Besuch des Künstlers Jean-Paul Marcheschi in seinem Pariser Atelier
Choreographie der Flamme
Der Maler, Bildhauer, Bühnenbildner und Kunsttheoretiker korsischen Ursprungs Jean-Paul Marcheschi lebt und arbeitet in Paris. Zu Beginn seiner Karriere nutzte er noch so klassische Techniken wie Malerei und Zeichnung. Nach einem ihn prägenden Aufenthalt auf der Vulkaninsel Stromboli im Jahre 1984 trennte er sich definitiv vom Farbpinsel und tauschte ihn gegen einen „Feuerpinsel“ („flambeau“) ein, der seither sein ausschließliches Arbeitsmittel ist. Vergleichbar mit dem amerikanischen Action-Painter Jackson Pollock, der mit seiner Drippingtechnik die Farbe auf die auf dem Boden liegende Leinwand tropfen und fließen ließ, arbeitet Marcheschi mit seinem „dripping de feu“, mit der Flamme, dem schwarzen Ruß des Rauchs und mit Wachs, das er auf perforierte, am Boden liegende DIN A 4-Blätter tropfen lässt. Die so entstandenen Blätter stehen als einzelne Werke für sich, doch fügt sie der Künstler je nach Ausstellungsort jeweils in monumentalen Raumkompositionen zusammen. Seine Arbeiten sind inspiriert vom Licht wie von der Dunkelheit, vom Universum, von den Höhlenzeichnungen wie vom Feuer des Vulkans, außerdem auch von den großen Themen der Literatur wie von Dantes Göttlicher Komödie, von Ovids Metamorphosen oder von den großen antiken Mythen …
Petra Kammann
besuchte Jean-Paul Marcheschi in seinem Pariser Domizil und Atelier.
Im einstigen Viertel der Pariser Hallen zwischen dem Centre Pompidou und dem Louvre, in der Rue Berger, wohnt der freundliche und vive Künstler im obersten Stockwerk eines Pariser Stadthauses mit unmittelbarem Blick auf die alte Handelsbörse, in die demnächst die zeitgenössische Kunstsammlung von Frankreichs Milliardär François Pinault einziehen wird.
Blick aus dem Fenster auf die alte Pariser Handelsbörse
Als er vor Jahren sich dort niederließ, war das Gebäude wie viele andere im Hallenviertel noch vom Abriss bedroht. Nach vielen Jahren der Umstrukturierung des Viertels ist Jean-Paul Marcheschi nun froh, diesen privilegierten und lichtdurchfluteten Ort mit Balkon im 1. Arrondissement in Paris zu haben, in dem er nicht nur wohnen, sondern allmorgendlich auch arbeiten kann.
Hier kann er bei geöffnetem Fenster vormittags unkompliziert seiner Arbeit nachgehen, ist doch der Morgen für ihn eine ganz wichtige und inspirierende Phase, in der er Tag für Tag ungeordnet die vom Schlaf übriggebliebenen Rest-Träume und Eindrücke der Nacht handschriftlich zu Papier bringen und Blatt für Blatt ganz systematisch nummerieren kann. Dafür hatte er eigens eine 250-bändige Bibliothek roter Bücher gekauft, Blindbände mit etwa 120 Seiten.
In der Wohnung entstehen die Tagebuchnotate als Grundlage für die späteren Werke
Damals hatte er es sich nämlich zum Ziel gesetzt, kurz nach dem Schlaf diese mit seinen tagebuchähnlichen, für ihn selbst oft unverständlichen Notaten, die er bewusst nicht redigieren wollte, vollzuschreiben – und das zehn Jahre lang. 1981 konnte er etwa 30.000 Bilder und Zeichnungen in den 250 roten Büchern präsentieren.
Die Erfahrung des im Dunkeln tastenden labyrinthischen Denkens gehört für den Künstler zum ersten Stadium seines kreativen Schaffens, zumal die Schrift für ihn etwas körperlich Sinnliches hat: „Noter des mots, c’est déjà dessiner“ (Schon beim Aufschreiben der Worte zeichnet man). Das alles gehört für ihn ganz wesentlich mit zur Kunst.
So ist ihm das Ritual der täglichen „écriture automatique du matin“ förmlich zur zweiten Natur geworden. Es strukturiert nicht zuletzt seinen Tagesablauf.
Im Atelier
Am Nachmittag macht er sich in der Regel in sein ebenerdiges Atelier auf, das nur wenige Schritte von dort entfernt in Richtung Seine liegt, wo er mit der Flamme, die von an einen Stab gesteckten Kerzen ausgeht, die Blätter weiter „bearbeiten“ kann.
Der Maler, der zum Studium von Korsika aus erst nach Rom, sodann nach Paris gekommen war, hatte zunächst dort auch Medizin und Literatur studiert und dann einen Magisterabschluss in Kunstgeschichte gemacht. Er liebt die Geschichte der Malerei und die Geschichten, die aus der Malerei entstehen. Im Übrigen hat er bemerkenswerte Biographien über Piero della Francesca, über Pontormo, über Goya und das Dunkle, über Monet und seine „Camille morte“ wie auch über Cézanne geschrieben. Dabei schenkte er der dunklen Seite des jeweiligen Künstlers besondere Aufmerksamkeit. Und dem Gesicht des Menschen, das für ihn nicht nur der Ausdruck von Individualität ist. Die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ist für ihn ebenso bedeutsam. Dabei ist er sich stets bewusst, dass wir im Laufe unserer Existenz, von der Geburt bis ins hohe Alter, nicht nur ein Gesicht haben, das sich ständig verändert, sondern dass auch der Körper unzählige Metamorphosen durchmacht. Niemand, so sagt er, komme gegen „Chronos“, den Gott der Zeit, der uns regiere und zu guter Letzt verschlinge, an.
Jean-Paul Marcheschi, Pinceau feu. Malen mit der Flamme. Der Künstler in Aktion; Foto: Stéphane Meyer
Was das Schaffen des Porträts anbelangt, so bedauert der Künstler, dass dieses Genre gewissermaßen in der zeitgenössischen Kunst aufgegeben wurde. Welche Kunst aber sei besser als Malerei geeignet, habe sie uns doch im Laufe der Jahrhunderte diesem Rätsel näher gebracht, das Einmalige des Menschen zu verstehen und seine Tragik zu mildern? Marcheschi sieht in dem Akt des Porträtierens eine Form der Bewahrung, die keiner anderen Kunstform so gut möglich sei wie der Malerei. Die Fotografie in ihrer Schnelligkeit und kühlen Reproduzierbarkeit rufe nicht die selben Empfindungen hervor, da es ihr an Einzigartigkeit, an sinnlicher Körperlichkeit und an deren üppiger Drapierung mangele, welche durch die Kunst der Maler, die auch Zeit in die Umsetzung investierten, hervorgerufen werde.
In seinem groß angelegten Werk der „11.000 Portraits de l’humanité“ kehrt Jean-Paul Marcheschi, der sich zunächst eher als Künstler des Informel oder der Arte Povera begriff, zum Thema der Darstellung des Gesichts zurück, indem er versucht, die jeweilige Individualität darzustellen und dabei gleichzeitig den unpersönlichen, anonymen und kollektiven Aspekt zu berücksichtigen. So entstanden nach und nach Porträts von Bekannten und Unbekannten, von Nahestehenden, von Vater und Mutter, von Geschwistern und auch Selbstporträts, kurzum seine einzigartigen und unverwechselbaren „11.000 Porträts des Menschseins“, denen die Insignien des heißen Feuers, des schwarzen Rußes eingebrannt sind und die vom abtropfenden Wachs von den aufgesteckten Kerzen seines „Feuerpinsels“ individuell geprägt sind. Mit Hilfe dieser Technik versucht Marcheschi, „das beschriebene Blatt“ des einmaligen Individuums festzuhalten, und reiht die Spezies Mensch in ein Kollektiv ein, indem er jedem das gleiche DIN A 4-Format als äußere Rahmenbedingung zugesteht.
Die Schwärze, das Licht, die Dunkelheit, das Gesicht, die Natur, das Feuer, sie sind es, die das Besondere der Porträtarbeiten mit ihren beunruhigenden phantomartigen Aspekten charakterisieren und die bisweilen an Bacon-Porträts erinnern. Andere abstrakte und poetisch angelegte Blätter scheinen stärker von der Natur inspiriert zu sein. Insgesamt sind Marcheschis Porträts so einzigartig wie universell, denn sie greifen Aspekte des Menschseins, des Lebens, des Todes, der Freude, der Ängste des Menschen und dessen Alltag auf.
Da der Künstler das Unbewusste bei sich selbst zulässt, hat er ein starkes Empfinden für die unsichtbaren Seiten des Lebens. Das schimmert sogar in seinen formaleren Werken durch, wo man den sensiblen Aspekt der Natur erkennt. Er versteht sich auch auf die Wirkungen der Natur, welche diese in uns hervorruft (z. B. in „Le grand Lac“ von 2009 im Musée départemental de préhistoire d’Île de France), wenn wir etwa die Wasserfläche eines Sees betrachten, wo wir durch die Spiegelung unseres Negativ-Bildnisses gewahr werden. Oder in dem gestirnten Himmel (wie zum Beispiel in den „Météores“). Immer wieder ruft der ausdrucksstarke Künstler solches mit dem Ruß hervor, den er in verschiedensten Techniken ausarbeitet.
So malt er an anderer Stelle ein imaginäres Universum, das zwar schwarz und beängstigend, aber auf jeden Fall auch faszinierend ist. Denn für den Künstler offenbart das Dunkle eine echte schöpferische Kraft. So kommen nach und nach aus seinen teils abgründigen Feuermalereien mythische Figuren, Felsen, Vögel und Wildschweine zum Vorschein, mit denen er riesige Räume und Klosteranlagen füllen kann. Dazu gehört auch die 35 m hohe Arbeit im Untergrund, eine Assemblage von 6000 beschriebenen Traum-Blättern, in der Toulouser U-Bahnstation („Station des Carmes“), die er als Milchstraße angelegt und an der er fünf Jahre lang gearbeitet hat. Als er sie schuf, hatte er sowohl den Korpus der Metrostation vor Augen als auch die ihn durchströmende Masse der Passanten, die lauter Geheimnisse in sich tragen. Die gewölbte U-Bahnstation erinnere ihn daher einerseits an die „Sixtinische Kapelle“ und gleichzeitig an einen „gewaltigen Brustkorb “, in den alles eingepfercht ist.
Links im Bild die „Roten Bücher“
Chambre du Pharaon noir, La Reine, 2001; Bildnachweis: Jean-Paul Marcheschi
Ebenso faszinierend wie diese Inszenierung sind sowohl das Bühnenbild als auch 40 Kostüme, die er 1996 für den „Feuervogel“ von Strawinsky im Toulouser Théâtre du Capitole entworfen hat, von denen noch Detailentwürfe in seinem Pariser Atelier zu finden sind.
L’oiseau de feu, 1996, chorégraphie de Michel Rahn, Inszenierung des „Feuervogels“ von Igor Strawinsky am Theater in Toulouse; Bildnachweis: Jean-Paul Marcheschi
Dort entstehen auch aus dem abtropfenden und mit Ruß vermischten und verdichteten Wachs ganz eigene Skulpturen, die meist zu Fabelwesen werden.
Aus dem herabgelaufenen Wachs entstehen Fabelwesen, Raben und Krähen
Bei seinem Blick in die „Abgründe“ der menschlichen Erkenntnisse haben den Künstler neben der Göttlichen Komödie Dantes, wo erst der Gang durch die Hölle ins Paradies führt, auch der Text „Die dunkle Nacht der Seele“ des Mystikers Johannes vom Kreuz (1542-1591) zweifellos beeinflusst. Er selbst hatte früh eine Verletzung des Auges, eine Netzhautablösung, ausgelöst durch einen Fußball, der ihm mit Wucht ins Auge geflogen war, was ihm noch Jahre später etliche zum Teil misslungene Operationen eingetragen hat.
Den Gang durch die Hölle, den hat er nicht nur durch die Lektüre Dantes – für die Gestaltung hatte er eigens Szene für Szene des kompletten Textes auswendig gelernt – erfahren. Auch die gewaltigen Brände, die er in Korsika erlebt hat, haben ihn für die Schattenseiten sensibilisiert. Er ist sich aber auch des Paradieses bewusst, dann, wenn die vielen beschriebenen, in Kisten sorgfältig gelagerten Blätter, Teile einer Menschheitsgeschichte, sowie auch die wächsernen oder in Bronze gegossenen Fabelwesen das Atelier verlassen können, um sich neuen Räumen anzuverwandeln wie im Falle seiner Installation „Les Fastes“ draußen in der Natur oder drinnen im kubischen lichten „Musée départemental de la Préhistoire“ in Nemours. Dann weiß er, dass die kontinuierliche Arbeit, so viele Palimpseste zu schaffen, der Mühe wert war.
Jean-Paul Marcheschi wurde 1951 in Bastia geboren; er lebt und arbeitet in Paris. Er bestritt europaweit eine große Zahl an Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen. Seine Werke sind in zahlreichen Museen und öffentlichen Gebäuden wie der Metrostation in Toulouse sowie im öffentlichen Raum in Frankreich wie im Prähistorischen Museum in Nemours (im Innen- wie im Außenraum) oder im Fonds national d’art contemporain (FNAC) in Paris zu sehen. Teilgenommen hat er auch bei der Art Frankfurt. Demnächst wird er an einer Ausstellung zum Thema Rodin im Grand Palais in Paris teilnehmen. Seine Künstlerbiographien erschienen bei Art3 – Plessis.
Abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn; Fotografien (soweit nicht anders angegeben): Petra Kammann