journalistin, letztere als Autorin und Bloggerin.
Authentisch dabei – diesmal im normalen Sinne: echt, lebendig und wahrhaftig – finde ich, wie viel O-Ton in ihren Blogs und Bücher steckt. Wie nüchtern sie ihre eigene Entwicklung (vulgo: ihre Lernkurve) erzählt: „Ich war nicht kritisch genug, der Kirche meiner Jugend so viel kriminelle Energie zuzutrauen“ (ebd., 17). „Ich bin spät wach geworden“ (ebd., 72). „Ich wurde hellhöriger“ (ebd., 168). Und, der letzte Satz in „Trotzdem“: „Ich laufe bleibend davon“ (ebd., 173).
Ich kann diese Schrite, dieses allmähliche Aufwachen und Aufmerken, gut nachempfinden. Es sind mühsame, entlarvende, beschämende Schrite. Einmal gegangen, gibt es kein Zurück. Christiane Florin war mir dabei Jahre voraus – und dadurch oft Patin, ohne es zu wissen. Umso mehr freut es mich, dass ich ihr heute im Rahmen dieser Preisverleihung im Namen vieler dafür danken darf.
Von Schaf zu Schaf steht mir kein Hirtengruß zu Gebote. Deshalb sage ich jetzt nicht: „Gottes Segen für Ihren wertvollen Dienst, in Christo verbunden“, sondern einfach: Danke, Christiane Florin, und lila Glückwunsche zum Walter-Dirks-Preis 2023!
Bleib wild und gefährlich!