Umfassende Lee Krasner-Retrospektive in der Schirn
Überfällige Neubewertung der brillanten Pionierin des abstrakten Expressionismus
von Hans-Bernd Heier
Lee Krasner (1908–1984), eine Pionierin des abstrakten Expressionismus in den USA, ist nach mehr als 50 Jahren in einer großen Retrospektive mit allen Werkphasen wieder in Europa zu sehen.
Schirn Kunsthalle: Aufgang zur Lee Krasner-Ausstellung, Foto: Petra Kammann
Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert Hauptwerke der Künstlerin, darunter Gemälde, Collagen und Zeichnungen sowie Fotografien und Filmaufnahmen dieser Zeit. Die Ausstellung erzählt die spannende Geschichte einer der unbeirrbarsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und zeigt Krasners Gesamtwerk, das ein halbes Jahrhundert umfasst: Angefangen von Selbstporträts aus den 1920er-Jahren, Aktdarstellungen in Kohle, Werkgruppen wie etwa die geometrischen „Little Images“ aus den 1940er-Jahren oder wegweisende Gemälde der „Prophecy-Reihe“ aus den 1950er-Jahren, experimentelle, großformatige Werke der Umber- und Primary-Serie der 1960er-Jahre und späte Collagen der 1970er-Jahre.
Biographische Stationen im Umlauf der Rotunde der Schirn, 2019, Foto: Petra Kammann
„Lee Krasner ist eine der wichtigsten Malerinnen der US-amerikanischen Nachkriegsmoderne und dennoch hat ihr Werk“, laut Schirn-Direktor Dr. Philipp Demandt „lange nicht die verdiente Aufmerksamkeit erfahren. Es erstaunt, dass unsere Ausstellung ihre erste Retrospektive in Europa nach über 50 Jahren ist. Die noch immer oft vorrangig als männlich wahrgenommene Kunst des abstrakten Expressionismus erfährt mit dieser Würdigung Krasners eine lange überfällige Neubewertung. Und für unser Publikum ist die Schau in der Schirn eine einmalige Gelegenheit, die Werke der Künstlerin im Original zu erleben, denn nur wenige ihrer großformatigen Werke befinden sich in europäischen Sammlungen“ – in Deutschland nur in den Sammlungen Ludwig und der Deutschen Bank.
Der Abstrakte Expressionismus verstand sich als Gegenbewegung zu Konstruktivismus, Realismus und geometrischer Abstraktion. Unter diesem Sammelbegriff wird eine nordamerikanische Kunstrichtung der modernen Malerei zusammengefasst, deren Hauptströmungen sich im Action Painting und der Farbfeldmalerei manifestierten. Der Abstrakte Expressionismus entstand zu Beginn der 1940er Jahre und hat seine Wurzeln in New York. Dieses topographische Merkmal ist der Grund auch dafür, dass die sich neu herausbildende Kunstrichtung „New York Style“ genannt wurde. Damit sollte auch die Bedeutung von New York als ein pulsierendes Kunstzentrum neben dem überragenden Paris unterstrichen werden.
Lee Krasner, Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2019, Foto: Norbert Miguletz
Doch zurück zu Lee Krasner, der Pionierin des abstrakten Expressionismus. Bereits als Vierzehnjährige verfolgt sie ihr erklärtes Ziel, Künstlerin zu werden, indem sie sich an der Washington Irving High School bewirbt – der einzigen höheren Schule in New York, die einen Kunstkurs für Mädchen anbietet. 1926 beginnt Krasner ihre Ausbildung an der „Women’s Art School“ der Cooper Union und setzt diese später an der „National Academy of Design“ fort. Die Schirn präsentiert u. a. ihr Selbstporträt von 1928, das die junge Malerin im Garten ihrer Eltern malte und mit dem sie sich für die Zulassung zur Aktklasse der Academy bewarb. Um sich die Arbeit zu erleichtern, nagelt sie einen Spiegel an einen Baum. In späteren Interviews berichtet Krasner über die Reaktion der Akademie auf ihre Freilichtmalerei: „Da haben Sie einen üblen Trick gespielt – tun Sie nie wieder so, als ob Sie im Freien gemalt hätten.“ Krasner protestiert gegen dieses Urteil und wird zugelassen. Weitere ausdrucksstarke Selbstporträts, die Lee selbstbewusst und mit herausfordernder Mine zeigen, sind in der großartigen Schau zu sehen.
