Neue Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim: Anne Weber
Als 47. Amtsinhaberin tritt die in Offenbach geborene deutsch-französische Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber die Nachfolge von Anja Kampmann an und wird für ein Jahr im Stadtschreiberhaus in Bergen wohnen und arbeiten können. Außer dem Wohnrecht erhält sie ein Preisgeld von 20.000 Euro.
Anne Weber, Foto: ©Thorsten Greve
Das symbolische Amt des Stadtschreibers von Bergen-Enkheim wurde erstmals 1974 verliehen und ist seitdem von zahlreichen anderen Städten in Deutschland aufgegriffen worden. Der Stadtschreiberpreis wird von einer Stadtschreiberjury vergeben, der sowohl Fachjuroren als auch Bürgerjuroren angehören.
Namhafte Amtsinhaber waren nach Wolfgang Koeppen etwa Peter Härtling, Jurek Becker, Günter Kunert, Ulla Hahn, Eva Demski, Katja Lange-Müller, Robert Gernhardt, Herta Müller, Arnold Stadler, Katharina Hacker, Friedrich Christian Delius, Thomas Lehr und Marcel Beyer.
„Anne Weber ist gleichzeitig eine deutsche und eine französische Schriftstellerin. Sie schreibt in beiden Sprachen, und sie übersetzt in beide Richtungen (etwa Wilhelm Genazino und Peter Handke, Marguerite Duras und Pierre Michon), dies zeigt ihre außergewöhnliche sprachliche Sensibilität sowie ihr Gespür für Zwischenräume und Bedeutungshöfe.
Anne Webers Texte sind hintergründige und existenzielle Spiele mit der Wirklichkeit, sie bringen Bewegung in scheinbar Festgefügtes, Verbrieftes oder Vergangenes. Damit öffnet sie den Raum für ein dezidiert gegenwärtiges Verständnis von Literatur. Es beschränkt sich nicht auf das Erfinden, sondern sucht nach geeigneten Wegen, mit Wissen und Erfahrungen umzugehen.
Es ist ein intellektuell flirrendes, zwischen Ratio und subjektiver Selbstbefragung changierendes Schreiben in französischer Tradition“, heißt es in der Begründung der Jury für die Wahl der neuen Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim.
Herausragend ist unter anderem „Ahnen“ (2015), Webers literarisch-essayistische Recherche über ihren Urgroßvater. Sie nähert sich diesem geheimnisumwobenen Vorfahren in einer Form, die sie zu einer ganz eigenen Gattungsbezeichnung führt: einem „Zeitreisetagebuch“. Und auch in ihrem jüngsten, wirklich als Epos angelegten Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ (2020), verbinden sich Form und Inhalt zu einer immer wieder aufs Neue überraschenden ästhetischen Erkenntnis.“
Der Literaturpreis wird voraussichtlich am Freitag, 30. August, um 19 Uhr, auf dem Berger Marktplatz verliehen. Die noch amtierende Stadtschreiberin Anja Kampmann wird eine Abschiedsrede halten und den Schlüssel für das Stadtschreiberhaus symbolisch an ihre Nachfolgerin übergeben, die sich mit einer Antrittsrede dem Publikum vorstellen wird.
Veranstalter des Stadtschreiberfestes sind die Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim und der Ortsbeirat Bergen-Enkheim.
Biographie Anne Weber
Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie übersetzt ins Deutsche (u.a. Pierre Michon, Georges Perros und Marguerite Duras) und ins Französische (u.a. Wilhelm Genazino, Sibylle Lewitscharoff).
›Luft und Liebe‹ (2010), ›August. Ein bürgerliches Puppentrauerspiel‹ (2011), ›Tal der Herrlichkeiten‹ (2012) sowie ›Ahnen<. Ein Zeitreisetagebuch‹ (2015). Zuletzt erschien von ihrAnnette, ein Heldinnenepos. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis. Ihre Bücher schreibt Anne Weber sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch.
Werke in deutscher Sprache
- Ida erfindet das Schießpulver. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999
- Im Anfang war … Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000
- Erste Person. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002
- Besuch bei Zerberus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004
- Gold im Mund. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005
- Luft und Liebe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
- August. Ein bürgerliches Puppentrauerspiel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
- Tal der Herrlichkeiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012,
- Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
- Kirio. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017
- Wo in weiter Ferne etwas Unergründliches zu sehen ist. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2017, St. Ingbert 2017
- Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Berlin 2020
- Hörspiel: Regen. Regie: Christine Nagel. HR/Deutschlandradio Kultur. 2016
Werke in französischer Sprache
- Ida invente la poudre. Le Seuil, Paris 1998
- Première personne. Le Seuil, Paris 2001
- Cerbère. Le Seuil, Paris 2003
- Cendres & métaux. Le Seuil, Paris 2006
- Chers oiseaux. Le Seuil, Paris 2006
- Tous mes vœux. Actes sud, Arles 2010
- Auguste – tragédie bourgeoise pour marionnettes. Le Bruit du temps, Paris 2010
- Vallée des merveilles. Le Seuil, Paris 2012
- Vaterland, Le Seuil, Paris 2015
- Kirio, Le Seuil, Paris 2017
Übersetzungen ins Französische
- Jacob Burckhardt: Démétrios, le preneur de villes. Paris 1992
- Eleonore Frey: État d’urgence. Fayard, Paris 1992
- Wolfgang Schivelbusch: La nuit désenchantée. Le Promeneur, Paris 1993
- Hans Mayer: Walter Benjamin. Le Promeneur, Paris 1995
- Birgit Vanderbeke: Guerre froide. Stock, Paris 1997
- Birgit Vanderbeke: Alberta reçoit un amant. Paris 1999
- Jakob Arjouni: Un ami. Fayard, Paris 2000
- Corinne Hofmann: La Massaï blanche. Plon, Paris 2000
- Melissa Müller: La vie d’Anne Frank. Plon, Paris 2000
- Sibylle Lewitscharoff: Pong. Stock, Paris 2000
- Birgit Vanderbeke: Devine ce que je vois. Stock, Paris 2000
- Elke Schmitter: Madame Sartoris. Actes Sud, Arles 2001
- Lea Singer: Le maître du goût. Plon, Paris 2001
- Wilhelm Genazino: Un parapluie pour ce jour-là. Christian Bourgois éditeur, Paris 2002
- Norbert Lebert: Car tu portes mon nom. Plon, Paris 2002
- Sibylle Lewitscharoff: Harald le courtois. Le Seuil, Paris 2002
- Erich Maria Remarque: Dis-moi que tu m’aimes. Plon, Paris 2002
- Wilhelm Genazino: Un appartement, une femme, un roman. Christian Bourgois éditeur, Paris 2004
- Wilhelm Genazino: La stupeur amoureuse. Christian Bourgois éditeur, Paris 2007
- Wilhelm Genazino: Léger mal du pays. Christian Bourgois éditeur, Paris 2008
- Wilhelm Genazino: Le bonheur par des temps éloignés du bonheur. Christian Bourgois éditeur, Paris 2010
- Marie-Luise Scherer: L’accordéoniste. Christian Bourgois éditeur, Paris 2010
- Wilhelm Genazino: Une petite lumière dans le frigo, Christian Bourgois éditeur, Paris 2012
- Peter Handke: Une année dite au sortir de la nuit, Le Bruit du temps, Paris 2012
Übersetzungen ins Deutsche
- Pierre Michon: Leben der kleinen Toten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003
- Marguerite Duras: Hefte aus Kriegszeiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007
- Pierre Michon: Rimbaud der Sohn. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
- Georges Perros: Luftschnappen war sein Beruf. Matthes & Seitz, Berlin 2012
- Éric Chevillard: Krebs Nebel, diaphanes Verlag, 2013
- Julia Deck: Viviane Elisabeth Fauville, Klaus Wagenbach Verlag, 2013
- Pierre Michon: Körper des Königs, Suhrkamp Verlag, 2015
- Cécile Wajsbrot: Zerstörung. Roman. Göttingen: Wallstein, 2020
- Georges Perros: Klebebilder. Aus dem Französischen und mit Anmerkungen von Anne Weber. Mit einem Vorwort von Jean Roudaut. Berlin: Matthes & Seitz, 2020
Weitere Informationen zum Stadtschreiberpreis finden gibt es auf der Homepage der Stadt Frankfurt am Main unter dem Stichwort Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim