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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Matthäus-Passion BWV 244 in der Alten Oper Frankfurt

Hervorragend, doch nicht ergreifend

Von Petra Kammann

Alljährlich wird traditionsgemäß am Karfreitag in Stadt und Land trotz Länge und großer Besetzung die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach mal von Laien, mal von Profis aufgeführt. In Picanders frei gedichteten Texten über das Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Matthäus-Evangelium sind Bachs Passionschoräle, freie Chöre und Arien eingebunden. In der Alten Oper Frankfurt sollte eine hochkarätige Besetzung mit exzellenten Solisten unter der Leitung des italienischen Cembalisten, Dirigenten und Bachliebhabers Francesco Corti überzeugen, dazu das renommierte Freiburger Barockorchester mit seiner historischen Aufführungspraxis und die Zürcher Sing-Akademie – beides Spitzenensembles. Doch ist manchmal das Ganze mehr als sie Summe seiner Teile…

Schlussapplaus in der Frankfurter Alten Oper für die Solisten, Foto: Petra Kammann

Gleich zwei Chöre und zwei Orchester hatte der Thomaskantor Bach für eine Aufführung, dazu eine Reihe von Solisten vorgesehen, was sowohl den Emporen in der Leipziger Thomaskirche, als auch dem dialogischen Aufbau des von der Barockoper beeinflussten Oratoriums entsprach. In der Frankfurter Aufführung waren Stars wie der französische Countertenor Philippe Jarroussky wie auch die ukrainische, von der renommierten Mezzosopranistin und Gesangspädagogin Hedwig Fassbender ausgebildete Sängerin Kateryna Kasper mit ihrem glashellen Sopran dabei, die über die Frankfurter Oper ihre Weltkarriere begonnen hat.

Spielt sich das dramatische Geschehen jedoch nicht auf einer Opernbühne oder in einer Kirche mit Orgel ab, so stellen sich im Zeitalter der Kurzlebigkeit von Events rund drei Stunden Gesang ohne direkte Handlung für heutige Dirigenten eine arge Herausforderung dar, zumal die verborgene Dramatik der Passionsgeschichte nicht unmittelbar sichtbar ist. Sie muss aber unbedingt hörbar werden und das Publikum von Anfang an fesseln.

In der Frankfurter Aufführung  bestand die Bewegung wohl vor allem darin, dass der ansonsten zweifellos brillante Cembalist Francesco Corti, der gleichzeitig auch als Dirigent fungierte, sich auf den Wechsel zwischen Rechts- und Linksplatzierung konzentrierte, ständig hin- und hersprang, die Solisten jeweils nach vorne holte und wieder in die hintere Reihe zurücktreten ließ, so dass eine gewisse Grundunruhe entstand. So ließ auch die Doppelchörigkeit kein üppiges Gesamtklangbild entstehen, das Auge kam kaum zur Ruhe, um die Musik auf sich wirken zu lassen und zu verinnerlichen.

Eine Einführung gab der Dirigent Christian Kabitz im Mangelsdorff-Saal, Foto: Petra Kammann

Wer der kenntnisreichen historischen Einführung des langjährigen Leiters und Dirigenten des Frankfurter Cäcilienchors Christian Kabitz in das hochkomplexe Oratorium vorab gefolgt war, hatte vielleicht andere Erwartungen: der hätte gern ein „dramma per musica“ alla Karajan erlebt. Das wurde es nicht.

Als Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Eduard Devrient (1801-1877) das 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführte Oratorium ein Jahrhundert später wiederentdeckt hatten, war dem eine gewaltige Bach-Renaissance gefolgt. Nur wenige Wochen später gelangte die neue mendelssohnsche Fassung der Matthäus-Passion schon bald nach Frankfurt und wurde dort unter der Leitung Mendelssohn Bartholdys vom Cäcilien-Verein aufgeführt. Später forderte diese Passion die großen Dirigenten heraus, die Passion so opulent und vielgestaltig anzulegen wie möglich.

Kabitz charakterisierte die Grundstruktur der Matthäus-Passion so: „Der Evangelist als Erzähler der Passion mitsamt den handelnden Personen  und dem Chor als Volksmenge eilt dramatisch beflügelt durch das Geschehen, die Choräle geben die Betroffenen, die hoffende, die ichbezogene Antwort der Gemeinde, jedes Mal acht Atemzüge lang.“

Diese beflügelnde Dramatik im Ausdruck, welche die gesamte Palette menschlichen Verhaltens jenseits der biblischen Auslegung wie Verrat, Liebe, Neid und Grausamkeit widerspiegelt, wollte sich vor allem im ersten Teil der Frankfurter Aufführung der Matthäus-Passion so recht nicht einstellen. Da fehlte es an Spannung.

