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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„S 62° 58’, W 60° 39’“ – Peeping Tom bei tanz.köln am Schauspiel Köln

Sei ein Eisberg. Endzeittheater in eisiger Kälte

Von Simone Hamm

Ein Boot liegt unbeweglich im ewigen Eis, zwischen Felsen und Eisschollen. Es hat ein hölzernes Führerhaus, ein schmutzig weißes Segel, rote Rettungswesten. Ein großartiges Bühnenbild (Justine Bougerol). Ein Kind geht über Bord, wird herausgezogen. Wind pfeift, das Boot schwankt. Es liegt nah der Insel der Täuschung, die es wirklich gibt, im weiten Meer. „S 62° 58’, W 60° 39’“, heißt die neueste Produktion der Belgischen Tanzkompanie „Peeping Tom“ und ihres Choreographen Franck Chartrier. Nichts als die Koordinaten des auf Eis gelaufenen Schiffs.

S 62° 58‘, W 60° 39‘ von Peeping Tom, Künstlerische Leitung & Choreografie: Franck Chartier, Bühne: Justine Bougerol • Peeping Tom, Foto: Olympe Tits

Die Eingeschlossenen beklagen sich beim Kompaniechef Franck, sie fühlen sich gefangen, bevormundet. Eingeschlossen im Eis wie die Schiffbrüchigen. Sie haben die vielen Tourneen satt, die Nächte in den billigen Hotels, fern von ihren Kindern, denen sie nicht Gute Nacht sagen können und an deren Geburtstagen sie niemals teilnehmen.

Franck diskutiert mit ihnen. Aber er gibt ihnen weiterhin vor, was sie zu tun haben. Sei der Eisberg, heißt es und schnell versteckt sich ein Schauspieler/Tänzer unter einem dreieckigen Stück Pappe.

Die düstere Endzeitstimmung ist nur mit solcher Art Humor zu ertragen. Da gibt es eine Schwangere, die nicht schwanger ist, aber seit Jahren die Schwangere spielen muss – mit dickem künstlichen Bauch. Sie schnallt ihn ab, wirft ihn weg. Einen Streber, der immer einspringen will, wenn die anderen streiken wollen. Die Schauspieler versuchen sich zu wehren und machen doch weiter. War der Widerstand nichts als Illusion?

In der intensivsten, schönsten Szene des Abends wirft der Tänzer Chey Jurado seine Angel zur Musik von Vivaldi aus, zappelt, biegt sich, tanzt um sich selbst herum. Immer wilder, immer ekstatischer werden seine Bewegungen. Von solchen großartigen Tanzeinlagen hätte ich mir mehr gewünscht. Mehr Tanz, weniger Diskussionen.

S 62° 58‘, W 60° 39‘ Peeping Tom,, Dramaturgische Assistenz: Gabriela Carrizo, Foto: Olympe Tits

Dann zieht Chey Jurado einen Fisch heraus, auf den sich eine Tänzerin stürzt. Sie schreit, sie will ihn wieder beleben, bis jemand sagt, der sei doch eh’ aus Plastik. Biologisch nicht abbaubar. Die wütende Verzweiflung – gebrochen durch die Wirklichkeit. Dazu Blues auf der Ukulele, Metalrock, mehr geschrien als gesungen, Jazztrompete.

Am Ende läuft Romeo Runa nackt über die Bühne, präsentiert stolz seinen schönen Körper, ist eitel, selbstgefällig, zotig, narzisstisch, quälend, kaum zu ertragen, läuft zu den Zuschauern, denen der Atem stockt, geht nah auf eine junge Frau zu, erschreckt sie, wendet sich ab: „Du glaubst doch nicht, dass ich so eine Marina Abramovic Nummer veranstalte.“

Mit der Illusion, die das Theater schafft, der Täuschung, dem Aufprall in der Wirklichkeit  spielen Franck Charter und seine Kompanie den ganzen Abend lang. Gekonnt, sehr intensiv, musikalisch und schauspielerisch herausragend. Tänzerisch ohnehin. Von Letzteren hätte nicht nur ich, hätten viele Besucher gern mehr gesehen.

Das Tanzgastspiel fand im Depot 1 statt.

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