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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Das Deutsche Romantik-Museum lockt mit zwei exzellenten Sonderausstellungen

„Schreiben mit der Hand“ und Ottilie von Goethes „Mut zum Chaos“

Von Hans-Bernd Heier

Die neue Kabinettausstellung im Handschriftenstudio des Deutschen Romantik-Museums: „Schreiben mit der Hand in der Zeit der Romantik“ erzählt die Geschichte der im deutschen Sprachraum ab dem 16. Jahrhundert verwendeten Schreibschriften. Zu sehen ist im Romantik-Museum bis zum 3. September außerdem noch die große Sonderausstellung „Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik“. Die sehenswerte Schau rückt Ottilies bislang wenig beachtetes intellektuelles Lebenswerk in den Mittelpunkt: ihre Dichtkunst und ihr politisches Engagement, ihr überaus originelles Zeitschriftenprojekt „Chaos“, ihre Tätigkeit als Übersetzerin und Unterstützerin einer neuen Generation von Kunstschaffenden in Weimar, Leipzig und Wien.

Johann Jakob Roschi „Vorschrift zum Nuzen der Bernerischen Jugend“, 1789; Foto: Freies Deutsches Hochstift

Das Freie Deutsche Hochstift sammelt seit über 150 Jahren Handschriften und präsentiert sie in Ausstellungen als Zeugnisse der Literatur- und Geistesgeschichte. Zugleich haben die Manuskripte auch die suggestive Funktion, die historischen Persönlichkeiten durch die Charakteristik ihrer Schrift zu vergegenwärtigen. Dabei sollte man sich jedoch vor Augen halten, dass es seit dem 16. Jahrhundert Schreiblehrbücher gab, die genau vorgaben, wie eine gute Handschrift auszusehen hatte. „Das Schreiben wurde gelehrt und auf diese Weise durch Schreibnormen geprägt. So ist Schrift immer auch Ausdruck einer allgemeinen kulturgeschichtlichen Entwicklung“, erläutert Professorin Anne Bohnenkamp-Renken, Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts.

Ausstellungsplakat; Foto: Hans-Bernd Heier

Die kleine, aber feine Präsentation im Handschriftenstudio im dritten Stock des Deutschen Romantik-Museums gibt Einblick in die Geschichte der im deutschen Sprachraum ab dem 16. Jahrhundert verwendeten Schreibschriften.

Zitat aus dem Beispieltext „Von der Fractur-Schrift überhaupt“; Foto: Freies Deutsches Hochstift

Präsentiert werden seltene Schreiblehrbücher und Schriftvorlagen, anhand derer sich die Entwicklung der Schreibdidaktik seit der frühen Neuzeit nachvollziehen lässt. Den Schwerpunkt bildet die Zeit um 1800. Gezeigt werden aus einer Frankfurter Privatsammlung Schreiblehrbücher und Schriftvorlagen, anhand derer sich die Entwicklung der Schreibdidaktik seit der frühen Neuzeit nachvollziehen lässt. Viele dieser Druckwerke sind heute sehr selten, selbst wenn sie zu ihrer Zeit in hohen Auflagen gedruckt wurden. Als Bücher für den täglichen Gebrauch wurden sie meist weggeworfen.

Johann Jakob Roschi „Vorschrift zum Nuzen der Bernerischen Jugend“, 1789; Foto: Freies Deutsches Hochstift

Am Anfang stehen „Schreibmeister“, die in den Handelsstädten angehende Kaufleute und Kanzleibeamte im Schreiben unterwiesen. Für sie standen handwerkliche Perfektion und künstlerischer Anspruch im Vordergrund. Durch die breitere Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht Ende des 18. Jahrhunderts geriet der Schreibunterricht zunehmend unter Erfolgsdruck. Damals begann die bis heute anhaltende Diskussion um eine gut lesbare und rasch zu erlernende Normalschrift.

In Reaktion auf diese Entwicklung bemühten sich die Schreiblehrer verstärkt um die Leserlichkeit des Schriftbilds und Zügigkeit des Schreibvorgangs. Nach 1800 wurden die reich verzierten Schreibmeisterbücher daher zunehmend durch schlichter gestaltete, preiswertere Schreiblehrbücher verdrängt, die auf dekorative Elemente weitgehend verzichteten und dafür didaktische Elemente aufnahmen. Zunehmend wurde gefordert, die Zahl der gelehrten Schreibschriften (deutsche und lateinische Kurrentschrift, Frakturschrift, Kanzleischrift) zu vermindern.

Schreibfedern aus einem Bündel mit den »letzten Federn von Herder«,1803; Foto: Freies Deutsches Hochstift

Begleitend zur Studioausstellung stellt der Kurator Andreas Dietzel in einem Essay die Geschichte des Schreibenlernens von der kunsthandwerklichen Kalligraphie bis zu vereinfachten Schulschriften des 19. Jahrhundert vor. Skizziert wird die Entwicklung der deutschen Schreibschrift von den Schreibmeistern des 16. Jahrhunderts bis zu den Schriftpädagogen des frühen 19. Jahrhunderts.

Im Zentrum steht auch hier die Zeit um 1800. In einem Anhang werden einige Beispiele aus der ausgestellten Sammlung präsentiert. Das Begleitbuch ist im Göttinger Verlag der Kunst erschienen, 2023; 64 Seiten mit zahlreichen Abbildungen; Preis: 18 €

Die Schau „Schreiben mit der Hand in der Zeit der Romantik“ ist noch bis zum 10. September 2023 sowie vom 1. bis zum 30. Dezember 2023 im Handschriftenstudio zu sehen.

Ottilie von GoethesMut zum Chaos“

Die große Sonderausstellung ‚Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik‘ wird nur noch bis zum 3. September 2023 im Untergeschoss des Romantik-Museum im Ernst Max von Grunelius-Saal gezeigt. Goethes „geliebte Schwiegertochter“ (1796 – 1872) wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen: Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich.

Die vergrößerten Selbstporträts von Ottilie von Goethe; Foto: Hans-Bernd Heier

Höchst aufschlussreich ist, wie Ottilie sich selbst sah: 1817 legte sie das Album „Allerlei“ an und porträtierte sich dafür mehrfach. Sie fertigte gleich sieben Selbstbildnisse an, die jeweils für eine Facette ihres Charakters stehen sollten, wie demütig und unabhängig, oder mädchenhaft schüchtern, als Ritter männlich kühn, aber auch als Hausfrau sittsam und häuslich sowie als alte grau gekleidete Frau.

Unter die sieben kleinformatigen farbigen Federzeichnungen setzte sie je einen Buchstaben, die zusammengefügt ihren Namen Ottilie ergaben. Eine weitere Federzeichnung – ohne Buchstaben – vereint alle Facetten ihres widersprüchlichen Charakters. Gleich zu Ausstellungsbeginn empfangen die auf Plakatformat vergrößerten Bildnisse die Besucher*innen.

Ottilie von Goethe, Selbst-Porträt mit Kasperlmütze im Album „Allerlei“, nach Juni 1817; ©Klassik Stiftung Weimar Goethe Schiller-Archiv, 84/II,4a

1806 kam Ottilie Freiin von Pogwisch (1796 – 1872) als mittellose Nachfahrin zweier alter preußischer Adelsfamilien in die Residenzstadt Weimar, wo ihre in Trennung lebende Mutter Henriette eine Stelle als Hofdame antrat. Bald war Ottilie im Haus des Staatsministers und „Dichterfürsten“ Johann Wolfgang von Goethe ein willkommener Gast. 1817 heiratete sie gegen die Bedenken ihrer Familie Goethes einzigen Sohn August, der ihr seit Jahren vertraut war. Gemeinsam hatten sie drei Kinder: Walther, Wolfgang Maximilian und Alma. Nach dem Einzug in das Haus am Frauenplan, wo die junge Familie mit dem „Vater“ unter einem Dach wohnte, entfaltete Ottilie eine weltoffene Geselligkeit.

