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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

goEast 2016 – Festival des Mittel- und Osteuropäischen Films

Ein Menschenrechtsfestival – eine Nachlese

Von Renate Feyerbacher

Zum 16. Mal gab es Ende April 2016 den kulturellen Dialog mit Filmschaffenden aus Mittel- und Osteuropa. Wiesbaden war wie immer das Zentrum der Begegnung, Frankfurt, Darmstadt und Mainz wurden einbezogen. Seit 2010 leitet die gebürtige Frankfurterin Gaby Babic, deren Eltern aus Kroatien kamen, das Festival.

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Gaby Babic, Foto © goEast

Unter den mehr als 100 eigenwilligen und engagierten Filmen aus 25 Ländern, die im regulären Filmbetrieb selten gezeigt werden, konnten die Besucher und Besucherinnen wählen, an die 12.000 sollen es gewesen sein. Vernetzung, Austausch, Weiterbildung – davon profitieren vor allem die Nachwuchs-Filmemacher. Wie immer gab es eine feierlich-nachdenkliche Eröffnung und eine festliche Preisverleihung mit anschliessendem Zusammenkommen von Filmschaffenden und Gästen.

Oppose Othering!“ heisst ein neues Projekt in Zusammenarbeit mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Junge Film-Teams aus Deutschland, Mittel- und Osteuropa durchforsten ihre Länder, um sich mit Ausgrenzung, Feindbildern und Gewalt gegenüber anderen auseinanderzusetzen. Fünf Tandems erhielten bei der Preisverleihung finanzielle Produktionshilfe.

Das 2015 erfolgreich gestartete Projekt „Young Filmmakers for Peace“ hatte 14 junge Filmemacher aus kriegerischen Konflikt- und Post-Konfliktregionen Osteuropas, aus Deutschland und zum ersten Mal auch aus der arabischen Welt eingeladen, um sich mit dem Thema Filmemachen in Konfliktzeiten als Mittel der Friedensbildung und Demokratisierung zu beschäftigen.

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Gaby Babic bei der Preisverleihung, Foto: Renate Feyerbacher

„Tod in Sarajevo“

Die Verwerfungen, die sich in Europa und einigen seiner Mitgliedstaaten drastisch manifestieren, waren Thema vieler Filme in diesem Jahr. So auch im bosnischen Eröffnungsfilm (ausserhalb des goEast-Wettbewerbs) „Tod in Sarajevo“ (Smrt u Sarajevu) von Regisseur Danis Tanovic. Er lief zuvor im Wettbewerb der Berlinale 2016.

Der Film von Danis Tanovic hat eine Vorgeschichte. Der französische Journalist, Philosoph und Menschenrechtsaktivist Bernard-Henri Lévy mit dem Künstlernamen „BHL“ liess sein Theaterstück „Hotel Europa“ zum 100. Jahrestag des Attentats in Sarajevo am 28. Juni 1914, bei dem der österreichisch-ungarische Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau ermordet wurden, dort uraufführen. BHL, wie er sich nennt, war bereits 1992 mit anderen Intellektuellen im Bosnien-Krieg nach Sarajevo gekommen, um die Bosnier zu unterstützen. Sarajevo war fast vier Jahre lang durch bosniakisch-serbische Truppen belagert.

Regisseur Tanovic, seit 2001 Besitzer eines „Oscars“ für den besten fremdsprachigen Film und eines „Golden Globe“ und seit 2013 von zwei „Silbernen Bären“, liess sich von Lévys Theaterstück beeinflussen. Zunächst wollte er einen Dokumentarfilm drehen, entschied sich dann aber für den Spielfilm.

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„Tod in Sarajevo“, Foto © goEast

Ort des Geschehens ist am 28. Juni 2014 das Hotel Europa in Sarajevo, das beste am Platz, dessen Glanzzeiten allerdings vorüber sind. Die Kamera schweift vom Keller, wo ein Stripperinnenstudio, wo Küchen-, Wasch- und Bügelräume liegen, wo sich die Mitarbeiter in zermürbenden Diskussionen auf einen Streik vorbereiten, in die Hoteletagen mit den repräsentativen Räumen von morbidem Glanz, in die Präsidentensuite, in der ein Ehrengast der EU residiert, der seine Rede probt und derweil von einer Überwachungskamera beobachtet wird. Gespielt wird er vom französischen Schauspieler Jacques Weber, der auch in BHLs Theaterprojekt agierte. Schliesslich gelangt die Kamera aufs Dach, wo eine Fernsehjournalistin Interviews zum Thema Krieg und seinen Folgen führt. War der Attentäter 1914, der nationalistische Student Gavrilo Princip, ein Held oder ein Verbrecher? In Jugoslawien und Serbien galt und gilt er heute noch vielen als Volksheld. Das ist die eine Schiene des Films, die zweite die Vorbereitungen zur Feier anlässlich des 100. Jahrestags in einem Hotel, das vor dem Bankrott steht, geleitet von einem schmierigen, skrupellosen Direktor. Die dritte Schiene bilden die Planungen und der Streik des Hotelpersonals, das seit langem auf sein Geld wartet. Die Hotelzimmer sind leer, anders als bei der Olympiade 1984. Politische und menschliche Träume und Albträume werden skizziert.

Ständig geht es treppauf, treppab. Ein herrlicher Ort für die Parabel auf das derzeit zerrissene, unruhige Europa und auf den Zustand in Bosnien-Herzegowina, das die Mitgliedschaft in der EU beantragt hat. Es passiert viel, zu viel, zu viele Erzählstränge müssen verfolgt werden. Dadurch gewinnt der Film natürlich einen fantastischen Spannungsbogen. Er ist oft bitterböse und gefällt durch sarkastischen Humor: Fragt ein kleiner Wurm seinen Vater: „Stimmt es, dass es Würmer gibt, die in Äpfeln leben?“ – „Ja“, sagt der Vater. „Stimmt es, dass es Würmer gibt, die in Fleisch leben?“ – „Ja, das ist richtig.“ – „Und warum leben wir dann in Scheiße?“ – „Weil es unsere Heimat ist.“ Erzählt wird der Witz von demjenigen, der sich in dieser Heimat gut eingerichtet hat, dem Besitzer des Etablissements der Stripperinnen. Trotz Einwand: Sehenswert.

Nun zu den Preisträgern des goEast Filmfestivals 2016:

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Die Preisträger, Foto: Renate Feyerbacher

„Insight“

Den Preis für den Besten Film – dotiert mit 10.000 Euro – gewann der Film „Insight“ (Insait) des russischen Autorenfilmers Aleksandr Kott. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der durch einen Unfall plötzlich erblindet. Er muss sich in einem neuen Leben zurechtfinden. Im örtlichen Krankenhaus bestärkt ihn die Krankenschwester Nadezhda (gleich Hoffnung). Er schöpft Lebensmut. Als sie nach seiner Entlassung bei dem jungen Mann zu Hause auftaucht, entwickelt sich eine unerwartete Liebe. Er kann für sie sorgen und sie heiraten. Das Leben mit Nadezhda ist jedoch trügerisch. Ihre Geheimnisse zerschlagen die Hoffnung auf ein glücklich-einvernehmliches Leben. Hoffnungslosigkeit als Metapher für eine Gesellschaft, die Schwäche nicht toleriert. Kontrastreiche Momente von Trauer und Freude, von Fremdheit und Nähe, von Verstehen und Abweisen gehören zum Wechselspiel dieses besonderen Films.

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„Insight“, Foto © goEast

„Die rote Spinne“

Gleich zwei Hauptpreise gewann „Die Rote Spinne“ (Czerwony Pajak) – eine polnisch-tschechisch-slowakische Produktion des polnischen Regisseurs, Kameramanns und Drehbuchautors Marcin Koszałka. Er erhielt den Regiepreis der Landeshauptstadt Wiesbaden (dotiert mit 7.500 Euro) und wurde von der Jury der Internationalen Filmjournalisten (FIPRESCI) ausgezeichnet. 3SAT wird den Film demnächst zeigen.

Ein grandioser Turmsprung des Studenten Karel Kremer, ein faszinierender Schwenk hoch oben an der Mauer des alten Krakauer Turms entlang, so nah vorbei gleitet die Kamera an den Steinen und Mörtelfugen – atemberaubend, dann wendet sie den Blick auf den Rummelplatz, später ins Melodrom, wie es früher auf Rummelplätzen stand. Da fuhren Motorradfahrer halsbrecherisch an den Steilwänden entlang. Eine Horrorszene, die unruhig macht. Einmalige Kameraeinstellungen von Marcin Koszałka, der bisher durch seine preisgekrönten Dokumentarfilme bekannt wurde. „Die Rote Spinne“ ist sein erster Spielfilm.

