60 Jahre Fotografie von Sam Shaw in den Opelvillen
„Marylin und andere Diven“ –
Suchen, um zu finden
Von Hans-Bernd Heier
Wer kennt das Foto nicht: Marilyn Monroe mit wehendem, weißem Kleid über einem Lüftungsschacht der New Yorker Subway stehend? Umgeben von einer Fotografen-Meute versucht die junge Aktrice den hochfliegenden Rock zu glätten, dabei blickt sie lächelnd direkt in die Kamera. Dieses Foto ging im September 1954 um die Welt und eroberte tags darauf die Titelseiten der Zeitungen nicht nur in New York, sondern auch in Berlin, London, Paris und Rom und machte Marilyn im Handumdrehen international bekannt. Doch wer stand hinter der Kamera? Es war Sam Shaw (1912-1999). Als Freund Marilyn Monroes hat er mit ihr während des Drehs zum Film „Das verflixte 7. Jahr“ sein wohl berühmtestes Bild inszeniert.
Sam Shaw, „Marilyn Monroe. Das verflixte 7. Jahr“, New York City, 1954; © Sam Shaw Inc./www.shawfamilyarchives.com
Die Opelvillen in Rüsselsheim widmen dem amerikanischen Starfotografen unter dem Titel „Marylin und andere Diven: Remembering Sam Shaw. 60 Jahre Fotografie“ eine große Ausstellung. In der weltweit ersten umfassenden Retrospektive des bekannten Fotokünstlers werden über 200, zum Teil noch unbekannte Schwarz-Weiß-Arbeiten gezeigt -ausgewählt aus einem Konvolut von Tausenden von Fotos. Obgleich Shaw auch farbig fotografiert hat, war für ihn das Künstlerische die Schwarz-Weiß-Fotografie. Die von Beate Kemfert, Vorstand der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, glänzend kuratierte und klar strukturierte Schau ist bis zum 28. Februar 2016 zu sehen. Nach den Werken der Bildkünstler Toni Schneiders und Pietro Donzelli präsentieren die Opelvillen eine weitere hervorragende Fotoschau.
Sam Shaw, 1912 in Manhattan geboren, blieb zeitlebens ein eingefleischter New Yorker. Er begann seine Karriere als Fotograf in den 1940er-Jahren mit Aufnahmen für das „Collier´s-Magazin“ und wurde durch seine tiefgründige Fotoserie „How America Lives“ bekannt. Seine beiden Nikon-Kameras begleiteten ihn auf Schritt und Tritt. Schwerpunkt seiner Tätigkeit war zunächst der Fotojournalismus: Er bereiste die USA, um die Lebenswelt der Jazzmusiker in New Orleans, der Farmpächter im Mittleren Westen, der Grubenarbeiter in West Virginia und die Bürgerrechtsbewegung zu dokumentieren. Diese Bilder sind in der sehenswerten Präsentation ebenso zu sehen wie eine Auswahl aus amerikanischern Magazinen wie „Life“ und „Look“, deren Titelseiten in den 1950er- und 1960er-Jahren Shaws Fotos zierten.
Sam Shaw, „Marilyn Monroe. Das verflixte 7. Jahr“, New York City, 1954; © Sam Shaw Inc./www.shawfamilyarchives.com
Anfang der 1950er-Jahre machte er sich auch in der Filmindustrie einen Namen, unter anderem mit dem legendären Foto von Marilyn Monroe, als die junge Schauspielerin noch am Beginn ihrer Karriere stand. Er fotografierte die Hollywood-Ikone während ihres gesamten Berufslebens, aber auch viele andere Stars der Filmbranche. Von ihm stammt beispielsweise die berühmte Aufnahme von Marlon Brando im gerippten T-Shirt für den Film „Endstation Sehnsucht“ von 1951. Von Anthony Quinn, mit dem er befreundet war, fertigte er ebenfalls ganze Fotoserien an. „Für Shaw war es ganz wichtig, die Person, die er porträtierte, kennenzulernen oder zumindest eine Weile zu studieren, nur so war es ihm möglich, das Wesen seiner Sujets zu erfassen“, erläutert Melissa Stevens, Direktorin der Shaw Family Archives New York. Um seine Modelle aufzulockern, ließ er im Hintergrund Musik spielen.
Shaw porträtierte sämtliche Größen des Showbusiness seiner Zeit, allerdings konzentrierte er sich vor allem auf Diven wie Audrey Hepburn, Liz Taylor, Gina Lollobrigida, Claudia Cardinale, Melina Mercouri, Natalie Wood und Romy Schneider. Seiner Meinung nach waren diese meist unbefangener als ihre männlichen Kollegen. „Obwohl viele von den Diven zu den schönsten Frauen der Welt gehörten, war er nie primär am schönen Schein, an ‚glamourösen‘ Aufnahmen interessiert. Seine Arbeiten bieten vielmehr kühne, ungeschminkte Porträts von seinen Sujets“, schreibt seine Biografin Lorie Karnath. „Sam war in erster Linie Künstler, er wählte zufälligerweise die Fotografie als Medium“.
Kuratorin Beate Kemfert (li.) und Melissa Stevens beim Presserundgang; Foto: Hans-Bernd Heier
Trotz der beachtlichen Breite seines fotografischen Werkes wurde Shaw vor allem durch seine Aufnahmen mit Marilyn Monroe international bekannt. Er lernte die damals häufig beschäftigungslose junge Aktrice bei Dreharbeiten zu dem Film „Viva Zapata“ (1952) per Zufall kennen. Sie holte den damals schon bekannten Fotografen mit einem Wagen an der Rezeption der Filmstudios ab, um ihn zum Drehort zu fahren. In diesem Film wirkte Anthony Quinn mit, der für seine schauspielerische Leistung mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.
