Kultur und Kunst – Religion und Kunst?
Essay über die Kunst als zweitmächtigste Ausprägung der Kultur
Von Gunnar Schanno
→ Kultur und Kunst: das Museum als Ersatz für den Kirchgang?
Wir sprachen davon, dass wir den Kulturbegriff ein wenig aus seiner Begriffslosigkeit befreien können, wenn wir seine Unbestimmtheit eingrenzen, sein Alles-und-Nichts, seine Gestaltlosigkeit, seine Verführung zur Bequemlichkeit in lockerer definitorischer Ungenauigkeit, seine Kalkülhaftigkeit beim Gebrauch als Missbrauchsbegriff im Berufen auf ihn, wenn im schlimmsten Falle in Schützenhilfe mit dem Unterbegriff dessen, was Tradition genannt wird, auch Verletzendes an Mensch, Tier oder Natur gerechtfertigt werden kann. Wir können des Begriffs ein wenig habhaft werden, wenn wir ihn besagterweise in seinen beiden mächtigsten Ausprägungen bestimmen und unterscheiden: der Religion und der Kunst.
Freilich überwölbt der Begriff der Kultur wie ein Gewebeteppich synthesebildend eine ganze Gemeinschaft, eine Ethnie, eine Region, eine Nation, einen Staat, ein Volk im Sinne der Gesamtkultur. Es sind also nicht allein ihre beiden mächtigsten Ausprägungen, es sind auch interagierend die Formen von Sitten und Brauchtum, von Zeitgeist und Mode. Es sind auch ihre Ausprägungen im Sinne emotional gestimmter Verarbeitung des rein Sachlichen, Wirklichen, Realen, des Nützlich-Utilitären, ganz allgemein des Zivilisatorischen. Kultur ist all das, was für Individuum und Gemeinschaft subjektiv-individualisierend, geradezu epigenetisch, über das Funktionale des Lebenserhaltenden hinausführt und all den kulturellen Einzelphänomen in eben jener Synthese den Charakter einer „Kultur“ genannten Einheit verleiht.
Kultur und Kunst. Warum Kunst als zweitmächtigste Ausprägung? Es sei dahingehend pointiert, wie mächtig doch das Religiöse als Teil der Kultur in die Welt wirkt. Wie sehr allein schon das Religiöse die Bürgergesellschaften als Träger des Zivilisatorischen in Bedrängnis bringen kann, das zeigen seit einigen Jahren all die Diskurse zu den Geschehnissen im Kontext dessen, wenn sich dieWeltreligionen unter einem gesellschaftlichen Dach finden müssen. Darin beweist sich Religion nach langer Zeit wieder einmal als wirkmächtigste Ausprägung des Pansystems Kultur auch im bundesrepublikanischen Land. Beginnt das Religiöse, zumindest im Hinblick auf die weltweit zahlenstärkste Glaubensgemeinschaft und präsent im medialen Dauerdiskurs, die zweite große Kulturausprägung, die Kunst, in das Unterrangige hinein zu verdrängen?
Wir sprechen von Wirkmacht. Der Künstler als Repräsentant des Pansystems Kunst und der die Kunst Würdigende werden zugestehen, dass die Kunst im öffentlichen Bewusstsein dessen, was kulturbestimmend ist, wie lange nicht mehr in den Schatten des wirkmächtig Religiösen getreten ist. Es ist zu beobachten, wie Kunst, etwa im öffentlichen Raum, noch einmal unter religiösen Aspekten eines hinzukommenden Kulturkreises gewertet und verortet wird. Wir hörten auch von Kunst als Beleidigung. Ist dies bedrohlich für die Kunst? Ist aus Richtung des Religiösen immer auch Gefahr der Bedrohung für die Kunst? Anders herum gefragt: War Kunst jemals Bedrohung für die Religion? Bedrohung für das Politische allemal. Es sind aber doch wohl immer Bedrohungen gegen das Bedrohliche, der bedrohlich scheinende Künstler gegen die bedrohliche und zugleich von der Kunst sich bedroht fühlenden Macht. Nicht wenige Beispiele geben eintreffende Exilsuchende und Flüchtende, Künstler und Schriftsteller darunter, die aus ihren Heimatländern fliehen, also Ländern, die von religiösen und politischen Führern zu persönlichen Terrains ihrer eigenen religiösen oder politischen Überzeugtheit erklärt wurden.
Religion und Kunst als mächtigste Ausprägungen des Kulturellen: wie stehen sie zueinander? In ihrer beider entscheidendstem Merkmal, der Wahrheit, stehen sie in merkwürdig dialektischer Verbindung. So ist beiden ihre grundsätzliche Unbeweisbarkeit der Richtigkeit ihrer Aussagen oder Botschaften, die aus ihnen sprechen, gemeinsam. Das in beiden inhärent wirkende Emotionale, das Transzendente, das Empfindende, das Gestaltende, das Symbolische, das Metaphysische befinden sich nicht im Raum des Nachweisbaren eines Richtig oder Falsch.
Die Wahrheit als Begriff im Religiösen liegt immer im übergeordnet Ganzen, gilt für die Weltsicht, wenn nicht gar Welterklärung, gilt für die ganze Seins- und Lebenshaltung, schließt nicht den individuellen, sondern den Menschen als solchen ein, umfasst einheitlich das Plurale, steht im Anspruch des Umgreifens der ganzen, im Pathosbegriff genannten Menschheit. In diesem Anspruch kann Religion immer auch bedrohlich werden. Die Wahrheit in der Kunst ist immer im einzelnen Artefakt, liegt immer in der Wahrhaftigkeit des künstlerisch singulären Ausdrucks, bedeutet immer auch die Abgeschlossenheit des einzelnen Kunstwerks, weil der Künstler darin nicht weiter in die Tiefe des Wahren zu dringen vermochte. Erschließt sich dem Künstler weitere Wahrheit, so wird er suchen, sie in der Gestaltung eines neuen Kunstwerks zum Ausdruck zu bringen. In der tiefsten Überzeugung der Wahrheit, die aus seinem Werk spricht, wird er im Faktischen nicht drohend wirken wollen. Zu vermerken ist freilich, ohne hier Thema zu sein, dass es auch „verirrte“ Kunst gibt, wenn in ihr menschen- oder tierrechtlich Verletzendes konnotativ positiv erscheint.Der kulturelle Aspekt in der Kunst liegt also im ineinander übergehend bewussten bis unbewussten, immer auch gefühlten, empfundenen, von Gestaltungsdrang bewegten Wunsch, eine unverwechselbare Form zu schaffen, Ausdruck der gegenwärtig eigenen Welt künstlerischer Wahrnehmung zu geben, das Materiale, wenn es bildende Kunst betrifft, aus der Gebrauchshaftigkeit herauszunehmen, es zu erhöhen, ihm Symbolik in Form und Gestalt zu geben. Die Wahrheit des Kunstwerks liegt also in der Zeitlosigkeit, liegt darin, dass es im uneigentlichen Sinne auch Symbol oder Zeichen, dass es jeder rein funktional-instrumentalisierten Verwertung entzogen ist.
Wer etwa die Frankfurter Museen durchwandert, kann es Kunstobjekt für Kunstobjekt erkunden. Vom Erhabenen bis zum Schlichten. Und wenn im Augenblick des Entstehens ein Kunstwerk im zeitverhaftet Anklagenden bis Streitbaren seinen Ausdruck fand, so ist im schöpferischen Akt des Künstlers dem Wahrheitsanspruch an sich kein Abbruch getan. Von Wahrheit ergriffen sind doch auch irgendwie die Museumsexperten, wenn sie sich für die Nobilitierung eines künstlerischen Werks dadurch entscheiden, dass sie es für eine museale, zeitenthobene Verortung in ihre Räumlichkeiten für würdig und wichtig erachten.
Steht nun aber das Religiöse der Kunst gegenüber? Stehen beide gar gegeneinander, wenn sich beider Wahrheiten in Konkurrenz sehen? Die Sorge in der Kulturwelt war groß, als Religion und Kunst in Palmyra und anderswo in destruktiven Zusammenhang gerieten und bewiesen, wie in extremo zerstörend Religion auf Kunst stoßen kann. Wir kannten in europäischer Religionsgeschichte das, was unter Ikonoklasmus, genannt Bildersturm, seine Wirkung zeigte. Dieser Zusammenhang verschärft nun aber eher die Sicht in der Frage zum Verhältnis Religion-Kunst. Warum? Weil selbst das religiöse Kunstwerk innerhalb der kulturellen Wirkmacht, der Religion, dem Anspruch religiös-verkündeter All-Wahrheit gegenüber individuellem Wahrheitsempfinden des Künstlers ausgesetzt wird. In letzter Konsequenz sind es also nicht die religiös-basierten Gesellschaften, die der Kunst die Entfaltung garantieren, sowenig wie es die ideologisch-basierten Systeme waren und sind. Kunst als existentielle Dimension des Humanums wird vielmehr einzig in einem Freiheitsraum, in dem kein vorgegebener theokratischer oder ideologischer Wahrheitsanspruch gilt, ihr umfassend vielgestaltiges, uns alle ergreifende Wirken im Kosmos der Kultur erhalten können.