Unweigerlich sehnte man sich nach entsprechenden dynamischen – inzwischen historischen – Einspielungen eines Furtwängler, Karajan, Otto Klemperer oder Karl Richter, die nicht zuletzt durch deren Opernpraxis entstanden waren. Später wurden diese Aufführungen durch die historisch informierte Aufführungspraxis entschlackt, wenn auch nicht entdramatisiert. Man denke nur an die Aufführung eines René Jacobs aus dem Jahre 2017 mit dem wunderbar emphatischen Julian Prégradien als Evangelist.

Ein bisschen mehr Volumen der ansonsten sehr präzisen Stimmen der Choristen der Zürcher Sing-Akademie hätte man sich schon gewünscht. Schließlich repräsentieren sie nicht zuletzt auch des Volkes Stimme, wenn die Hölle der wütenden Menge ganz präsent ist „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden. Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle. Zertrümmre, verderbe, zerschelle .Mit plötzlicher Wut. Den falschen Verräter das mördrische Blut“, während die berühmten Choräle wie in „Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein“ bisweilen angenehm zurückgenommen klangen oder das Piano nach der Stille kurz vor dem Tode Jesu  „Wenn ich einmal soll scheiden“, das geradezu schwebend wirkte.

Und was die Solisten angeht, die jede(r) für ich genommen, exzellent sind, so waren sie aber nicht so packend, dass man alles um sich herum vergaß. Dabei bilden die 15 von Bach eingebauten Arien sowohl musikalisch als auch theologisch die Herzstücke der Passion, deren Grundlage die freien Dichtungen Picanders sind, mit denen sich auch Nicht-Gläubige identifizieren können.

Der Countertenor Philippe Jaroussky, Foto: Simon Fowler

Wer jemals zuvor den Countertenor Philippe Jaroussky mit seiner geschmeidigen Stimme und in seiner unnachahmlichen Leichtigkeit auf der Bühne erlebt hat, konnte es kaum fassen, wie sehr er diesmal vor allem zu Beginn und unmittelbar nach der Pause um Atem rang und mit der Aussprache der altertümlichen deutschen Sprache kämpfte wie im Accompagnto „Du, lieber Heiland du, Wenn Deine Jünger töricht streiten“, während der amerikanische Tenor Zachary Wilder in seinen Arien teils sehr metallisch klang.

Immerhin drang der junge Bassist Andreas Wolff mit seiner voll tönenden Stimme durch. Seine Arie „Komm süßes Kreuz“ im Zusammenspiel wirkte durch die Begleitung mit der fast zeitgenössisch klingenden Gambistin überzeugend. In der berühmten, geradezu tänzerisch angelegten Arie „Erbarme Dich, mein Gott“ hatte Jaroussky sich glücklicherweise wieder etwas gefangen. Gab es einen Grund, warum er nicht so disponiert war? Natürlich ist eine Live-Aufführung, die ich für nichts in der Welt missen möchte, und schon gar nicht die Matthäus-Passion, immer mit Risiken verbunden.

Der Cembalist, Dirigent und Bachliebhaber Francesco Corti, Foto: Caroline Doutre

Die Freiburger Instrumentalisten unter der kundigen Leitung des Violinisten Gottfried von der Goltz, die wie der Chor in zwei Gruppen als Doppelorchester aufgeteilt waren, spielten sowohl auf historischen Instrumenten wie Oboe d’amore, Oboe da caccia, Travers- und Blockflöten sowie Viola da Gamba, mit zusätzlich zwei Cembali und Fagott. Hier hörte man in einzelnen Partien durchaus deren Meisterschaft heraus.

Fairerweise muss man sagen, dass die Tournee dieses ansonsten so hervorragend zusammengestellten Ensembles mit der Matthäus-Passion in Frankfurt begonnen hat. So bedarf es vielleicht einer längeren Zusammenarbeit aller Beteiligten, damit Corti das Beste aus den Musikern herausholen und so ein Ganzes, der Matthäus-Passion angemessen, daraus werden kann.

Schlussapplaus in der Alten Oper für die Instrumentalisten, Foto: Petra Kammann

Mit dem gemeinsam gestalteten Schlusschor und allen Solisten „Ruhet sanfte, ruhet wohl“ endet die Passion und damit der Leidensweg. Da war das musikalische Geschehen zusammengewachsen. Entsprechend fiel zum Schluss der Applaus aus. Und es wurde einem noch einmal die gewaltige Herausforderung bewusst, die an alle Beteiligten dieses ungeheuren Werkes gestellt ist, und die eine enge Zusammenarbeit erfordern.

So würde man die teils noch sehr jungen Akteure, durch mehrfache Aufführungen gereift, gerne nach ihrer Tournee noch einmal hören, um die Tiefe dieser besonderen Passion auszuloten. Vielleicht sind ihre Auftritte im Nachbarland Frankreich entspannter. Am heutigen Freitag vor Palmsonntag musizieren sie im Théâtre des Champs-Élysées in Paris, bevor sie nach Ostern, am 5. April, in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten werden. Man darf auf die Reaktionen gespannt sein.

Veranstalter waren die Frankfurter Bachkonzerte e. V. in Kooperation mit der Alten Oper Frankfurt

 

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