Als einer ihrer ersten „Entdecker“ fotografierte Shaw die später als „die Film-Ikone des 20. Jahrhunderts“ gefeierte Schauspielerin über viele Jahre. Mit Marilyn verband ihn eine langjährige Freundschaft. „Diese enge Bindung gestattete ihm, über das Image einer lasziven Sexgöttin hinauszugehen, das Marilyn und die Filmstudios ihren Fans zu präsentieren suchten, und die facettenreiche Frau hinter der Fassade zu entdecken“, so Lorie Karnath. In dem ersten Ausstellungraum in den Opelvillen, der ausschließlich Monroe-Abbildungen gewidmet ist, kann der Besucher sich ein Bild von der Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit dieser faszinierenden Frau machen. Für Shaw war seine Freundin Marilyn kein „Pin-up-Girl“, sondern eine „zeitgenössische Aphrodite“, die sich auf Stichwort in eine Schalterangestellte, eine Restaurantbedienung oder ein Playmate am Strand verwandeln konnte, so Karnath.
Shaw war ein früher Anhänger der „narrativen Fotografie“ und wollte mit seinen Bildern Geschichten erzählen. Eine besondere erzählte ihm allerdings Marylin nach einem Foto-Shooting im Central Park in New York, wie Beate Kemfert erläutert: Bei einem gemeinsamen Spaziergang hatte Marilyn sich Shaws Zeitung geschnappt und sich unbemerkt zu einem Pärchen auf eine Bank gesetzt. Sie gab zwar vor, die Zeitung zu lesen, aber in Wirklichkeit lauschte sie dem Gespräch ihrer Banknachbarn. Der junge Mann neben ihr machte gerade seiner Freundin einen Heiratsantrag. Die Umworbene sagte zwar ja, aber nur unter der Bedingung, dass er seinen Beruf als Buchmacher aufgebe. Später benannte Shaw diese Fotoserie „The Proposal“ (Der Heiratsantrag).
Sam Shaw, „Kinder spielen mit Murmeln“, Missouri, 1943; © Sam Shaw Inc./www.shawfamilyarchives.com
In den anschließenden Räumen sind lebendige Ansichten von Shaws geliebtem New York zu sehen sowie von einigen Exil-Künstlern wie Marc Chagall, Fernand Léger oder Jacques Lipchitz, die er dort kennenlernte. Der reisefreudige Shaw hielt mit seiner unbefangenen Entdeckerfreude aber auch europäische Metropolen wie London, Paris, Rom oder Wien in stimmungsvollen Aufnahmen fest. „Er sah die Dinge immer wieder aus einer einzigartigen Perspektive, als nähme er sie zum ersten Mal wahr. Diese Herangehensweise hatte zur Folge“, wie Karnat erklärt, „dass seine Arbeit stets frisch, kreativ und unnachahmlich wirkte“.
Shaw, dessen berufliche Laufbahn mehr als ein halbes Jahrhundert umfasste, war keineswegs auf die große Welt des Glamours fixiert, sondern auch politische, gesellschafts- und sozialkritische Themen wie Proteste gegen den Vietnam-Krieg, Rassendiskriminierung in den Südstaaten der USA, Gewalt und Verbrechen fanden in seinen Fotoreportagen breiten Niederschlag. Der engagierte Fotograf, der nur analog arbeitete und sich stets für lebendige Darstellungen interessierte, hat auch hinreißende Familien- und Kinderaufnahmen gemacht, von denen etliche in der Rüsselsheimer Schau zu sehen sind.
Melissa Stevens, Direktorin der Shaw Family Archives, erläutert Arbeiten ihres Großvaters; Foto: Hans-Bernd Heier
Anders als Pablo Picasso, der einmal erklärt haben soll: „Ich suche nicht, ich finde“, hat Shaw von sich gesagt: „Ich persönlich suche, um zu finden. Das Unerwartete zu finden, an der nächsten Ecke, zu sehen, was passiert, ist für mich ein visuelles Abenteuer“. Darauf ließ er sich stets aufs Neue ein.
In den 1960er-Jahren begann Shaw, auch Spielfilme zu produzieren. Den Auftakt machte 1961 „Paris Blues“ mit Paul Newman und Sidney Poitier. Gemeinsam mit seinem Freund, dem US-amerikanischen Drehbuchautor und Schauspieler John Cassavetes, produzierte er eine Reihe preisgekrönter Filme, unter anderem „Gesichter“, 1968, „Ehemänner“, 1970, „Eine Frau unter Einfluss“, 1974, „Die Ermordung eines chinesischen Buchmachers“, 1976, „Die erste Vorstellung“, 1977, „Gloria, die Gangsterbraut“, 1980 und „Love Streams“, 1984. Doch Sam Shaws bevorzugtes Medium war und blieb die Fotografie, die eine beeindruckende Lebendigkeit und Frische ausstrahlt. Davon haben sich bereits viele Besucher begeistern lassen. Allein am ersten Ausstellungstag konnte die Kuratorin sich über fast 500 Besucher freuen.
Die sehenswerte Schau wird wieder von einem breiten Rahmenprogramm begleitet, darunter museumspädagogische Kunstführungen für Menschen mit Demenz „Nur der Augenblick zählt“.
„Marylin und andere Diven: Remembering Sam Shaw. 60 Jahre Fotografie“, Opelvillen Rüsselsheim, bis 28. Februar 2016
Bildnachweis (soweit nicht anders bezeichnet): Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim