Wie war das Jahr? Persönliche Entdeckungen aus dem Autoren-Team von FeuilletonFrankfurt
Mein persönliches Highlight
Anregungen unserer Autoren und Autorinnen, die ein oder andere Veranstaltung, Ausstellung, Fragestellung, Reise oder auch ein Gebäude noch einmal unter die Lupe zu nehmen
Petra Kammann
Unerwartet in einem Kabinett inmitten der Sammlung Alter Meister in meinem geliebten Städel Museum, wo im Peichl-Bau gerade die fantastische Holbein-Ausstellung läuft, haben mich die intimen geheimnisvoll-dunklen Gemälde des rumänischen Künstlers Viktor Man (*1974) ähnlich fasziniert wie seit langem schon das Licht auf den Bildern Caspar David Friedrichs. Was haben diese Gemälde gemein? Auf den ersten Blick nichts, abgesehen von der Einsamkeit der dargestellten Person. Ist es vielleicht die – eine unbestimmte Melancholie erzeugende – farbliche Delikatesse, die neue Imaginationsräume eröffnet und uns beim Sinnieren über das Wesentliche unweigerlich in die Tiefe der Wahrnehmung führt, die niemals eindeutig ist? Viktor Man nennt seine Porträt-Werkserie frei nach Hölderlin: „Die Linien des Lebens“. Unter dem Titel „The Chandler“ nimmt er diese Linien wieder auf, trennt Kopf und Körper voneinander und verschränkt Vergangenheit und Gegenwart wie in einem eigentümlichen „Selbstbildnis mit Vater“. Geradezu altermeisterlich gemalt sind sie allemal! Und man könnte mit Goyas „Capricho“ 72 ergänzen:„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“.
Ausstellungsansicht Victor Man. Die Linien des Lebens, Foto: Norbert Migueletz Städel Museum
Ein kommender Höhepunkt, der ebenfalls das genaue Hinschauen lohnen wird: Anlässlich der Schenkung eines Konvoluts von 46 Zeichnungen und Aquarellen des lange umstrittenen Leipziger Malers Werner Tübke durch das Ehepaar Barbara und Eduard Beaucamp an das Städel bin ich schon sehr gespannt auf die baldige Ausstellung…
Hans-Bernd Heier
Der deutsche Grafiker und Holzschneider HAP Grieshaber revolutionierte die Technik des Holzschnitts im Deutschland der Nachkriegszeit. Der „Homme engagé, für den es selbstverständlich ist, dass eine Sache nur dann einen Wert hat, wenn sie politisiert worden ist“, nutzte dafür die Mittel des traditionellen Holzschnitts als Sprachrohr seiner sozialen wie politischen Ansichten und Forderungen.
Seine großformatigen, Arbeiten in abstrahiertem, figurativem Duktus thematisieren essentielle Fragestellungen unserer Gesellschaft, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben – von Fragen sozialer Gerechtigkeit bis hin zum Naturschutz. Ein Blatt, das mich besonders beeindruckt hat, ist das Plakat: „Umweltschutz – Sache der Jugend“ von 1972.
Mit diesem Schriftzug in grünen Lettern machte der Künstler bereits vor über 60 Jahren auf den Handlungsbedarf beim Umweltschutz aufmerksam. Rückblickend könnte der verantwortungsbewusste Holzschneider als „Vordenker“ der friedlichen Protest-Bewegung “Fridays for Future“ gesehen werden.
Einen Abstecher in das zweite Obergeschoss sollte man aber auch nicht versäumen. Da begegnen wir der reizvollen Präsentation „Zeitfenster: Stephan Balkenhol trifft Alte Meister“.
Ausstellungsansicht der Grieshaber-Schau; Foto: Museum Wiesbaden/Christoph Boeckheler
Paulina Heiligenthal
„Ich bin nicht krank! Ich bin gebrochen. Aber solange ich malen kann, bin ich froh, dass ich am Leben bin!“ Im wunderbaren Ambiente der Opel-Villen in Rüsselsheim haben mich die fast 250 Fotografien aus dem persönlichen Bilderarchiv von Frida Kahlo, 1907 – 1954 ,begeistert.
Eine der faszinierendsten Künstlerikonen des zwanzigsten Jahrhunderts gewährt Einblick in ihr persönliches Album, eine immense Bildersammlung, die erst 50 Jahre nach ihrem Tode ans Licht kam.
Persönliche Eindrucke von ihrer Familie, ihrer Freunde sowie ihrer Begeisterung für die Fotografie erlebt man hier. Nicht zuletzt ihr bewegtes Leben, geprägt von Krankheit, Leiden, aber auch von einem unerschöpflichen Lebenswillen, entsprungen aus ihrer Malerei, werden sichtlich.
Ebenfalls die 20 Jahre ältere, bereits arrivierte Künstlerpersönlichkeit Diego Rivera, in Liebe und im Kampf gegen die Bourgeoisie mit ihr vereint, wird in vielen Facetten beleuchtet. Sie galten als eines der schillerndsten und prominentesten Liebespaare der Kunstgeschichte.
Eine Tisch-Dekoration zu Ehren der mexikanischen Künstlerin, Foto: Paulina Heiligenthal
Uwe Kammann
Das höchste irdische Glück im Rhein-Main-Raum? Ganz einfach: jedes Konzert im immer noch nagelneuen, aber zugleich urvertraut wirkenden Casals Forum.
Jeder Ton in diesem warmen Konzertsaal, der an das Innere eines riesenhaft vergrößerten Cellos erinnert, verkörpert musikalische Reinheit in größtmöglicher Steigerung.
Das weitere Wunder: Dieses intensive Musikerlebnis stellt sich immer ein, egal, ob es sich um ein Klaviersolo oder ein Orchesterstück handelt. Nochmals unterstrichen und melodiös betont: das größte Glück.
Was könnte eine solche Bezeichnung für Frankfurt selbst bedeuten?
Nun, für viele kommende Jahre zumindest eines. Dass jeder Besucher, der die Paulskirche betritt, im strengen Foyer mit dem so kräftigen Grützke-Wandbild auf eine Glasvitrine stößt, die – modern muss es schon sein! – einen Bildschirm birgt. Mit der ständigen Inschrift auf dem Display: „Hier befinden Sie sich im Haus der Demokratie“. Punkt. Und jeder sollte diesen Punkt ernstnehmen.
Christoph Eschenbach dirigierte im Kammerkonzertsaal des Casals Forums, Foto: Petra Kammann
Renate Feyerbacher
Vor kurzem gab es in der Alten Oper Frankfurt die Deutsche Erstaufführung – Uraufführung in Budapest – des Konzertes für zwei Trompeten und Orchester op.104 des türkischen Komponisten und Pianisten Fazil Say (1970). Ein Auftragswerk des hr-Sinfonieorchesters, gewidmet den weltberühmten, preisgekrönten Trompetern, dem gebürtigen Ungarn Gábor Boldoczki und dem gebürtigen Russen Sergei Nakariakov.
Dazu Say: „Ich habe das Konzert ganz nach ihren virtuosen Fähigkeiten ausgerichtet“.
Herausragend auch das hr-Sinfonieorchester unter Alain Altinoglu, der mit Fazil Say Bachs Konzert für zwei Klaviere, c-Moll BWV 1062 interpretierte. In der Oper Frankfurt war es die Uraufführung „Blühen“ von Vito Zuraj und Händl Klaus (Regie: Brigitte Fassbaender) und „Le grand macabre“ von György Ligeti (Regie Vasily Barkhatov, Dirigat Thomas Guggeis).
Erhard Metz
Unsere OPER FRANKFURT: Siebenmal „Opernhaus des Jahres“ – Ergebnis „harter, beharrlicher Arbeit“, wie Intendant Bernd Loebe betont. Ich sah in diesem Jahr in begeisternden Inszenierungen Händels hinreißenden „Orlando“, den Leckerbissen „Francesca da Rimini“ von Mercadante, Donizettis herrlich tragikomischen „Don Pasquale“, natürlich Mozarts bissig-komödiantisches Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“ und jüngst dessen bezauberndes Jugendstück „Ascanio in Alba“.
Natürlich auch die im Publikum erstaunlich heftig umstrittene, teils bebuhte Premiere der „Aida“, als „Antikriegs“-Inszenierung so diametral anders als der heldisch-opulente Opern-Schinken, wie ich ihn in der Arena von Verona erlebte.
Wurde da in Zeiten weltweiten Unheils – sind wir doch Zeitzeugen entsetzlichen Geschehens in der Ukraine und in Gaza – ein vorweihnachtlich-eskapistisches Friedensbedürfnis verletzt? „Das Stück war ein großer Erfolg. Nur das Publikum ist durchgefallen“ kritisierte einst Oscar Wilde.
Innenansicht der Oper Frankfurt © Rui Camilo
Simone Hamm
Das Jahr war reich an kulturellen Höhepunkten. Doch ein sehr alter weißer Mann hat sie – in meinen Augen – alle getoppt: Jan Vermeer. Die Bilder, die in der großen Ausstellung im Rijksmuseum in Amsterdam gezeigt wurden, sind rätselhaft.
Es geht ein Zauber aus von dem Mädchen mit dem Perlenohrring, von den Briefe lesenden und schreibenden Frauen, vom Kartographen, den es in die Ferne zieht, von der Dienstmagd, die ganz darauf konzentriert ist, Milch aus einem Krug in eine Schale zu schütten.
Diese Konzentration, die alle Porträtierten zeigen, überträgt sich auf die Zuschauer, läßt sie ruhig werden, innehalten, Vermeers legendäres Spiel mit Licht und Schatten bewundern, das niemand so gut beherrschte wie er. Eine Ausstellung zum Niederknien.
Johannes Vermeer, Der Kartograph, Städel Museum, Frankfurt
Christian Weise, Übersetzer
„Zigeuner? Fahrender Jude?“, fragt mich mein Freund Yuriy, der meine wiederholten Reisen in die Ukraine mitbekommt. „Warme arktische Nächte“ – so der Titel seines von mir übersetzten Buches, in dem er seine sich mehr und mehr verlierende Kindheit bis 1945 fiktionalisierend beschreibt. Mein Gefühl bei meinen Reisen in die Ukraine ist das des Findens, des Verbundenseins mit den Freunden, ihrem Trotz. Trotz Krieg veranstalteten sie zwei Buchmessen und weitere literarische Veranstaltungen. Bis Jahresende sind eine große Zahl wichtiger neuer interessanter Bücher erschienen. Es erfüllt mein Herz mit Freude. Ja, es ist auch schön, wenn alle, von den Damen in der Wechselstube bis hin zu den vielen Buchhändlerinnen strahlen und freundliche Worte sprechen. Ja, es ist auch ein Reisen und Übersetzen als Trotz gegen den Tod bei mir. Besonders erfreut haben mich zuletzt erneut „Zigeuner“ im Nachtzug von Przemysl nach Lwiw. „Halb Wynohradiw“, scherzte ich mit den jungen Ukrainerinnen neben mir. Und auf dem Rückweg im besseren Wartesaal in Lwiw erneut „Zigeuner“, diesmal eine Mutter mit zwei feurig wirkenden – vielleicht in Wirklichkeit bloß maulenden – schwarzäugigen Töchtern. Mehrfach rief die Mutter laut ins Telefon: „Moldawanka, Moldawanka“.
Schrägaufzug in Kiev mit kleinem Rückspiegel, aus der Sicht der Funikuler, Foto: Christian Weise