Allerdings gibt es an beiden Institutionen Spannungen mit den Lehrern und sie handelt sich den Ruf einer „schwierigen“ Schülerin ein. In ihrer Akte an der National Academy heißt es: „Diese Studentin ist stets eine Plage, besteht auf ihrem eigenen Willen anstatt Schulregeln zu befolgen.” Es waren aber nicht nur die strengen Schulregeln, gegen die Krasner rebelliert, sondern auch die traditionellen Lehrmethoden. Um weiterhin künstlerisch tätig zu sein und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitet sie als Kellnerin in einem Nachtclub. Freunde und Weggefährten beschreiben sie als sarkastisch, streitlustig, ehrlich und brillant – und so sollte sie ein Leben lang bleiben.
Lee Krasner, Ausstellungsansicht; © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2019, Foto: Norbert Miguletz
1937 schreibt Krasner sich an der privaten School of Fine Arts ein, die der aus Deutschland stammende Maler Hans Hofmann gegründet hatte. Aus dieser Zeit sind vom Kubismus geprägte Aktzeichnungen in Kohle zu sehen, die sich deutlich von den kraftvollen, in realistischer Manier gezeichneten Akten Anfang der 1930er abheben. Im Jahre 1937 kann sie in einer New Yorker Galerie erstmals ihre Arbeiten öffentlich zeigen. Zwei Jahre später tritt sie der Künstlergruppe „American Abstract Artists“ bei und pflegt Freundschaften zu Ray Eames, Ashile Gorky und Willem de Kooning. Im Zentrum der sich neu herausbildenden Kunstrichtung des abstrakten Expressionismus stehen Mark Rothko, Barnett Newman, Stuart Davis und Jackson Pollock, den sie 1945 heiratet.
Lee Krasners Kunst stand lange im Schatten von Jackson Pollock, der mit seinen „Drip Paintings“ einer der Hauptvertreter des Action Painting ist. Dies zeigte sich auch im häuslichen Bereich. Beide lebten und arbeiteten ab 1945 in einem einfachen Holzhaus in Springs, Long Island. Während er zum Arbeiten die große Scheune umbaute, hatte sie sich im Obergeschoss des Farmhauses ein provisorisches Atelier eingerichtet.
In dieser Zeit wandte sie sich von ihrem durch den Kubismus und die europäische Avantgarde geprägten Frühwerk ab und es entstand zwischen 1946 und 1950 die Werkgruppe der abstrakten „Little Images“. Diese Serie markierte den ersten von zahlreichen Wendepunkten in Krasners Werk. Die Ausstellung zeigt aus der ersten Phase dieser Serie etwa „Shattered Color“ oder „Abstract No 2“, die in ihrer All-Over-Technik an Pollocks Malweise erinnern. Krasner arbeitete allerdings viel kontrollierter und in Ölfarbe1951 zeigte Krasner ihre erste Einzelausstellung in der New Yorker Betty Parsons Gallery. Ihre Werke wurden zwar von der Kritik weitgehend positiv aufgenommen, fanden aber keine Käufer, was tiefe Selbstzweifel bei ihr auslöste. In der Hoffnung, in eine neue Schaffensphase zu finden, fertigte Krasner eine Serie von Schwarz-Weiß-Zeichnungen an, die sie an den Atelierwänden befestigte. Als sie einige Tage später den Raum betrat, missfielen ihr die Zeichnungen derart, dass sie diese von den Wänden riss, zerfetzte und die Stücke auf dem Fußboden verstreut liegen ließ. Einige Wochen später stellte Krasner überrasch fest: „Da war vieles, was mein Interesse weckte. Ich begann, zerrissene Teile meiner Zeichnungen aufzusammeln, und klebte sie neu zusammen.“ Als Bildträger für die daraus entstandenen Collagen dienten die nicht verkauften Gemälde aus der Ausstellung bei Betty Parsons, auf denen Krasner Überbleibsel der eigenen Werke und Stücke von Sacktuch, Zeitungen und schwerem schwarzem Fotopapier aufeinanderschichtete, dazwischen auch Teile von Pollocks verworfenen Zeichnungen. Krasner arbeitete von 1953 bis 1956 an ihren „collage paintings“, deren Charakter sich im Laufe der Jahre stark veränderte.
Fortlaufende Biographie in der Rotunde, Foto: Petra Kammann
Anders als viele ihrer Zeitgenossen entwickelte Krasner nie einen „signature style“, also eine eindeutig wiedererkennbare künstlerische Handschrift. Diese Vorstellung empfand sie als „erstarrt“ und „beunruhigend“. Sie arbeitete stets in Zyklen und griff immer wieder auf ihr eigenes Werk und bestehende Themen zurück und entwickelte daraus neue künstlerische Ausdrucksformen. In einem Interview begründete Krasner das damit: „Das einzig Beständige im Leben ist Veränderung“. Die Kuratorinnen der Ausstellung Eleanor Nairne, Barbican Art Gallery, London und Dr. Ilka Voermann, Schirn, dazu: „Mit bemerkenswerter Energie und Freiheit blieb sie ihrem eigenen Geist treu. Unsere Ausstellung zelebriert Krasners künstlerische Wandlungsfähigkeit und stellt den Facettenreichtum ihrer Kunst sowie ihren bedeutenden Beitrag zum abstrakten Expressionismus vor.“
Nach Pollocks plötzlichen Tod bei einem Autounfall 1956 entschied sich Krasner im darauffolgenden Jahr, sein Atelier in der umgebauten Scheune zu nutzen, und leitete damit eine neue Phase ihrer künstlerischen Karriere ein. Erstmals konnte sie auf monumentalen, nicht aufgezogenen Leinwänden arbeiten. Es entstanden einige ihrer bedeutendsten Werke, die die Schirn zeigt, u. a. „Polar Stampede“, „Another Storm“ oder „Portrait in Green“ – alles Riesenformate, die nur mit Hilfe eines Krans in den großen Ausstellungssaal der Schirn gehievt werden konnten. Trotz der großen Formate fertigte Krasner vor dem Malen nie Entwurfsskizzen oder Vorstudien an.
Eine stilistische und biografische Zäsur markiert das Gemälde „Prophecy“, das Krasner zwar schon zu Pollocks Lebzeiten begann, aber erst nach seinem Tod vollendete. Mit diesem Gemälde kehrt sie zu einer fast figürlichen, an den Kubismus angelehnten Bildsprache zurück. Die Ausstellung schließt mit zwei Zyklen aus dem Spätwerk der Künstlerin. Anfang der 1970erJahre begann Krasner eine Serie, in der sie scharfkantige abstrakte Formen mit stark kontrastierenden Farben einsetzte.
An der Biographie in der Rotunde lässt sich auch die künstlerische Entwicklung ablesen, Foto: Petra Kammann
Für die Ausstellung konnte die Schirn Leihgaben aus zahlreichen internationalen Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen, u. a. der Pollock-Krasner Foundation, dem Metropolitan Museum of Art, dem San Francisco Museum of Modern Art, der National Gallery of Washington, dem Whitney Museum of American Art, dem Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, dem Philadelphia Museum of Art und dem Jewish Museum, New York. Viele der rund 100 Werke sind erstmals in Deutschland zu sehen, wie etwa das monumentale, über vier Meter lange Gemälde „Combat“ aus der National Gallery of Victoria in Australien.
Die höchst beeindruckende Schau, die bis zum 12. Januar 2020 in der Schirn zu sehen ist, wird von der Art Mentor Foundation Lucerne ermöglicht. Zusätzliche Unterstützung erfährt die Ausstellung durch die Terra Foundation for American Art.
Zur Ausstellung bietet die Schirn ein Digitorial® an. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher und englischer Sprache abrufbar unter: