Christiana Protto und der Hauch eines west-östlichen Zaubers
Vom Hauch eines west-östlichen Zaubers soll die Rede sein – wie das? Wir konkretisieren: Nicht um den West-östlichen Divan soll es gehen, sondern um Fernöstliches, genauer gesagt um China.
Wir stellen dazu auch einmal – jedenfalls für die Momente unserer Betrachtungen – alle tagespolitischen, alle uns über das Jahr hinweg begleitenden Sorgen und Bedenken, wenn es um das politische China geht, und all das hintan, was sich mit der mutig-klugen Entscheidung des Komitees zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo schon ergeben hat und noch ergeben wird. Denn hier und heute soll es um nichts anderes als um Kunstwerke gehen, ganz individueller Art und ohne jeglichen Überbau, so jedenfalls möchten wir es verstehen.
Und fast überflüssig, es unseren Leserinnen und Lesern erneut zu signalisieren: dass wir sie nicht mit den üblichen Sprachwerkzeugen aus dem Handwerkskasten hochgerüsteter kunsthistorischer Gelehrsamkeit traktieren.
Nun, es begann recht unspektakulär, in einer Atelierwohnung im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, als wir eines Stapels dünnen, feinen Papiers ansichtig wurden, wir bemerkten, dass sich manche der Blätter wohl unter dem Einfluss von Flüssigem, so erklärten wir es uns, etwas verzogen hatten, das eine oder andere uns sozusagen knautschig ansah, auch von den Rändern her eine Spur fledderig erschien, und deshalb wurden wir neugierig. Und wieder einmal bestätigte sich die Erfahrung, dass Neugier produktiv ist und belohnt wird.
Es können gerade jene beschriebenen Eigenschaften sein, die aus einem gewöhnlichen Blatt dünnen Papiers etwas ganz besonderes zu machen vermögen. Aber was sind das eigentlich für Papiere, was bedeuten sie uns, dass wir uns ihnen mit steigender Empathie zuwenden?
Hut
Zettel, vielleicht von einem Notizblock abgerissen, zumeist liniert, mit einem Aufdruck chinesischer Schriftzeichen versehen, ferner per Hand beschrieben, mit wiederum chinesischen Schriftzeichen, zugleich ergänzt mit erkennbar heimischen Buchstabenfolgen, es könnte sich um Lautschrift handeln, das komplizierte Wort „Rhythmus“ wiederum ist entzifferbar: Ein Kritzelzettel der besonderen Art? Oder lernt hier jemand die chinesische Sprache?
Und dann: Über allem Gedruckten und Geschriebenen, mal auf kopfstehendem, meist auf querliegendem Blatt, eine Zeichnung, eine Malerei, aus Tusche oder Gouache. Hier ein Mensch mit – dem Titel entsprechend – Hut? Oder ein etwas vermenschlichter Pandabär? Oder am Ende gar ein Zauberer?
Manchmal ist es gut, sich zu lösen von der ständigen Suche nach Deutbarem, nach Gegenständlichem, das ausmachen und ihm einen alltäglichen Sinn geben zu müssen wir allzu oft glauben. Ist dieses Blatt, mag es nun Hut heissen oder wie auch immer, nicht einfach ein geheimnisvolles Vexierspiel? Warum ihm sein Geheimnis entreissen? Und ist dieser Hutmensch, Pandabär, Zauberer auf dem Blatt nicht in einer Weise zwischen, vor oder hinter den Buchstaben und Schriften eingezeichnet, dass keine andere kompositorische Gestaltung überzeugender, ja überhaupt möglich erscheint?
Wer studiert hier im erhellenden Schein eines Lämpchens?
Lampe
Es ist an der Zeit, ein bisher gehütetes Geheimnis dieser Blätter zu lüften: „Tao Ke Rui’s Diaries“ sind sie betitelt. Um ein Tagebuch geht es also. Ein Tagebuch einer Künstlerin. Und Tao Ke Rui ist niemand anderes als die in einem unserer Porträts vorgestellte Künstlerin Christiana Protto – nur eben hat sie ihren Namen in die chinesische Sprache umgesetzt.
Und die bedruckten seidenpapiernen Blätter? Sie sind Skriptzettel einer chinesischen Kunsthochschule. Wir erinnern uns: Christiana Protto hatte 2006 das Studium des Chinesischen aufgenommen.
Die auf das Jahr 2007 datierten Arbeiten, die uns bezaubern, zumeist in etwa im Format A4, sind in chinesischer Tusche und in Gouache ausgeführt, seltener in Tusche allein. Meist sind sie Übermalungen von – wie bereits ausgeführt – Aufzeichnungen in Kugelschreiber oder Bleistift. „Tao Ke Rui’s Diaries“ waren Exponate einer vielbeachteten Ausstellung in der Yannan Galerie in Hangzhou, wo die Künstlerin sich in 2008 rund ein halbes Jahr lang aufhielt und arbeitete.
