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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

 „Der Bus nach Dachau“ in einer Theater-Adoption

Ein Erinnerungsstück für das 21. Jahrhundert

Eine Aufführung von „De Warme Winkel“ im Bochumer Schauspielhaus

von Simone Hamm

Ein nie verfilmtes Drehbuch aus den 1990er Jahren ist Startpunkt für diesen überraschenden Theaterabend über das Konzentrationslager Dachau. Die Bühne ist ein Filmset im Jahr 1993, in dem ein Regisseur und seine Schauspieler und Schauspielerinnen Szenen probieren: Der Film soll die Geschichte einer Busreise erzählen, die ehemalige niederländische KZ-Häftlinge unternehmen, um die Gedenkstätte Dachau zu besuchen. Sie alle waren als Widerstandskämpfer zwischen 1940 und 1945 dort inhaftiert…

Vincent Rietveld, Lieve Fikkers, Mercy Dorcas Otieno, Risto Kübar (v. li.), Foto: © Isabel Machado Rios 

Im April 1954 werden die Gefangenen im  Konzentrationslager Dachau von den Amerikanern befreit. Die Widerstandskämpfer kommen aus vielen Ländern, werden von Landsleuten abgeholt, gefeiert. Nur aus den Niederlanden kommt niemand. Und als sie Tage später endlich einreisen dürfen, kommen sie erstmal in Quarantäne, werden entlaust, von der Polizei befragt.

Ein niederländischer Regisseur will in den neunziger Jahren einen Film darüber drehen, will einen Bus chartern und mit den ehemaligen Häftlingen nach Dachau fahren. Dann aber kommen andere Filme heraus, die den Holocaust zum Thema haben. Mit einem anderen Blickwinkel. Schindlers Liste zum Beispiel, ein Film über einen guten Deutschen. Ward Weehoffs Vater wird seinen Film nie drehen.

30 Jahre später will sein Sohn Ward Weehoff, Regisseur und Schauspieler, zusammen mit Vincent Rietveld das Werk vollenden. Und zwar im Land der Täter. Co- Regisseur Vincent Rieteveld spielt im Stück den Vater, Ward Weemhof sich selbst, den Sohn. Die niederländische Theatergruppe „De warme Winkel (der heiße Laden)“ und Schauspieler und Schauspielerinnen vom Bochumer Schauspiel haben gemeinsam das Stück: „Der Bus nach Dachau“ erarbeitet“.

Regisseur und Schauspieler Ward Weemhoff Foto: © Isabel Machabo Rios

Das Stück wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Zusammen sind sie mit dem Bus nach Dachau gefahren. Und all die Fragen, die sie haben, bringen sie gleich in heftigen Diskussionen mit auf die Bochumer Bühne: Wie das Lager darstellen? Wie die hungernden Menschen? Wie die Nazis? Wie gehen wir heute mit der Schuld unserer Vorväter um? Welche Bilder benutzen wir? Darf ein Holländer mit holländischem Akzent eine  Nazi darstellen?

„Hände weg von unserem Holocaust“ rufen die Bochumer Schauspieler. Sie wissen, dass sie scheitern können mit ihrem ehrgeizigen Projekt. Sie bieten keine Lösung an, aber viele Gedanken, die zum Nachdenken anregen. Etwa, dass, wenn die kommende Generation über den Holocaust spricht, sie vielleicht eigentlich eher über Schindlers Liste spricht. Das ist es, was sie kennen.

Zeitebenen vermischen sich: die Zeit von 1940 bis 45, die Gefangenen Teddy und Beck, der Kapo Both, der Ungar, der noch eine halbe Kelle mehr Suppe will. Dann die neunziger Jahre, als das Filmprojekt eigentlich starten sollte und schließlich 2022.

Eine Kammerfrau filmt die Gefangenen in ihren Stockbetten, wie sie durch Fensterspalten lugen, als das Essen ausgeteilt wird. Wir hören Wimmern, Peitschenschlagen. Wir sehen Projektionen auf dem großen Holzwürfel, in dem sich die Gefangenen befinden. Wir sehen müde Gefangene, die durch Filtertechnik zu Comicfiguren mit riesigen Augen werden. Sie sind Abziehbilder in unserer Erinnerung, keine realen Menschen mehr.

Die Gefangener sind Wracks, auch lange, nachdem sie dem Lager entkommen sind, werden sie von Schuldgefühlen geplagt.

Die Nazis plagen keine Schuldgefühle. Sie tragen Ledermäntel und Langhaarperücken. Sie bringen ihre Frisuren in Form, bevor sie die Juden brutal aus ihren Wohnungen zerren.

Vater (Vincent Rietveld) und Sohn (Ward Weemhoff) singen Schuberts „Am Tage aller Seelen“ und filmen sich dabei. Dies ist eine unglaublich ergreifende Szene, sie vereint Schönheit und Hilflosigkeit.

„De warme Winkel“ und die Bochumer Schauspieler und Schauspielerinnen spielen an gegen das Vergessen, gegen das Schweigen. Auf sehr ungewohnt, neue Weise. Sie beeindrucken das Publikum, wühlen es auf. An diesem Abend wird niemand ohne Fragen nach Hause gehen. Die Diskussionen dauern noch in der Theaterkantine an.

Weitere Vorstellungen: 7.5.19.00 Uhr;  3.7. 19.00 Uhr

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