Die charakterlich sehr unterschiedlichen Ehepartner entfremdeten sich jedoch zusehends. So suchte Ottilie schon während der Ehe nach einem intellektuell und emotional gleichgesinnten Partner. Das sorgte in der Stadt für heftigen, teils gehässigen Gesprächsstoff. Besonders interessierte sie sich für die englischsprachige Kultur. Sie übersetzte, dichtete und gründete die mehrsprachige Zeitschrift „Chaos“. Für Goethe wurde sie mehr und mehr zu einer wichtigen Gesprächspartnerin.

Ottilie von Goethe, Selbst-Porträt-7 Charakterzüge–nach Juni 1817; ©Klassik Stiftung Weimar Goethe Schiller-Archiv, 84/II,4a

Ottilies handschriftlicher Nachlass, ihre Bibliothek, ihre Kunst- und archäologischen Sammlungen, ihre Publikationen und Übersetzungen erweisen sich als ein erstaunlich reichhaltiger Fundus, um Einblick in ihre weltoffene Persönlichkeit zu gewähren und zugleich ein Stück Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Im Zentrum steht die außergewöhnliche weimarische Zeitschrift „Chaos“, die die junge Frau unter tätiger Mitwirkung des von ihr verehrten Schwiegervaters herausgab. Der Titel „Chaos“ war Programm. Die einzige Voraussetzung zur Teilnahme bestand darin, mindestens eine Nacht in Weimar verbracht zu haben, ansonsten gab es keine Vorgaben. Die Idee ihres originellen Projekts verkündete Ottilie bei den Feierlichkeiten zu Goethes 80. Geburtstag.

Julie von Egloffstein (zugeschrieben): Ottilies Spielzeug, nach 1817; eingeklebt in Ottilie von Goethes Stammbuch; ©Goethe-Museum Düsseldorf, Anton- und Katharina-Kippenberg-Stiftung, 1162

„Redacteur“ der Zeitung war natürlich Ottilie, wie sie selbstbewusst verkündete. Die Zeitschrift zirkulierte in einem geschlossenen Kreis von Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern und bot unter dem Deckmantel der Anonymität ganz unterschiedlichen Personengruppen, namentlich Frauen, die Möglichkeit zur Teilhabe. „Die Beiträge dieses Gemeinschaftswerks kamen aus allen Teilen Europas, waren in verschiedenen Sprachen verfasst und boten Gelegenheit, auf die Arbeiten der anderen zu reagieren“, so Kuratorin Francesca Fabbri.

Nach Augusts Tod im Jahr 1830 und des Schwiegervaters zwei Jahre später führte Ottilie ein selbstbestimmtes Leben, weitgehend unabhängig von den damaligen Konventionen. Ihre liebes- und lebenshungrige Haltung ersparte ihr keine Kritik – sie selbst sprach vom „Doppelurteil, was von mir in der Welt herrscht“. Nach einer Beziehung mit einem englischen Captain gebar sie 1834 inkognito in Wien ein viertes Kind, das jedoch ein Jahr später in der Pflege starb.

1837 zog sie mit ihrem Sohn Walther nach Leipzig. Hier und in Wien, wo sie ab 1842 dauerhaft lebte, begeisterte sie sich für die literarisch-politischen Strömungen des Liberalismus. 1844 starb in Wien ihre 16-jährige Tochter Alma an Typhus – ein schwerer Schicksalsschlag für die ganze Familie. Gleichwohl entschied sie sich, in der Stadt zu bleiben. In ihrem angesehenen Salon verkehrte über zwei Jahrzehnte die literarische Szene Wiens. 1870 kehrte sie nach Weimar zurück und verbrachte im Haus am Frauenplan ihre letzten zwei Lebensjahre.

Dr. Francesca Fabbri hat in Kooperation mit der Klassik Stiftung Weimar die in sechs Stationen gegliederte Ausstellung kuratiert; unterstützt wurde die beeindruckende Schau von der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main, der Georg und Franziska Speyer’schen Hochschulstiftung und vom Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V. (AsKI)

 

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