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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Schirn präsentiert „Lyonel Feininger. Retrospektive“ (2)

Spektakuläre Neubetrachtung des Werkes – sein Markenzeichen: der Prismen-Stil

von Hans-Bernd Heier

Der deutsch-amerikanische Künstler Lyonel Feininger ist ein Klassiker der modernen Kunst. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem bedeutenden Maler, Zeichner und Grafiker die erste große Retrospektive in Deutschland seit über 25 Jahren und präsentiert ein umfassendes und überraschendes Gesamtbild seines Schaffens. Mit rund 160 Gemälden, Zeichnungen, Karikaturen, Aquarellen, Holzschnitten, Fotografien und Objekten beleuchtet die großartige Schau wichtige Themen und Entwicklungslinien, die Feiningers Werk geprägt und unverwechselbar gemacht haben.

Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz

Lyonel Feininger – 1871 in New York geboren und dort 1956 gestorben – gehört zu den bekanntesten Vertretern der klassischen Moderne in Deutschland. „Dennoch ist die Vielseitigkeit seiner Kunst einem großen Publikum erstaunlich unbekannt“, betont Schirn-Direktor Dr. Sebastian Baden. „Die große Retrospektive in der Schirn bietet nun eine spektakuläre Neubetrachtung seines gesamten Werkes aus 60 Jahren künstlerischem Schaffen mit bedeutenden und selten gezeigten Leihgaben aus Sammlungen in Europa und den USA. In der einmaligen Zusammenschau wird die Vielseitigkeit seines Gesamtwerks deutlich, das einige Entdeckungen bereithält.“

Für die Schau konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus zahlreichen deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen. Zu den Leihgebern zählen u. a. das Bauhaus-Archiv Berlin, die Harvard Art Museums/Busch-Reisinger Museum, Cambridge, MA, das Museum Lyonel Feininger, Quedlinburg, das Kunstmuseum Basel, The Metropolitan Museum of Art, New York, das Museo de Arte Thyssen-Bornemisza, Madrid, The Museum of Fine Arts, Houston, das Museum Folkwang, Essen, The Museum of Modern Art, New York, die National Gallery of Art, Washington, D.C., das Solomon R. Guggenheim Museum, New York, das Sprengel Museum Hannover, die Staatlichen Museen zu Berlin, die Staatsgalerie Stuttgart und das Whitney Museum of American Art, New York.

„Lyonel Feiningers herausragendes Gesamtwerk repräsentiert geradezu exemplarisch zahlreiche Strömungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts; trotzdem ist es äußerst individuell. Seine künstlerische Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sie weist zahlreiche Sprünge und Rückgriffe auf, gleichzeitig werden Feiningers große Themen über alle Medien hinweg und bis ins Spätwerk sichtbar“, erläutert Dr. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung. „Sein Werk ist voller Überraschungen, tiefgründiger Melancholie und spielerischer Leichtigkeit.“

Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz

Der 16-jährige Feininger reiste 1887 von New York nach Deutschland, um in Leipzig Musik zu studieren. Schließlich entschied er sich aber für ein Studium der bildenden Künste in Berlin. Erste Erfolge hatte er als Karikaturist und Illustrator von Zeichnungen, die seinen besonderen Sinn für Humor erkennen ließen. Der junge Feininger arbeitete sehr erfolgreich für zahlreiche, sehr unterschiedliche Blätter wie „Das Schnauferl“, „Ulk“, „Das Narrenschiff“, „Lustige Blätter“ und andere. Insgesamt publizierte er rund 2.000 Karikaturen. Er zeichnete sowohl Humorvolles wie auch Politisches.

Allmählich bildete er einen eigenen, wie er selbst fand, „modernen und zugleich originellen“ Stil heraus. Typisch für ihn wurden überlange Figuren mit weit ausgreifenden Schritten. In den figurativen Gemälden wie beispielsweise „Der weiße Mann“ von 1907 übernahm Feininger die flächigen Kompositionen seiner Karikaturen, experimentierte mit Verfremdungen und erschloss damit eine neue Perspektive des Bildraums.