Seide
Wir sprechen von Seidenpapier, wir haben eine Vorstellung von verschiedenen Seidenstoffen, und wir können uns – ergreift uns bereits erneut der eingangs erwähnte Zauber? – kaum einen anderen Titel für dieses Blatt wünschen. Es sind „alte“, gebrochene, wunderbar stille Farben, durchaus ein wenig morbid und melancholisch anmutend, sie könnten an viele Jahrhunderte alten seidenen Gewändern anzutreffen sein. Schon im 3. Jahrtausend v. Chr. begann die chinesische Tradition der Seidenproduktion.
Regengarten
Der Hauch eines west-östlichen Zaubers: er scheint in der Tat auf allen diesen Arbeiten zu liegen. Wie hingehaucht mit leichter und doch so sicherer Hand erscheint der Auftrag von Tusche und Gouache auf die Blätter, wie behutsam, fast zärtlich muss Christiana Protto den Tuschpinsel geführt haben.
Es ist eine Begegnung, ein sensibler Dialog, ein ineinander Verwobensein von Schrift und Zeichnung. Wie auch zugleich ein Verwobensein des aus überzeichneter Schrift im künstlerischen Gestaltungsprozess neu Entstandenen mit dem fragilen Malgrund. Dieses dünne, transparent erscheinende, verletzliche Material – wir sprechen eben nicht umsonst von Seidenpapier – nimmt Tusche und Gouache in einer besonderen Intensität auf, es verändert in der Durchfeuchtung und dem Prozess des anschliessenden Trocknens seine papierne Gestalt, geht eine untrennbare Bindung mit den einwirkenden Elementen ein. Wir können gleichsam das Sichtbare mit den Fingerkuppen fühlen, den Zauber der haptischen Wahrnehmung, wenn wir sie über das wellig-verzogene Blatt gleiten lassen.
Boot 1
Wie sich Protto im Laufe ihres Sinologiestudiums mehr und mehr das Chinesische aneignet, so adaptiert sie Motive und Szenerien der uralten chinesischen Kultur der Tuschezeichnung, baut sie mit ihren besonderen künstlerischen Wahrnehmungen und Möglichkeiten eine Brücke zu unserer westlichen Sichtweisen verhafteten Rezeptionsebene. Ein Zauber dieser alten fernöstlichen Einsichten in Natur und Mensch vermag sich dem Betrachter zu vermitteln. Und wir gewinnen – wie etwa beim Anblick des „Regengartens“ – ein klein wenig Gespür für den Zusammenhang zwischen einem – mitunter aus mehr als 20 winzigen einzelnen Strichen gebildeten – chinesischen Schriftzeichen und einer auf ältesten Naturphilosophien sowie später dem Konfuzianismus und dem Taoismus gründenden Kultur.
So könnten uns Christiana Prottos Blätter auch an die Ursprünge menschlicher, die einstige allein phonetische Verständigung überschreitender, visuell überlieferbarer Kommunikation erinnern, wie sie in Höhlenmalereien und den Anfängen der Bilderschriften ihren Ausgang nahm. In China begründeten in der Jungsteinzeit einfache kleine Zeichnungen und Bilder die sich in den folgenden Jahrtausenden stetig weiter entwickelnden Schriftzeichen.
Blackbloom
Und wir sind bei der hohen Kunst der chinesischen Kalligrafie, die uns in manchen dieser verzaubernden Blätter in anmutiger Andeutung begegnet, in der sich Zeichnen und Schreiben auf eine besondere Weise vereinen.
Mit wenigen minimalistischen Strichen: Hier ein Mönch in tiefer meditativer Einkehr, in einer uns im Westen so fern gewordenen Welt von Askese und Demut. Dort ein Lastenträger, ein unter dem jahrelang geduldig getragenen Joch in seiner körperlichen Gestalt verkrümmter Mensch, ein Individuum aus einem grossen Volk – in einen Engel verwandelt. Uns erschliesst sich in den beiden in einem Kontext gesehenen Zeichnungen ein Zusammenhang und Zusammenklang auf dem Weg in ein visionäres Etwas, das wir uns als eine auf eine andere Ebene gehobene, menschlichere Zukunft vorstellen möchten.
Mönch
Lastenengel
Am Ende schliesst sich ein Kreis, wir kehren zurück zu manchen Anfängen: Wir erinnern uns der Vasen, mit denen sich Christiana Protto seit der späten Mitte der 1990er Jahre beschäftigt. Vasen – dem frühen Aufbewahrungsort der Menschheit für Öl, Wein und Getreide, und: dem Symbol für die grosse chinesische Porzellankunst.
Kringelvase
In Kürze werden wir Gelegenheit haben, neue Arbeiten der Künstlerin kennenzulernen: Am 28. Oktober 2010 um 19 Uhr eröffnet sie unter dem Titel „Return to Go“ ihre Ausstellung bei HOME ABROAD, Schifferstrasse 66, Frankfurt am Main-Sachsenhausen.
Als Nachklang ihres Aufenthalts in China schlägt sie, soviel verrät sie uns vorab, „zeichnerisch und malerisch einen Bogen von den historischen Tapeten der Ausstellungsräume über die Ornamenttradition des Orients bis hin zu den Gärten und Landschaften des ‚Fernen Ostens‘ „.
(abgebildete Werke und Fotografien © VG Bild-Kunst, Bonn)