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„Die rote Spinne“, Foto © goEast

Die Geschichte spielt in Krakau im Jahr 1967. Ein Serienmöder namens Karel Kot – genannt „Der Vampir von Krakau“ – treibt schon lange sein Unwesen. Immer wieder werden Kinder und Frauen ermordet. Karel Kremer, der über die Morde alle Zeitungsberichte sammelt, besucht den Rummelplatz. Er entdeckt am Rande ein ermordetes Kind und beobachtet einen Mann mit Aktentasche, der sich seltsam verhält. Diesen Mann, wie sich später herausstellt ein Tierarzt, verfolgt er nun unablässig, besucht ihn mit seinem absichtlich vergifteten Hund in der Praxis. Beide entwickeln eine ominöse Beziehung zueinander. Warum geht der Student, dessen Vater Arzt ist, nicht zur Polizei? Das Morden fasziniert ihn, aber er wird selbst nicht zum Mörder, er wird jedoch unter Mordverdacht an einer Bekannten festgenommen. Und da er die Einzelheiten der Morde des Tierarztes kennt und durch seine Aussagen der Polizei glaubwürdig erscheint, wird er zum Tode verurteilt. Warum bleibt er bei seinen Lügen? Zu allerletzt scheint ein Polizist Karels Lügen-Konstrukt zu erkennen, um die Hinrichtung zu verhindern. Warum? Wünschte der Student Aufmerksamkeit? Fühlte er sich unwohl in seiner Familie oder nicht genügend anerkannt? Die Szene im Gefängnis lässt einen schaudern: Der Vater, der mit ihm redet, die eiskalte Mutter, die ihn unbeweglich anschaut und nichts sagt. Die Schlusseinstellung, die Jahre später in einer Vernissage endet, legt nahe: es ging ihm darum, bekannt zu werden.

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Schauspieler Filip Plawiak, Foto: Renate Feyerbacher

Regisseur Marcin Koszałka zeichnet ein spannendes Psychogramm von zwei krankhaften Menschen. Seine Hauptfigur, der Student Karel, wirkt aalglatt, keine Selbstreflektion ist zu spüren. Das irritiert. Sie fehlt. Nur einmal, als er schon zur Hinrichtung geführt wird, ist eine kleinste Regung zu erkennen. Ist so etwas möglich in einem Psychogramm?

Der Regisseur vermischt Geschichtliches und Fiktives. Er zeichnet ein „verstörendes Portrait der Gesellschaft und des real existierenden Sozialismus Polens in den Monaten unmittelbar vor den März-Unruhen 1968.“

Die überraschende Handlung, die aussergewöhnliche Kameraführung des Thrillers, die schauspielerische Leistung von Filip Plawiak haben dem Film die Preise eingebracht. Verstörend, so empfanden einige im Publikum, und dennoch faszinierend.

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„Wir sind nie allein“, Foto © goEast

„Wir sind nie allein“

Keinen Preis erhielt der Film „Wir sind nie allein“ ( Nikdy Nejsme Sami) des polnischen Regisseurs Petr Václav. Er war schon einmal für den Nachwuchs-Oscar nominiert, gewann für seinen Spielfilm „Marian“, die Geschichte eines kleinen Romajungen, den „Silbernen Leopard“ und den Preis der Internationalen Filmkritiker (FIPRESCI) beim Filmfestival von Locarno. Auch für seinen neuen Film hätte er einen Preis verdient. Von den Lesern der Zeitung „Der Tagesspiegel“ wurde der Streifen 2016 aus 34 Premieren-Filmen als Siegerfilm gekürt, als er im Rahmen des Berlinale-Forums gezeigt wurde. Ein Beitrag, in dem sich „gesellschaftliche Brüche vielfältig widerspiegeln. Mit grotesken Figuren wird eine Geschichte erzählt, die den Zuschauer in vielerlei Hinsicht fordert und in Bann zieht“ (Der Tagesspiegel am 20. Februar 2016). Ein Film, der unsere verunsicherte Gesellschaft, unsere europäische Zersplitterung meisterhaft auf den Punkt bringt. Mal ist er Drama, mal Komödie, mal Alltagsgeschichte. Mal Trauer, mal Freude, mal Brutalität, mal Missachtung und immer spannungsgeladen. Die grossartigen Schauspieler tun ihr übriges dazu.

Neben namhaften tschechischen Film- und Bühnenschauspielern, mit dabei unter anderem Karel Roden, international berühmt, auch in Hollywood, und Jana-Lenka Vlasáková, spielen viele Laienschauspieler. Im Ort gibt es einen Gemischtwarenladen, in dem Jana (Vlasáková) bedient. Sie ist verheiratet mit einem Hypochonder (Roden), der ständig seine Leberflecken betrachtet und sogar fotografiert. Ihr ältester Sohn ist lernbehindert, ihr Vater schweigsam ihr und den Enkeln gegenüber. In dieses Leben bricht Milan, der Zuhälter, ein und stellt Janas gesamtes Leben auf den Kopf. Sie verknallt sich sofort in ihn, als er den Laden betritt, und beschliesst, dass Herz des Roma zu erobern. Es braut sich vieles zusammen zwischen ihrem Mann und dem neuen Nachbarn, dem verrückten Gefängniswärter, einem Waffennarren, zwischen ihr und dem Zuhälter, zwischen den Kindern, die katastrophale elterliche Vorbilder haben.

Regisseur Petr Václav hält die Arbeit mit Schauspielern für äusserst wichtig. Die psychologische Führung vor allem auch der Laienspieler ist bewundernswert. Einen seiner jugendlichen Darsteller fand Petr Václav in einem Waisenhaus. Klaudia Dudová, die eine junge Prostituierte mit Kind spielt, hat er Jahre zuvor entdeckt. Es ist nicht ihr erster Film mit dem Regisseur. In einem Gespräch erzählt sie: „Er kam – und das als Tscheche – zu einer Roma-Party. Er kam auf mich zu und sagte, dass ich wahnsinnig gut in einen Film passen würde, den er drehen wolle, und ob ich nicht mitspielen wolle. Ich habe ihm zuerst kein Wort geglaubt, denn er sah überhaupt nicht aus wie ein Regisseur. Aber er kannte einen Freund von mir sehr gut, daher habe ich Petr dann einige Male getroffen und öfter mit ihm gesprochen. Am Ende ist es dann dazu gekommen, dass ich in dem Film gespielt habe. Er wusste sehr viel über Roma, wie sie tatsächlich leben, welche Probleme sie haben. Deswegen habe ich angefangen, ihm zu vertrauen, und ich war mir sicher, dass es ein guter Film wird – einfach durch die Art und Weise, wie er ihn beschrieben hat“ (Gespräch im Tschechischen Rundfunk in Prag – sie führte es anlässlich des Films „Cesta Ven“ (The Way out – 2014).

Diese subtil-psychologische Arbeit mit den Darstellern macht den Streifen zu einem Meisterwerk.

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Preis des Auswärtigen Amtes, Foto: Renate Feyerbacher

Der Preis des Auswärtigen Amtes für kulturelle Vielfalt im Wert von 4.000 Euro erhielt der russische Dokumentarfilm „Fremde Arbeit“ (Chuzhaya Rabota). Ein junger Mann ist mit seinen Eltern und Brüdern aus Tadschikistan nach Russland ausgewandert. Hier hoffen sie, ein besseres Leben zu finden. Aber es kommt anders. Die Jury war von der anspruchsvollen Art und Weise überzeugt, wie sich Regisseur Denis Shabaev, der bereits im letzten Jahr bei goEast dabei war, mit einer multikulturellen Gesellschaft auseinandersetzt.

Es gab noch viele weitere Preise, aber darüber zu berichten sprengte den Rahmen. Die Workshops waren begehrt. Dem polnischen Kultregisseur Juliusz Machulski war das „Portrait“ gewidmet. In einer Werkschau stellte er seine Werke persönlich vor.

Es ist bedauerlich, dass all diese fantastischen Filme aus Mittel- und Osteuropa so wenig Beachtung finden und nur gelegentlich in ausgewählten Kinos gezeigt werden.

→ 15. Festival des Mittel- und Osteuropäischen Films „goEast“ in Wiesbaden
→ „goEast“ 2014 – Festival des mittel-und osteuropäischen Films
→ goEast – 13. Festival des mittel- und osteuropäischen Films
→ goEast – 12. Festival des mittel- und osteuropäischen Films
→ Filmfestival „goEast“ 2011

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