Berühmt wurde Feininger jedoch erst mit seinen faszinierenden kristallinen Architekturserien, die er während des Ersten Weltkriegs bis in die 1920er-Jahre entwickelte und die seine bekannteste Werkgruppe bilden. „Durch die prismatische Überlagerung der Flächen, die an die Wanderung des Tageslichts erinnert, erhielten die Bilder ein Zeitelement, während die Transparenz geistige Klarheit und Spiritualität verkörpert“, analysiert Ingrid Pfeiffer. Von großem Einfluss für diese Entwicklung war Feiningers Auseinandersetzung mit dem Kubismus, insbesondere mit den lichtdurchfluteten und dynamischen Werken Robert Delaunays, sowie mit den italienischen Futuristen, die sich besonders in einem seiner Hauptwerke „Die Radfahrer (Radrennen)“ niederschlug.

Laut der Kuratorin „legte Feininger in seinen prismatisch aufgebrochenen und monumentalen Architekturen besonderen Wert auf einen expressionistischen, innerlich geformten Ausdruck. Statt der Zergliederung und Mehransichtigkeit eines Gegenstandes strebte er nach Konzentration bis ins absolute Extrem. Feininger, der auch Musiker war und selbst komponierte, verglich seine Malerei mit der „Synthese der Fuge“, in der Harmonie und Dissonanz ebenso wie Formstrenge und Rhythmik ihren Platz finden“.

Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz

In der Schirn sind eine ganze Reihe dieser herrlichen Architektur-Kompositionen zu bewundern. So versammelt die Schau eine eindrucksvolle Serie von fünf Gemälden aus verschiedenen Phasen von Feiningers umfassender Werkserie Gelmeroda (1913–1955), an der er rund 40 Jahre lang immer wieder arbeitete, dazu eine Zeichnung, mehrere Holzschnitte und eine Lithografie. Ebenfalls intensiv setzte sich der Künstler mit der durch Altstadthäuser und mächtige Sakralbauten geprägten Stadt Halle auseinander. Zu sehen sind aus dieser Werkgruppe, die zwischen 1929 und 1931 entstand, die „Marienkirche mit dem Pfeil“ und „Der Dom in Halle“ sowie Kohlezeichnungen, Skizzen und Fotografien, die er bei seinen Streifzügen durch die Stadt angefertigt hatte. Feiningers künstlerische Herangehensweise an seine Motive basierte in beiden Serien auf zahlreichen skizzenhaften Vorzeichnungen, seinen „Natur-Notizen“, mit denen er sich seinem Motiv annäherte, bevor er es im Gemälde umsetzte.

Besucherinnen und Besucher werden zum Auftakt der thematisch ansprechend gegliederten Retrospektive von Lyonel Feiningers gezeichneten und gemalten Selbstporträts empfangen, darunter das ausdrucksstarke „Selbstbildnis“ von 1915, die. Dieses war bereits zwei Jahre später in seiner ersten Einzelausstellung in Herwarth Waldens legendärer Galerie „Der Sturm“ in Berlin zu sehen. In der beeindruckenden Selbstspiegelung zeigt der Künstler sich skeptisch und nachdenklich.

Bis heute gilt Feininger als einer der bedeutendsten Holzschnittmeister des 20. Jahrhunderts. In einem Zeitraum von nur drei Jahren entstanden zwischen 1918 und 1920 die meisten seiner rund 320 Holzschnitte, darunter die ikonische „Kathedrale (großer Stock)“, die auf dem Titelblatt von „Manifest und Programm des staatlichen Bauhauses in Weimar“ abgedruckt ist. Walter Gropius  hatte 1919 Feininger als einen der ersten Meister ans Bauhaus berufen. 1921 wurde dieser künstlerischer Direktor der Grafischen Werkstatt. Die Schirn zeigt aus Feiningers umfassendem grafischem Schaffen auch Zeichnungen, Radierungen und Lithografien.

Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023; Foto: Norbert Miguletz

Feininger setzte sich Ende der 1920er-Jahre verstärkt mit der Fotografie auseinander, obwohl er dem Medium zunächst kritisch gegenüberstand, weil er besorgt über die zunehmende Technisierung der Künste war. Jedoch angeregt durch seine Söhne Andreas, Laurence und T. Lux, die intensiv fotografierten, ließ der vielseitige Künstler sich für Fotografie begeistern. Gerne unternahm er nächtliche Streifzüge bei Schnee, Regen oder Nebel und entwickelte so eine ganz eigene fotografische Sprache. Beleuchtete Fenster und andere Lichtquellen treten in der Dunkelheit kontrastreich hervor. Bei Nacht konnte er fast unbemerkt Aufnahmen machen – ein Aspekt, den er sehr schätzte, denn das Fotografieren war für ihn nach wie vor eine private Angelegenheit.

„Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Feininger ein Konvolut von circa 20.000 Foto-Objekten hinterlassen hat, davon knapp 6.000 Diapositive“, schreibt Franziska Lampe in dem profunden Begleitkatalog. Die Schirn zeigt aus dem vor Kurzem wiederentdeckten Konvolut zentrale Motive wie (Schaufenster-)Figuren, Lokomotiven und Architektur. Das Bauhaus in Dessau fotografierte der Bauhauslehrer nachts in geheimnisvollem Licht. Das Medium diente ihm als weiteres Experimentierfeld für Bildeffekte wie Hell-Dunkel-Kontraste, Schatten und Formspiele sowie Unschärfen, die an rhythmisierende Elemente in seinen Gemälden erinnern.

Feiningers Holzspielzeuge gehören, wie seine Karikaturen und Comics, untrennbar zu seinem Gesamtwerk. Ab 1913 arbeitete er an Lokomotiven aus buntem Hartholz, die als Spielzeuge in Serie produziert werden sollten – ein Plan, der allerdings aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht realisiert werden konnte. Ein wiederkehrendes Thema in Feiningers Werk sind auch die kubistisch geprägten farbigen Seegemälde. Schon als Kind in New York hatten ihn die Dampfer und Segelboote auf dem Hudson River fasziniert, und in Deutschland boten ihm die jährlichen Aufenthalte an der Ostsee Anregungen für weitere Motive. Geheimnisvolle Leere, Einsamkeit, subtile Erlebnisse mit Licht, Raumtiefe und Wolken sind wiederkehrende stimmungsvolle Themen dieser Werkgruppe, wie in der Schirn zu sehen ist.

Ein weiterer Schwerpunkt der umfassenden Retrospektive sind Feiningers Arbeiten im US-amerikanischen Exil. Auch in seinem Spätwerk setzen sich Kontinuität und gegenläufige Tendenzen fort. 1937 floh der deutsch-amerikanische Künstler mit seiner jüdischen Ehefrau Julia aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins US-amerikanische Exil. Seine Kunst wurde in der Schand-Schau „Entartete Kunst“ öffentlich diffamiert und über 400 Werke wurden aus öffentlichen Sammlungen konfisziert. In New York gelang Feininger nach zwei Jahren die Rückkehr zur Malerei. Er griff mithilfe seiner „Natur-Notizen“ auf frühere Motive in neuem Stil zurück.

Feiningers frühe Tendenz, fast, aber nicht ganz abstrakt zu arbeiten, steigerte sich in seinem Spätwerk, besonders in der Serie der New Yorker Hochhäuser. Dies gilt auch für die Fotografie, die sich mehr als zuvor am Abstrakten orientiert. Feininger beschäftigte sich verstärkt mit farbigen Diapositiven und griff bekannte Motive und Kompositionen aus seinem Werk wieder auf. Anknüpfend an sein Gemälde „Glasscherbenbild“ von 1927 experimentierte er mit sich überlagernden Glasscherben und Lichtphänomenen, die durch die Projektion des Diapositivs auf einer weiteren visuellen Ebene fortgesetzt wurden.

Wenige Jahre vor seinem Tod in New York entstanden die „Ghosties“, eine humorvolle Serie von aquarellierten Tuschzeichnungen. Sie bilden ähnlich wie seine Karikaturen und Holzspielzeuge in ihrer spielerischen Leichtigkeit einen spannungsreichen Kontrast zu seinen monumentalen Architekturgemälden.

Digitorial® zur Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023

Die Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“ ist bis zum 18. Februar 2024 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen; sie wird gefördert durch die Hessische Kulturstiftung und die Ernst Max von Grunelius-Stiftung mit zusätzlicher Unterstützung von der Fraport AG, der Fontana Stiftung und der Georg und Franziska Speyer’schen Hochschulstiftung; weitere Informationen unter: www.schirn.de

Das kostenlose Digitorial® zur Ausstellung bietet eine gute Einführung in die exzellente Schau.

 

→ Lyonel Feininger. Retrospektive in der Frankfurter Schirn (1)

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